Moosjunges
Moosjunges beobachtete nun schon lange einen kleinen Wurm, der sich vor ihrer Nase durch das Holz arbeitete. Ein kleiner, fast grünlicher Wurm.
Moosjunges spielte mit dem Gedanken, nach dem Wurm zu fischen und ihn als Spielkamerad zu gewinnen, doch sie verwarf den Gedanken schnell. Er würde ja dann doch nicht den Moosball zurückstoßen. Würmer waren keine guten Spielkameraden für Katzen. Also folgten ihre Augen weiter den drehenden, windenden Bewegung des schleimigen Tieres, während ihr Kopf auf ihren Pfoten ruhte und ihre Schwanzspitze mal nach rechts, mal nach links zuckte.
Verärgert schnaubte sie, als ihr Blick den breiten Holzspalt in der Wand der Baumhöhle vor ihr streifte, neben dem sich der Wurm ein eigenes Loch bohrte. Der Spalt befand sich genau dort, wo die Höhlenwand in die Decke überging, war also leicht versteckt, so dass man ihn nicht auf den ersten Blick erkannte.
Wehmütig seufzte Moosjunges.
Bis vor kurzem hatte sie ihren Geheimgang noch nutzen können. Er war ihr Ausweg gewesen, um sich weiterhin in die Baumkronen zu wagen, ohne dass ihre Mutter von ihren heimlichen Aktivitäten erfuhr.
Nachdem sie vor einem Mond bei ihrem ersten Kletterversuch beinahe ums Leben gekommen wäre, hatte ihre Mutter ihr strengen Nestarrest erteilt. Nur wenn ihre Mutter vom Jagen oder Trainieren zurückkam, durfte sie mit ihrer Mutter durch das Lager laufen.
Ich bin doch schon fast Schülerin! Das ist so peinlich...
Doch so sehr es Moosjunges widerstrebte, folgsam hinter ihrer Mutter herzutrotten, Rauchwind hatte mit seiner Strafpredigt dafür gesorgt, dass Moosjunges sich kaum traute, den ihr aufgelegten Arrest zu umgehen. Dieser Moment, als alle Katzen des jungen Clans sie angestarrt hatten und sie vor allen Augen vom Anführer ausgeschimpft wurde... das war der wohl peinlichste Moment in ihrem noch so kurzen Leben gewesen. Selbst wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, brannte ihr Fell immer noch heiß vor Scham.
So dumm, wie beim ersten Mal hatte sie sich dann auf ihren heimlichen Streifzügen nicht mehr angestellt. Sie wurde von Tag zu Tag besser, geschickter und flinker. Ihre Pfoten verloren immer seltener ihren Halt, ihre Krallen wurden schärfer und ihre Beine kräftiger. Tag für Tag wagte sie sich höher, Tag für Tag entdeckte sie neue Astgabelungen, neue Aussichtsplätze, neue Baumhöhlen, bevor die untergehende Sonne sie warnte, vor Mondschwinges Ankunft zurück in der Kinderstube zu sein.
Doch dann das.
Als sie letztes Mondhoch durch den Spalt im Holz entwischen wollte, ist passiert, was Moosjunges schon seit Längerem geahnt hatte:
Sie ist stecken geblieben.
Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht ihren zu groß gewordenen Körper hin und her zu drehen, ihre Pfoten gegen das Holz zu stemmen und zu versuchen, sich vielleicht doch noch in den Ganz zu zwängen. Doch sie hatte keine Chance. Schließlich konnte sie die Rinde an den Rändern der Öffnung so weit mit ihren Hinterpfoten abschaben, sodass sie unsanft wieder in ihrem Nest gelandet war.
Seit diesem Moment fühlte sich Moosjunges eingeengt. Als würden die Höhlenwände immer weiter auf sie zurücken, als wäre sie zu breit, zu groß und zu lang geworden, um in ihrem Nest noch Platz zu finden.
Es war schon Sonnenfall. Die roten Sonnenstrahlen zauberten durch den Moosvorhang in ihrem Rücken verschiedenste Lichtmuster an die Höhlenwand. Verträumt legte Moosjunges ihre Pfote auf das raue Holz und beobachtete fasziniert, wie sich das Licht in ihrem Fell fing und auf ihrer gefleckten Pfote hin und her tanzte. Moosjunges drehte ihre Pfoten hin und her, ließ die Krallen ein- und ausfahren und spreizte die Zehen. Ihr war in der gestrigen Nacht nicht nur aufgefallen, dass sie in kurzer Zeit sehr groß geworden war, sondern auch, als sie voller Frust das Moos ihres Nests ausgerupft hatte, dass ihre Pfoten deutlich größer waren, als die ihrer schlafenden Mutter. Das beunruhigte sie sehr.
