Aqua
Den ganzen ersten Tag in den Bergen fragte Aqua sich, ob dies hier früher wirklich die Heimat ihrer Vorfahren gewesen war. Wie hatten sie diese furchtbare Kälte ausgehalten? Und diesen eisigen Wind? Aber immerhin war sie durch die Zeit in den Kanälen der Stadt etwas abgehärtet. Dort war es auch oft kalt gewesen und sie hatte besonders in der Blattleere manchmal kaum einschlafen können.
Besorgt sah sie sich nach Terra um, doch ihre beste Freundin ging gerade neben Vogelschweif und half ihr dabei, Glanzjunges zu tragen. Die schneeweiße Kätzin hatte es eigentlich bestimmt nicht nötig, getragen zu werden – sie war schon fast sechs Monde alt –, aber der anstrengende Weg machte ihr natürlich zu schaffen. Nur die Jungen von Luchsohr und Tannennadel bestanden darauf, alleine zu gehen. Seit dem Tod ihrer Eltern waren sie um einiges erwachsener geworden. Aqua vermutete, dass Schattenstern dennoch warten wollte, bis auch Sturmjunges, Glanzjunges und Kleinjunges alt genug waren, um dann alle fünf gleichzeitig zu Schülern zu ernennen.
Wie Terra wohl ihre Jungen nennen wird?, fragte Aqua sich. Und wie viele es sein werden? Es wäre eine Ehre für sie, wenn sie einen Sohn oder eine Tochter ihrer besten Freundin zum Krieger ausbilden könnte. Aber sie wusste nicht, ob Schattenstern sie überhaupt jemals zu einer Mentorin machen würde. Immerhin war sie bekannt dafür, nicht kämpfen zu wollen, und selbst der Kampf gegen die Wölfe wird daran nichts geändert haben.
Aqua richtete ihren Blick wieder nach vorne, um sich auf den Weg vor ihr zu konzentrieren. Der Pfad, den Ojiha sich ausgesucht hatte, war steiler als erwartet, aber dafür breit genug, dass drei Katzen nebeneinander gehen konnten. Rechts von ihnen ragte eine steile Felswand auf und links war niedrigeres Gelände. Aber selbst, wenn dort jemand runterfiel, würde derjenige nicht in seinen Tod stürzen. Kurz nach Sonnenuntergang war Sommerflut ausgerutscht und ein Stück runtergerollt, hatte sich aber nicht verletzt. Er berichtete sogar, dass die Landung wegen des Schnees erstaunlich weich gewesen war.
Wegen des Geländes und der Katzen, die Hilfe beim Vorankommen brauchten, waren die Clans relativ langsam unterwegs. Deshalb war es üblich geworden, dass ein paar Krieger voraus gingen, um zu jagen, bevor sie wieder mit den anderen zusammentrafen. Sie überlegte, ob sie das auch mal machen sollte. Auf den ersten Blick sah sie nämlich niemanden aus dem WindClan, der fehlte.
»Ich gehe jagen«, sagte sie Kräuselsturm Bescheid, der ein Stück vor ihr ging. Der graue Kater nickte, woraufhin sie vom Pfad in die Schneesenke links sprang und mit einiger Mühe weiter nach vorne lief. Als sie Schattenstern und die anderen Anführer überholt hatte, spaltete sie sich noch weiter ab, bis sie sich zwischen einigen hohen Felsen befand. Der Boden war zwar mit Schnee bedeckt, aber an den Erdklumpen, die darauf lagen, konnte sie erahnen, dass es hier Schneehasen geben musste.
Langsam trat sie an einen der Felsen heran und versuchte, ein Loch in der Schneedecke auszumachen. Da entdeckte sie eines. Die schwarze Nase eines Hasen schaute heraus und zuckte leicht, während es die Luft prüfte. Aqua ließ sich ins Jagdkauern fallen.
»Sei gegrüßt!«
Vor Schreck sprang Aqua auf und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch da war niemand. Verwirrt starrte sie auf die kahle Felswand vor sich.
»Wir sind hier!«
Die Stimme kam von etwas weiter links, aber auch dort war keiner. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte sie zwei dunkle Flecken, die sie zuerst für Schmutz gehalten hatte. Und aus deren Mitte leuchteten zwei grüne Punkte. Nein, es waren zwei Paar Katzenaugen, die sie anfunkelten. Nur schwebten sie mitten in der Luft. Kein Körper gehörte zu ihnen. Im ersten Moment war sie so verwirrt, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte.
