Weises Reh
Weises Reh öffnete blinzelnd die Augen. Die Sonne versteckte sich hinter dichten Wolken, die leicht rötlich gefärbt waren. Besorgt setzte sie sich auf und schaute in den Himmel. Leicht rötlich, dachte sie. Ist Blut geflossen? Wann? Schon gestern? Sie war noch nicht erfahren genug als Heilerkatze, um das sagen zu können. Sie wünschte sich, dass die seltsame SternenClan-Katze wieder auftauchte, die sie schon mehrere Male gesehen hatte. Und jedes Mal hatte sie denselben Satz gesagt: »Der WindClan muss zusammenhalten.«
Von draußen ertönten aufgeregte Stimmen. Die rotbraune Kätzin mit dem schwarzen Fleck auf der Brust erhob sich und trat auf die kleine Lichtung des WirbelClan-Lagers. Sie war hier geblieben, nachdem sie Lilienpfote zurückgebracht hatte, weil sie die hellgrau getigerte Schülerin weiter im Auge behalten wollte. Ihre Schulterwunde lief Gefahr, sich zu entzünden. Die Nacht hatten sie beide im Schülerbau verbracht, denn es gab noch keinen Heilerbau. Doch Lilienpfote war nicht da gewesen, als Weises Reh aufgewacht war. Keiner der Schüler war da gewesen.
Weises Reh ließ den Blick durch das Lager schweifen. Der Angriff des BlitzClans hatte Spuren hinterlassen. Doch die WirbelClan-Katzen ließen sich nicht unterkriegen und flochten die Halme wieder zu halbwegs festen Wänden zusammen. Die Heilerin entdeckte Lilienpfote in der Nähe der Kinderstube, wo sie Bär dabei half, die Lücken zusammenzuflechten. Jede Bewegung schien ihr Schmerzen zu bereiten. Schnell eilte Weises Reh zu ihr hin.
»Du solltest dich doch ausruhen«, sprach sie die hellgrau getigerte Kätzin an.
»Aber es gibt so viel zu erledigen«, widersprach Lilienpfote schwach, ließ sich dann jedoch trotzdem von der Heilerin wegführen.
Weises Reh tat so, als würde sie Bärs missbilligende Blicke nicht sehen und untersuchte die Wunde der Schülerin. Sie vertraute darauf, dass Weiser Falke wieder auftauchte, um ihr zu helfen. Er war es gewesen, der sie dazu gedrängt hatte, Schattenstern und Sprenkelpfote zum alten Stein zu bringen, um das Leben der jungen Schülerin zu retten. Doch diesmal erschien ihr Mentor nicht.
»Die Wunde hat sich zwar nicht entzündet, aber du musst dich trotzdem ausruhen«, bestimmte sie. »Geh in den Schülerbau und leg dich hin.«
»Werde ich Eichelpfote nicht stören?«, fragte Lilienpfote wenig begeistert. »Sie schläft bestimmt wieder.«
»Ich weiß nicht, wo Eichelpfote ist«, entgegnete Weises Reh ruhig. »Jedenfalls nicht im Schülerbau. Los, geh schon.«
Leicht widerwillig trottete Lilienpfote davon, während die Heilerin sich umsah und nach Eichelpfote Ausschau hielt. Es war wirklich seltsam, dass Fliegenpfotes Schwester nicht schlief. Insgeheim fragte Weises Reh sich, ob die Krankheit der Kätzin etwas Bestimmtes bedeutete. War es ein Zeichen vom SternenClan? Sicher mache ich mir zu viele Gedanken. Manchmal ist eine Krankheit nur eine Krankheit.
Erst jetzt fiel ihr Blick auf die Krieger, die sich um Wolfsmond herum versammelt hatten. Sie redeten wild durcheinander, schienen über etwas zu diskutieren. Weises Reh unterdrückte ein belustigtes Schnurren, das jedoch von leichter Sorge überschattet wurde. In drei Tagen würde sich herausstellen, wer der erste Anführer des neuen DonnerClans werden würde. Diese Nacht war sie durch das Territorium des SternenClans geirrt, auf der Suche nach Donner, um sich mit ihm zu beraten. Aber sie hatte den roten Kater mit den weißen Pfoten nicht gefunden. Sie war wieder auf sich alleine gestellt.
Wird Wolfsmond zustimmen, die Anführerin des DonnerClans zu sein?, fragte sie sich. Sie hat schon zuvor ihr Amt abgelegt und sich dem WindClan angeschlossen. Werden die Katzen sie akzeptieren? Unwahrscheinlich... Sie dachte an Vogel. Wie konnte eine Katze so grausam sein und den gesamten SturmClan auslöschen? Es war klar, dass sie versuchen würde, die Macht an sich zu reißen. Das darf nicht passieren.
Weises Reh überlegte, ob sie mit Wolfsmond reden sollte. Lieber nicht. Ich möchte sie zu nichts zwingen. Sie muss diese Entscheidung selber treffen. Aber ich sollte trotzdem ein Auge auf sie haben. Am besten ich bleibe hier, bis der Anführer des DonnerClans feststeht. Dann kann ich Schattenstern nachher alles berichten.
