Verbannt
Mit einem schnellen Biss in das Genick tötete Sprenkelschweif die Maus und sah dann zu Gischtblüte hinüber, die die andere Maus bewachte, die sie heute gefangen hatten. Es würde nicht reichen und sie würden wohl nochmal auf die Jagd gehen müssen, aber es war besser als nichts. Dünenläufer konnte mit seinem verkrüppelten Bein nicht mehr wirklich gut jagen und Bruchsee hatte sich einen unangenehmen Husten zugezogen.
»Wirklich beeindruckend, wie gut du jagen kannst!«, miaute Gischtblüte, als Sprenkelschweif mit der erlegten Maus bei ihr ankam. »Denkst du, du könntest uns einige deiner Techniken beibringen?«
»Natürlich!« Sie nickte eifrig. Es war erst wenige Tage her, dass sie bei den drei Verbannten untergekommen war, doch sie fühlte sich jetzt schon wie Zuhause. Das einzige, was sie seltsam fand, war allein die Tatsache, dass sie überhaupt aus dem FlussClan verbannt worden waren. Bisher hatten sie sich jedoch nicht darüber geäußert.
»Der FlussClan jagt vor allem Fische aus dem Meer«, erklärte Gischtblüte, während sie den Heimweg antraten. »Für uns war es eine große Umstellung, das auf einmal nicht mehr zu dürfen.« Sie seufzte. »Und ich musste das Jagen ganz von vorne lernen.«
Sprenkelschweif sah sie verwundert an. Sie konnte nicht reden, weil sie die Mäuse trug, aber die weiße Kätzin bemerkte zum Glück ihren fragenden Blick.
»Ich war eine Priesterin des FlussClans«, erklärte sie. »Alle Priester leben auf einer steinernen Insel im Meer, dem Heiligen Felsen. Dort nehmen wir Kontakt mit dem SternenClan auf und sorgen dafür, dass sein Wille erfüllt wird.«
Also so etwas wie Heiler, begriff Sprenkelschweif.
»Unsere Aufgabe ist sehr wichtig, weswegen wir keine Zeit haben, um auf die Jagd zu gehen«, fuhr Gischtblüte fort. »Die Wächter bringen uns jeden Abend unsere Beute zum Ufer und einer der Priester holt sie ab. Damals war ich es, die das immer getan hat.«
Endlich waren sie bei ihrem Versteck angekommen, sodass Sprenkelschweif die Mäuse ablegen konnte. Sofort erschien Dünenläufers Kopf im Eingang der Höhle und der gelbbraune Kater sprang heraus.
»Wunderschöne, leckere Beute!«, schwärmte er.
»Gib erstmal Bruchsee etwas«, bestimmte Gischtblüte. »Er soll schnell wieder gesund werden.«
»Mach ich!« Dünenläufer schnappte sich eine der Mäuse und verschwand in der Höhle, aus der wieder der keuchende Husten des anderen Katers ertönte.