»Warum schaust du uns so an? So hässlich sind wir doch gar nicht, oder, Flosse?«, ertönte die Stimme wieder.
»Nein, nein, auf keinen Fall! Ich weiß auch nicht, was sie hat, Wolke!« Das war eine andere Stimme, die sich aber so ähnlich wie die erste anhörte. Daraufhin erklang ein Meckern, dass wohl ein Lachen sein sollte.
»Wer... seid ihr?«, fragte Aqua stockend und wusste nicht, ob sie sich das alles vielleicht nur einbildete. Aber jetzt bewegten sich die Augen auf sie zu und begannen, sie zu umkreisen.
»Man könnte meinen, du hast uns nicht zugehört!«, beschwerte die eine Stimme sich.
»Dabei haben wir uns doch schon absichtlich mit Namen angesprochen!«, fügte die zweite hinzu.
»Wir sind Flosse und Wolke, Wolke und Flosse. Oder so nennen wir uns jedenfalls. Warum bist du immer noch so verwirrt?«
»Ihr...« Aqua wusste nicht, in welche Richtung sie zurückweichen sollte, weil die beiden Katzen gefühlt überall um sie herum waren. Also blieb sie einfach stehen und glättete ihr Fell. »Ihr seid nur Augen!«
Der Kater, der offenbar Flosse hieß, seufzte. »Ja, eine unangenehme Nebenwirkung.«
»Aber willst du es nicht wissen?«, fragte Wolke.
»Was wissen?« Aqua versuchte, sie im Auge zu behalten, aber es war unmöglich. Ab und zu meinte sie aber, verschwommene Umrisse von zwei schwarzen Katern zu erkennen. Sie waren fast vollständig durchsichtig.
»Was für eine Macht du nun hast!«, rief Flosse.
»Was für eine mächtige Macht! Mächtiger, als du es dir vorstellen kannst! Mächtiger als alles, was du kennst!« Wolke lachte, verschluckte sich offenbar und hustete.
»Welche Mächte?« Aquas Fell stellte sich auf, obwohl sie versuchte, ruhig zu bleiben. »Meint ihr die zwölf Mächte, von denen Ojiha immer wieder redet?«
»Von welchen sonst?«, fragte Flosse genervt.
»Du hast eine der Mächte, ob du's glaubst oder nicht!«, rief Wolke. »Macht dich der Gedanke jetzt verrückt? Bestimmt macht er dich das!« Er veränderte seine Stimme, sodass sie etwas höher klang. »Oh nein, ich kann das nicht glauben! Warum sollte ich auf einmal eine Macht haben? Ich hatte sie doch nie! Und welche Macht ist es? Was soll ich mit ihr machen? Warum habe ich sie überhaupt bekommen?«
»Ich glaube, ihre Stimme ist nicht so hoch, Wolke«, meinte Flosse.
»Hast recht, hast recht. Sie hört sich fast an wie ein Kater. Bestimmt ist sie auch verrückt.«
»Bestimmt ist sie das!« Flosse lachte wieder. »Wir wollten dir nur Bescheid sagen. Und jetzt tschüss!«
»Wartet!« Aqua war erstaunt, dass die zwei Augenpaare tatsächlich da blieben. Sie wollten offenbar keine der Fragen beantworten, die ihr auf der Zunge lagen, darum stellte sie eine andere: »Gehört ihr zum SternenClan?«
Eine Weile war es still, dann fingen beide Kater an prustend zu lachen.
»Der war gut!«, grölte Flosse. »Ob wir zum SternenClan gehören!«
»Hör auf!«, keuchte Wolke. »Hör auf! Ich kriege keine Luft mehr!«
»Sehen wir aus, als würden wir vom SternenClan kommen?« Flosses grüne Augen kamen ihr so nah, dass sie ihr Spiegelbild in seiner Pupille sehen konnte.
»Der SternenClan ist doch korrupt!«, meinte Wolke. »Ihm und Ihr ist nicht zu trauen! Sie produzieren Prophezeiungen in Massen, die aber keiner versteht!«
»Und dann heißt es immer: ›Wir verstehen die Prophezeiung zwar selbst nicht, aber lass sie mal den Clans geben. Vielleicht können sie etwas damit anfangen!‹«, fügte Flosse hinzu.
