Wolkenschweifs Abschied
Der schneeweiße Kater saß am Rand der Sonnenfelsen, eine junge Birke ragte neben ihm empor. Kalter Wind fuhr über die Ebene, Wolkenschweif erschauderte, sein langes, verdrecktes Fell wurde zerzaust. Einige abgestorbene Blätter wehten über die Felsen. Der Krieger konnte sich noch gut daran erinnern, wie vor etwa einem Blattwechsel noch eine ganze Horde von Jungen hinter den Blättern hinterhergejagt wäre. Doch diese Zeit war vorbei, das wusste er. Es hatte Tage gegeben, an denen er gedacht hatte, diese wären die dunkelsten für die Clans. Doch er hatte sich getäuscht.
Dies waren die dunkelsten Tage.
Dies waren die Tage ihres Untergangs.
Und auch wenn Eichhornpfote und Brombeerkralle verkündet hatten, dass sie alle ein neues Zuhause finden würden, konnte der weiße Kater nicht daran glauben. Er hatte das Feuer überlebt. Er hatte den Kampf gegen Geißel überstanden. Doch niemals zuvor hatte er so viel Leid gesehen. Junge, die verhungerten. Älteste, die aus Verzweiflung vergiftete Beute aßen. Katzen, die von Zweibeinern entführt wurden.
Wolkenschweif war unter diesen gewesen, hatte Tage, die sich wie Blattwechsel anfühlten, in einem Käfig verbracht, unsicher, ob Lichtherz, er und einige andere je wieder frei kommen würden. Als letztendlich die Patrouille kam um sie zu retten, hatte er wieder Hoffnung geschöpft. Hoffnung, die vollkommen unbegründet war. Denn ihr Clan war - noch immer - am Verhungern. All seine Clangefährten waren abgemagert, viele drohten vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Er war gerade erst zwei Sonnenaufgänge lang wieder hier, aber jetzt war er sich schon sicher, dass die Clans untergehen würden.
„Hey, Wolkenschweif! Ich habe eine Maus gefangen!", jaulte plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihm. Langsam drehte der Krieger seinen Kopf und blickte über seine Schulter. Weißpfote, seine Tochter, kam ihm entgegen. Ihre grünen Augen funkelten, sie hielt etwas Dunkles in ihrem Maul. Wolkenschweif schnurrte anerkennend, als ihm bewusst wurde, welch Erfolg der Fang dieser mickrigen Beute für die weiße Schülerin war.
„Das ist ja großartig", verkündete er, sprang auf, und begrüßte seine Tochter, indem er ihr über die Wange leckte. Farnpelz und Ampferschweif folgten der Schülerin, beide waren wohl leer ausgegangen, wie so oft in letzter Zeit.
„Ich werde das gleich zu Rauchfell bringen! Birkenjunges wird nicht sterben!", miaute Weißpfote voller Stolz. Wolkenschweif nickte schnurrend. Es war nur eine kleine Maus, aber sie würde die Königin ernähren. Sie würde genügend Milch für ihr verbleibendes Junges haben.
Bevor Wolkenschweif noch etwas zu seiner Tochter sagen konnte, rannte sie schon über die kantigen Felsen auf die Höhle zu, in der Rauchfell und einige andere Katzen sich vor der Kälte abschirmen wollten.
„Ich hoffe langsam, wir können bald von hier weg", brummte Ampferschweif, bevor die beiden Katzen der Schülerin folgten. Wolkenschweif trottete ihnen seufzend hinterher. Möglicherweise hatte Graustreif ja eine Aufgabe für ihn... plötzlich fiel dem Krieger auf, das dies gar nicht möglich war. Graustreif war fort, entführt von Zweibeinern.
Ziellos lief er über die Sonnenfelsen, die schon lange nicht mehr sonnig waren. Nicht länger galten sie als die umstrittenen Felsen, die von Fluss- und DonnerClan begehrt wurden. Nein, nun waren sie ihre Zufluchtstätte, die Katzen waren dankbar sie zu haben und doch waren sie verhasst. Verhasst, weil sie daran erinnerten, dass sie nicht in ihr Lager zurückkehren konnten. Weil es kein Lager mehr gab. Vielleicht nie mehr geben würde.
„Wolkenschweif?", murmelte die sanfte Stimme, die er unter tausenden erkannt hätte hinter ihm. Der weiße Kater blickte zu seiner Gefährtin, deren Rippen sich deutlich unter ihrem weißen Pelz abzeichneten. Ihr Fell hatte den Glanz verloren, ihre Narben, für die er noch heute jeden Hund in der Luft zerfetzen würde, stachen auffällig hervor.