»Bei unseren Clans gibt es auch solche Katzen wie die Priester«, miaute Sprenkelschweif. »Wir nennen sie aber Heiler.«
»Heiler?« Gischtblüte schien überrascht. »Bei uns gibt es nur eine Katze, die andere heilen darf, und das ist die Hohepriesterin.«
»Nur die Hohepriesterin? Das heißt... Du kannst Bruchsee keine Kräuter geben?«
Gischtblüte schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich verstehe genauso wenig von Kräutern wie du. Nur die Hohepriesterin hat dieses Wissen. Und sie gibt es nur an die Priesterin weiter, die ihre Nachfolge antreten soll.«
Sprenkelschweif nickte und zuckte mit den Ohren, als erneut das heisere Husten ertönte. »Was werdet ihr tun, wenn es nicht besser wird? Du hast gesagt, dass ihr verbannt wurdet. Heißt das, ihr dürft nicht mehr zum FlussClan, um um Hilfe zu bitten?«
Die weiße Kätzin nickte bestätigend. »Wenn wir das tun, wird man uns ignorieren. In der letzten Blattleere war Bruchsee noch nicht bei uns. Stattdessen gab es eine Kätzin namens Bachschatten. Sie ist nach einer Jagd von einer Möwe angegriffen worden, die ihren Rücken so stark verletzt hat, dass Narben zurückgeblieben sind. Also hat der FlussClan sie verbannt. Sie kam zu uns, doch nach dem ersten Schneefall hat sie Grünen Husten bekommen. Sie hat sich schwerkrank zum FlussClan geschleppt und nach der Hohepriesterin gefragt, doch sie wurde ignoriert. Wenige Tage später ist sie gestorben.«
»Aber das ist schrecklich!«, entfuhr es Sprenkelschweif. »Warum tut der FlussClan so etwas? Wenn man in der Wildnis lebt, wird man nunmal irgendwann verletzt und bekommt Narben! Das ist unvermeidbar! Bachschatten hat ja nichtmal gegen jemanden gekämpft!«
»Der SternenClan erwartet von uns, dass wir auf unseren Körper acht geben«, beharrte Gischtblüte und schien weit hinaus in die Ferne zu starren. »Es ist gegen seinen Willen, ihm Schaden zuzufügen. Also sollten wir jeder Gefahr aus dem Weg gehen. Oder bist du glücklicher geworden, nachdem du deine Narbe erhalten hast?« Sie deutete auf die Narbe, die unter Sprenkelschweifs Kinn versteckt war.
»Nein«, gab sie zu. »Aber sie erinnert mich daran, dass ich vielen Katzen das Leben gerettet habe, indem ich einen Mörder aufgehalten habe.«
»Einen Mörder?« Gischtblüte sackte auf einmal ein Stück in sich zusammen. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Dass es Katzen gibt, die andere Katzen einfach töten würden... Sie wissen nicht, dass das Leben ein Geschenk des SternenClans ist. Es steht ihnen nicht zu, es einfach zu nehmen. Nur der SternenClan hat die Macht zu entscheiden, wer lebt und wer stirbt.«
Die weiße Kätzin hob ihre rechte Vorderpfote und hielt sie Sprenkelschweif hin. »Als Beweis dieser Treue zum SternenClan hat man mir meine Krallen ausgerissen, sobald die Hohepriesterin mich auf den Heiligen Felsen mitgenommen hat.«
Sprenkelschweif wich ein Stück zurück und sträubte das Fell. »Du hast keine Krallen mehr?«, fragte sie entsetzt.
»Ich habe sie als Priesterin nicht gebraucht.« Gischtblüte ließ ihre Pfote wieder sinken. »Deswegen fällt mir das Jagen jetzt auch so schwer. Ich kann die Beute nicht wirklich festhalten, sondern muss versuchen, sie sofort mit den Zähnen zu packen und dann zu töten.«
Sprenkelschweif versuchte, sich wieder zu entspannen, was ihr auch annähernd gelang. »Darf ich fragen«, hob sie vorsichtig an, »warum genau der FlussClan dich verbannt hat? Ich nehme an, es hat etwas mit deiner Narbe am Bauch zu tun?«
Bei der Erwähnung der Narbe richtete Gischtblüte sich hoch auf und stellte ihre Beine so, dass man die dünne, rötliche Linie nicht mehr sehen konnte. Kurz sah es so aus, als würde sie die Frage nicht beantworten, aber dann erhob sie doch noch ihre Stimme:
»Ich habe bereits erzählt, dass ich die Priesterin war, die die Beute vom Ufer geholt hat. Die Wächter haben sich immer gut um uns gekümmert. Es war jedes Mal so viel Beute, dass ich mehrmals laufen musste. Eines Tages gab es jedoch einen starken Sturm. Ich war auf dem Weg, um die letzten zwei Fische zu holen, als ich auf dem Steinpfad, der zum Heiligen Felsen führt, ausrutschte und hinfiel. Dabei schnitt ich mir den Bauch an einer scharfen Kante auf. Wahrscheinlich wäre ich gestorben, wenn nicht einer der anderen Priester mich gesehen und gerettet hätte.«
Gischtblüte hielt in ihrer Erzählung kurz inne. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihren blauen Augen, doch sie fuhr fort: »Ich wurde zur Hohepriesterin gebracht, die mich heilte. Doch allmählich wurde klar, dass ich eine Narbe behalten würde. Der erste Tag, an dem ich wieder aufrecht stehen konnte, war der Tag, an dem man mich verbannte.«
»Das tut mir leid«, flüsterte Sprenkelschweif leise. Sie hätte nicht gedacht, dass die Hohepriesterin sogar zu ihren eigenen Katzen so grausam sein konnte.