»Oder: ›Wir wissen zwar, was die Prophezeiung bedeutet, aber wir dürfen den Clans nicht zu viele Tipps geben, weil...‹ Ja, warum eigentlich, hm?« Wolke holte tief Luft. »Das Leiden der Clans ist doch der einzige Zeitvertreib, den die dort oben haben! Was sollen sie sonst machen? Jagen gehen, obwohl sie nichts mehr fressen müssen? Alle dort oben warten sehnsüchtig auf ihr Vergessen oder darauf, dass sie von den Clan-Gründern für eine Wiedergeburt ausgewählt werden! Ein ewiges Leben in Langeweile ist schlimmer als ein kurzes Leben in Kurzweile!«
»Das hast du gut gesagt, Wolke!«
»Danke, Flosse!«
»Ihr haltet nichts vom SternenClan?« Aqua war geschockt. »Kommt ihr aus dem Wald der Finsternis?«
Flosse schnaubte verächtlich. »Wir gehören nicht zu diesen Verrätern und Mördern! Für wen hältst du uns?«
»Aber zu wem gehört ihr dann?«
»Warum muss man selbst im Tod zu jemandem gehören?«, fragte Wolke genervt. »Wir sind wir. Und wir gehören zu uns. Ist das so schwer zu verstehen?«
»Warum sagt ihr mir dann, dass ich eine Macht habe, wenn ihr nicht vom SternenClan kommt?« Aqua hoffte, mehr von den zwei seltsamen Katern zu erfahren, doch das war scheinbar unmöglich.
»Weil wir Lust drauf hatten!«, antwortete Flosse. »Wir können dir sogar einen Tipp geben, um welche Macht es sich handelt. Schau mal: Wolke, ich hasse dich.«
»Oh nein! Mein eigener Bruder hasst mich!«
»Wusch, wusch! Ich habe jetzt die Macht des Wassers benutzt!«
»Jetzt hast du es doch schon verraten!«
Stille.
»Jedenfalls habe ich jetzt vergessen, dass mein Bruder mich hasst und denke, dass er mich immer noch liebt«, sagte Wolke schließlich.
»Damit verabschieden wir uns! Wir müssen noch jemand anderen besuchen!«
Aqua schaute ungläubig hinter den grünen Augen her, die sich nun von ihr entfernten.
»Das war echt peinlich, weißt du das?«, hörte sie Wolke noch sagen, bevor die zwei schwarzen Flecken sich einfach auflösten.
Was war das denn? Sie war so unglaublich verwirrt. Wer waren diese zwei Kater? Sie gehörten weder zum SternenClan noch zum Wald der Finsternis, wussten aber trotzdem von den Mächten. Und sie sollte eine haben? Die Macht des Wassers? Die Macht, Erinnerungen auszulöschen? Ein eiskalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Warum habe ich nicht davon gewusst? Wann hat der SternenClan sie mir gegeben? Und warum?
So war sie nicht in der Lage, vernünftig zu jagen. Leicht verstört von der Begegnung verließ sie die Schneefläche mit den Felsen und kämpfte sich zurück zu den Clans. Sie waren mittlerweile schon ein ganzes Stück vorangekommen, rasteten jetzt aber. Sie erkannte Blendfeuer, der auf sie zu kam.
»Kein Erfolg?«, fragte er sie.
Aqua wusste erstmal nicht, wovon er redete, doch dann fiel ihr wieder ein, warum sie sich überhaupt abgespalten hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Die Beute hat sich nicht blicken lassen.«
»Dann versuche ich es nochmal an einer anderen Stelle!«
Der weiße Kater hüpfte durch den Schnee davon, während Aqua zum WindClan zurückkehrte. Sie fand bis zum Abend keine Ruhe. Immer wieder musste sie an Flosse und Wolke und an die Macht des Wassers denken, die sie nun offenbar hatte.
Ich werde sie nie benutzen, dachte sie. Es ist nicht gerecht, anderen Katzen ihre Erinnerung zu rauben. Besser, ich behalte es für mich.
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Willkommen zurück, Flosse und Wolke. Einige von euch kennen die beiden schon aus »Zeit des Kampfes«. Welche Rolle sie wohl in dem großen Ganzen spielen werden?
Lied zum Kapitel: Epikus – Otar the Foul (Mal etwas mehr Text, aber ich finde, die Tonlage usw. passt zu Flosse und Wolke.)
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