Langsam kam Lichtherz zu ihm und leckte ihm über die schlammverkrustete Schulter. Erschöpfung lag in ihrem grünen Blick, so wie in dem von allen DonnerClan-Katzen.
Es tat Wolkenschweif so schrecklich weh, sie so zu sehen. Sie leiden, hungern zu sehen. Denn er konnte es nicht ändern und das war das allerschlimmste. Er war hilflos.
„Es ist nicht mehr lang, bis wir gehen werden", miaute Lichtherz mit ihrer klaren Stimme. Müdigkeit lag darin. „Vielleicht sollten wir uns von Prinzessin verabschieden. Sie muss wissen, dass wir es geschafft haben, zu gehen."
Überrascht von ihren Worten dauerte es ein paar Herzschläge, bis der langhaarige Krieger realisierte, was seine Gefährtin ihm vorschlug. Er musste schlucken.
„Noch sind wir nicht fort. Wir haben es noch nicht geschafft. Soll ich sie anlügen? Denn solange wir nicht wirklich weg sind, ist es eine Lüge zu sagen, dass wir überleben werden. Es ist alles andere als sicher. Wenn es so weiter geht, sind wir alle gar verhungert, bevor wir hier weg sind!" Seine Worte waren hart, viel zu hart. Aber es war die Wahrheit und Wolkenschweif hatte es noch nie verstanden, über eine solche Tatsache zu lügen.
Lichtherz, wie so oft kaum aus der Ruhe zu bringen, seufzte resigniert. „Selbst wenn wir es nicht schaffen sollten, wäre es doch etwas wert, wenn du dich von deiner Mutter verabschiedet hättest. Sie liebt dich, es bräche ihr das Herz, dich ohne Vorwarnung nie wieder zu sehen." Sie sprach ihre eigene Angst aus. Die Angst, die sie verspürt hatte, als sie dachte, Weißpfote und den Clan nie wiederzusehen. Wolkenschweif konnte ihr das nicht verdenken. Er kannte ihre Angst.
„Gut, ich werde ihr auf Wiedersehen sagen. Gleich jetzt, vielleicht lässt sich unterwegs ja Beute machen", gab der weiße Kater nach. Lichtherz leckte ihm zärtlich die Wange.
Gemeinsam entfernten sie sich von den Sonnenfelsen, betraten den Wald, der nicht mehr heimisch wirkte und rannten dann in Richtung des Zweibeinerorts. Tiefe Furchen, die Monster vom Baumsägeort in dem Boden hinterlassen hatten, kreuzten ihren Weg. Kaum ein Geruch von Beute war zu erschnuppern. Nichts regte sich in dem kalt wirkenden Wald.
Ohne eine Spur von Frischbeute entdeckt zu haben, erreichten sie den Zaun des Zweibeinernests am Rande des Waldes, in dem Prinzessin lebte. Noch immer, nach all den Jahren, schien es Wolkenschweif unglaublich, dass er dort geboren worden sein sollte. Er war nie ein Freund der Zweibeiner gewesen, jetzt verabscheute er sie gar.
Der Geruch des leeren Waldes vermischte sich mit den in der Nase beißenden des Zweibeinerorts. Ein Hauch von Prinzessins Geruch lag in der Luft. Sie befand sich oft dort auf dem Zaun und blickte in den Wald, wenn sie auf Besuch von ihm oder Feuerstern wartete, das wusste Wolkenschweif.
Vorsichtig, immer auf der Hut vor Zweibeinern, die auftauchen konnten, trabten die beiden Waldkatzen zum Zaun und spähten zwischen den hölzernen Balken hindurch in den Garten. Die Sicht wurde ihnen zu großen Teilen von Sträuchern, die dort wuchsen, verwehrt. Trotzdem glaubte der weiße Kater einen Fetzen getigerten Fells gesehen zu haben.
„Prinzessin!", miaute er gerade so laut, dass sie ihn hören konnte, sollte sie tatsächlich im Garten sein. Genau wie Lichtherz spitzte er seine Ohren aufmerksam, nicht nur um Gefahr, sondern auch seine Mutter frühzeitig zu bemerken.
Etwas raschelte.
Dann erklang der fast unhörbare Laut von Pfoten, die leichtfüßig über kurz geschorenes Gras liefen. Die Sträucher raschelten, gleich darauf erschien Prinzessin auf dem Pfosten des Zaunes. Ihr gepflegtes Fell glänzte für Wolkenschweif auffällig. Schon lange hatte er keinen Pelz mehr gesehen, der so wenig Spuren von Hunger und Verzweiflung aufwieß.