Die Krieger schienen zuende diskutiert zu haben, denn nun gingen sie auseinander. Weises Reh war überrascht, als Tatze auf sie zukam. Die Kätzin mit den drei Beinen war die erste Kriegerin gewesen, die sich das Fell nicht mehr mit Schlamm beschmiert hatte. Dafür hatte sie sich den größten Respekt bei allen WirbelClan-Katzen verdient. Bis vor kurzem war es noch gefährlich gewesen, mit sauberem Pelz herumzulaufen. Doch nun war Streifenmond mit ihren Jungen, zu denen der vermeidliche Große Stern gehörte, geflohen, sodass von ihr keine Gefahr mehr ausging.
»Wie geht es Lilienpfote?«, erkundigte Tatze sich.
Weises Reh wunderte sich darüber, dass die Frage ausgerechnet von ihr kam. »Die Wunde hat sich nicht entzündet«, antwortete sie und fügte in Gedanken hinzu: Vermutlich.
»Das freut mich.« Tatze neigte respektvoll den Kopf. Als sie das nachdenkliche Gesicht der Heilerin bemerkte, erklärte sie: »Lilienpfote ist Regenmonds Tochter. Regenmond und ich waren gut befreundet, nachdem sie mir das Leben gerettet hat.« Sie deutete auf den Stumpf ihres fehlenden Beines. »Deswegen sorge ich mich um ihre Tochter.«
»Wie ist das eigentlich passiert?«, fragte Weises Reh vorsichtig. »Das mit deinem Bein.«
»Viele der Verbündeten haben Wunden von den Ungeheuern davongetragen«, erzählte Tatze. »Nicht nur ich. Auch wenn es mich vielleicht am schlimmsten erwischt hat. Hase hat zum Beispiel seinen Schweif auf dieselbe Weise verloren. Die Narben der Zornigen kommen auch von ihnen. Und du erinnerst dich an Vogels gespaltene Nase?«
»Was sind die Ungeheuer?«
»Sie gehören den Zweibeinern. Ich glaube, sie sind sowas ähnliches wie die Monster aus dem Zweibeinerort, aber viel größer und gefährlicher.« Die dreibeinige Kätzin schien sich in Erinnerungen zu verlieren. »Sie kommen meistens im Blattfall. Aber nicht immer. Diesen Blattfall haben sie uns in Ruhe gelassen. Dem Großen Stern sei Dank. Die Ungeheuer haben vorne spitze Krallen, die sich drehen. Mit ihnen können sie die Grashalme durchschneiden. Danach sieht alles hier anders aus. Wir haben dann keine Deckung mehr und unsere Lager sind verwüstet.
Wenn wir nicht rechtzeitig sehen, dass sie kommen, geraten Katzen zwischen ihre Krallen. Von ihnen bleibt dann nicht mehr viel übrig. Die beiden Geschwister der Zornigen sind auf diese Weise gestorben. Sie hat versucht, sie zu retten, hat sich dabei jedoch nur tiefe Schnittwunden geholt. Regenmond hatte alle Pfoten damit zu tun, sie zu heilen. Danach hat sie sich verändert. Wurde grimmiger. Zorniger. So wie sie jetzt ist. Ob du es glaubst oder nicht, wir waren früher gut befreundet.«
Tatze seufzte schwer, bevor sie fortfuhr: »Hase war an der Grenze zum DonnerClan, als die Ungeheuer kamen. Er wurde von Habichtmond gewarnt, die mit ihren Kriegern zum Fluss fliehen wollte, während der Große Stern zurückgeblieben ist, um den Königinnen und Jungen zu helfen. Hase ist normalerweise sehr flink, aber nicht in diesem Moment. Das Ungeheuer trennte ihm den Schweif ab.
Ich war zu dem Zeitpunkt in seiner Nähe. Er war der Gefährte meiner Schwester. Ich musste etwas tun. Also stieß ich ihn in eine Kuhle, in die die Krallen des Ungeheuers nicht reichen konnten. Ich wollte gerade hinterher springen, als es mich doch erwischte. Wenn man uns nicht rechtzeitig gefunden hätte, wären wir wahrscheinlich verblutet.«
»Warum lebt ihr dann noch hier?«, wollte Weises Reh wissen. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken daran, dass sowas auch dem WindClan hätte passieren können. Zum Glück hatten sie ihr Lager nun jenseits des Flusses aufgeschlagen. Dort drohte ihnen keine Gefahr.
»Wo hätten wir sonst hingehen sollen?«, fragte Tatze. »Hier ist unser Zuhause.«
Bald vielleicht nicht mehr, dachte Weises Reh, behielt den Gedanken aber für sich. Sie sah zum Himmel. Die leicht rötlichen Wolken waren dunkler geworden, fast schwarz, und verdeckten die Sonne. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus.
»Was ist da denn?«, erkundigte Tatze sich und folgte ihrem Blick.
»Eine schwarze Sonne«, murmelte Weises Reh.
Die dreibeinige Kätzin wirkte verwirrt, schwieg aber. »Ich glaube, ich gehe und helfe den anderen dabei, die Baue zu flicken.«
»Tu das«, meinte die Heilerin und nahm gar nicht wahr, wie Tatze davoneilte. Das schlechte Gefühl wuchs und schnürte ihr die Brust zu. Was hat das zu bedeuten?
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Mir ist aufgefallen, dass ich euch die Karte zu Weises Reh noch gar nicht gezeigt habe XD Deswegen kommt sie jetzt :)
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