»Was passiert ist, ist passiert«, winkte Gischtblüte ab, obwohl ihr anzusehen war, dass es ihr eigentlich überhaupt nicht egal war. »Solange mein Glaube an den SternenClan fortbesteht, habe ich trotzdem noch die Hoffnung, nach meinem Tod zu unseren Ahnen zu kommen. Ich muss nur seinem Willen folgen.« Ihre blauen Augen richteten sich auf Sprenkelschweif. »Und du? Warum hast du deinen Clan verlassen? Oder wurdest du auch verbannt?«
Sprenkelschweif schüttelte den Kopf und wich dem Blick der weißen Kätzin aus. Es ist nur gerecht, wenn ich ihr auch etwas von mir erzähle. Trotzdem flammte zusammen mit dem Schmerz wieder die Enttäuschung in ihr auf.
»Es geht um einen Kater, oder?«, fragte Gischtblüte auf einmal.
Sie nickte zögerlich. Und schließlich erzählte sie der Verbannten einen Teil ihrer Lebensgeschichte. Angefangen bei ihrer Freundschaft mit Fliegenschatten, die dann in Liebe übergegangen war. Gefolgt von ihren heimlichen Treffen, dem Aufbruch und den Himmelbergen. Nebeljägers Tod. Wie alle ihn viel zu schnell vergessen hatten. Und wie Fliegenschatten sie dann einfach verlassen hatte, weil er Angst vor der Strafe des SternenClans hatte.
Gischtblüte hörte sich alles schweigend und aufmerksam an. Nachdem Sprenkelschweif geendet hatte, war sie noch eine Weile still und schien nachzudenken.
»Möchtest du meine Meinung als Priesterin hören?«, fragte sie schließlich.
Möchte ich das? Sprenkelschweif zögerte. Sie hatte Angst davor, was Gischtblüte ihr sagen würde. Hatte sie vielleicht einen Fehler begangen? Andererseits könnte sie es nicht ertragen, jetzt zurückzukehren. Es ging ihr hier gut. Was schadete es also, sich die Meinung einer Priesterin anzuhören? Schlimmer als Schattensterns Lektionen über Loyalität konnte es ja nicht werden. Langsam nickte sie.
»Ihr lebt nach etwas anderen Regeln als wir«, miaute Gischtblüte daraufhin. »Bei euch darf man keinen Gefährten in einem anderen Clan haben. Der FlussClan hat dieses Problem nicht, aber bei uns ist es verboten, einen Priester als Gefährten zu haben. Wenn das rauskommt, wird man sofort verbannt, weil man gegen den Willen des SternenClans verstoßen hat. Insofern glaube ich auch, dass Nebeljägers Tod eine Strafe gewesen sein könnte.«
Sprenkelschweif wollte die weiße Kätzin schon wütend anfauchen, als diese ihr einen strengen Blick zuwarf und ruhig fortfuhr:
»Andererseits würde der SternenClan nie absichtlich eine Katze töten, die ansonsten durch und durch treu war. Und ich bin mir sicher, dass dein Bruder das gewesen ist. Es könnte also genauso gut nur ein Unfall gewesen sein. Wir werden es wohl nie genau wissen. Was deine Situation angeht...« Sie musterte Sprenkelschweif von oben bis unten. »Es war eine gute Entscheidung von dir, deinen Clan fürs Erste zu verlassen. In einundhalb Monden wirst du zurückkehren können und niemand wird einen Beweis für dein Vergehen haben. Das heißt, wenn du bereit bist, sie zurückzulassen.«
»Warum in einundhalb Monden?« Sprenkelschweif sah sie verwirrt an. »Wen zurücklassen?«
Gischtblüte sah sie mitleidig an. »Deine Jungen. Du trägst Fliegenschattens Jungen in dir.«
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O.o
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