„Wolkenschweif! Lichtherz! Wie wunderbar euch zu sehen!", schnurrte Prinzessin und sprang zu ihnen herab. Ihre klaren Augen funkelten, sie musterte die beiden DonnerClan-Katzen, während sie sie nacheinander Nase an Nase begrüßte. „Ihr seht abgemagert aus", miaute sie bestürzt, über den ungepflegten Zustand ihrer Pelze schwieg sie, während sie einen Schritt zurücktrat.
„Geht es dem Clan nicht gut?" Ihr sorgenvoller Blick bohrte sich in den ihres Sohnes. Dieser war versucht, sie anzulügen. Ihr zu sagen, dass es nur ein etwas beutearmer Blattwechsel war. Doch das würde nichts bringen, das war er sich bewusst. Also murmelte er: „Die Zweibeiner zerstören den Wald. Es gibt keine Beute." Lichtherz nickte bestätigend.
Bestürzt schnappte Prinzessin nach Luft. „Aber das ist ja fürchterlich! Kann ich euch etwas zu fressen anbieten? Mein Napf ist gerade gefüllt worden, ihr könnt gerne so viel nehmen, wie ihr braucht." Ihr Vorschlag klang für einen Herzschlag lang nach einer guten Idee. Doch es war nur ein Herzschlag, da wurde ihm klar, dass er niemals wieder von dem scheußlichen Zeug fressen wollte, dass die Zweibeiner an ihre Hauskätzchen verteilten. Im Käfig hatte er es fressen müssen. Nun würde er lieber sterben, als es nocheinmal zu tun, selbst wenn er in seiner Jugend anders gedacht hatte.
„Das ist sehr nett von dir Prinzessin, aber nein. Wir sind nur gekommen, um dir Lebewohl zu sagen. Die Clans werden gehen, um ein neues Territorium zu finden", antwortete Lichtherz an Wolkenschweifs Stelle. Schweigen, während dem Prinzessins Miene zwischen ängstlich und traurig schwankte, folgte.
„Ich werde euch nie wieder sehen, richtig?", murmelte sie betrübt. Die Antwort kannte sie bereits, trotzdem tat es Wolkenschweif leid ihr zustimmen zu müssen. Er hatte nie das engste Band zu seiner Mutter gehabt, immerhin war er eine Clankatze und sie ein Hauskätzchen, trotzdem fiel ihm dieser Abschied sehr schwer.
„Vielleicht werden wir eines Tages gemeinsam im SternenClan jagen", schlug Lichtherz wenig überzeugend vor. Wolkenschweif glaubte nicht daran. Nicht nur, dass er nicht glaubte, dass der SternenClan überhaupt existierte, sondern auch, dass Prinzessin dorthin gehen würde, nachdem sie diese Welt eines Tages verlassen würde.
Die Hauskatze nickte kurz. Auch ihr war klar, dass dies nicht geschehen würde. „Dann ist das hier wohl ein Abschied", brummte Prinzessin und schloss die Augen einen Moment. Als sie sie wieder öffnete, trat sie auf die zwei Waldkatzen zu.
„Ich hoffe, ihr werdet ein neues Zuhause finden, wo es euch besser geht als hier... und falls ihr jeweils wieder zurückkehrt, wisst ihr, wo ihr mich finden könnt. Ich werde euch nie vergessen", miaute sie und leckte zuerst Lichtherz und dann ihrem Sohn über die Wange.
„Möge der SternenClan deinen Weg erleuchten", flüsterte Wolkenschweif. Dies war einer der Momente, in denen er hoffte, dass dieser Clan im Silberfließ tatsächlich existierte.
„Ich bin so stolz darauf, dass du mein Sohn bist", hauchte Prinzessin. Ein Nicken war alles, was Wolkenschweif zu Stande brachte. Auch wer war stolz, sie zur Mutter zu haben. Selbst wenn sie ein Hauskätzchen war.
Nach Prinzessins Worten verließ Wolkenschweig gemeinsam mit seiner Gefährtin seine Mutter schweren Herzens. Erst während sie durch den Wald rannten, wurde ihm bewusst, dass er mit diesem Abschied nicht nur seine Mutter, sondern auch seine Herkunft hinter sich gelassen hatte.
Dies ist nicht nur Wolkenschweif Abschied, sondern auch meiner. Dieses Buch erkläre ich hiermit für beendet. Möglicherweise kommt irgendwann nochmal die eine oder andere Geschichte dazu, ich zweifle aber daran.
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