Und nun grübelte sie schon den ganzen Tag und ihre Mutter war immer noch nicht zurückgekehrt. Noch vor Sonnenhoch war sie mit der Morgenpatroullie aufgebrochen und seit dem nicht mehr zurück zu Moosjunges gekommen. Ihre Freundin Echoklang hatte ihr kurz nach Sonnenhoch einen Besuch abgestattet und ihr erklärt, dass Mondschwinge bei den Aufbauarbeiten im Lager mithelfe und den Ältestenbau flickte, doch als Moosjunges darum bat, mithelfen zu dürfen und sich die Pfoten vertreten zu dürfen, hatte Echoklang entschuldigend den Kopf geschüttelt und gesagt: "Tut mir leid, Moosjunges. Das ist die Aufgabe der Schüler und Krieger. Du weißt, du darfst nur nach Sonnenfall aus dem Nest. Wenigstens solange, bis die anderen Krieger mehr Zeit haben und dich öfter mitnehmen können."
Das war ihre Antwort schon seit einem Mond. Seit einem Mond musste sie in ihrer Baumhöhle bleiben, ohne jemanden zum Spielen, ohne sich im Lager frei bewegen zu dürfen, ohne jegliche Beschäftigung. Manchmal kamen auch Taupfote oder Schimmerpfote zu ihr und erzählten ihr, was sie den ganzen Tag für tolle Dinge gemacht haben. Doch meistens waren sie so beschäftigt mit ihrem Schülertraining, dass sie nur kurz Frischbeute vorbei brachten und dann wieder verschwanden. Es war wirklich tot langweilig allein. Außer nachts, wenn sie sich auf den Baum fortstehlen konnte und die atemberaubende Aussicht aus den Baumkronen genießen konnte.
Wenn sie sich bei ihrer Mutter dann am Tagesende beschwerte, kamen immer die gleichen Ausreden: Lageraufbau, unerforschtes Territorium, unbekannte Gefahren, beschäftigte Clan-Katzen.
Und heute war ihre Mutter noch nicht einmal pünktlich zu Sonnefall wieder da. Das fuchste Moosjunges unglaublich.
Fauchend sprang Moosjunges auf, schnappte sich ein Moosbüschel und warf es frustriert gegen die Wand. Beinahe hätte sie den Wurm getroffen.
Sonnenfall darf ich raus. Also gehe ich raus. Mir doch egal, dachte sich Moosjunges trotzig, wirbelte herum und sprang mit einem Satz durch den Moosvorhang.
Bis gestern hätte sie das nicht gewagt. Doch diese Nacht hatte sie nicht einmal den Baumgiganten hinauf klettern können und kam sich vor wie ein Fuchs in einem Mäusenest.
Also landete sie im Wurzelwerk außerhalb der Höhle. Und sah sich um. Warum war ihre Mutter immer noch nicht da? Und wo waren alle? Nach ein paar zögerlichen Sprüngen hörte Moosjunges auf einmal aufgeregtes Miauen vom Unteren des Hügels. Ohne zu zögern lief sie durch das Gras, sprang über vereinzelte Wurzeln, blieb an einer hängen und purzelte kopfüber den Hang hinunter.
Der haarige Rücken ihrer Mutter hielt sie auf.
"Moosjunges! Schau, wer gekommen ist!"
Verdattert rappelte sich Moosjunges auf und blickte an der Katze hoch, die zufällig ihre Mutter war. Erst war sie verwundert, warum ihre Mutter nicht böse war, weil sie ohne sie aus dem Nest gegangen war, doch dann wurde ihre Neugier geweckt. Warum wohl alle Katzen so aufgeregt waren? Um wen sie wohl einen Halbkreis gebildet hatten? Eilig schob sich Moosjunges durch die Leiber und drückte ihre Schnauze zwischen zwei Katzen in der vordersten Reihe, bis ihr Blick auf zwei ihr fremde Katzen fielen. Einer der Kater, der gerade zu seinem Mitreisenden sprach, war ein großer, kräftiger Tigerkater mit einschüchternd ernstem Blick, während die andere eine Kätzin mit blaugrau gestreiftem Fell deutlich sanfter wirkte. Sie beiden schritten nun, den Schweif freudig aufgerichtet, auf Rauchwind zu, hinter dessen Rücken Moosjunges hervorlugte.
"Willkommen im Moorclan! Wir haben uns schon Sorgen gemacht, ob alles gut gegangen ist!", begrüßte der Anführer die beiden Katzen. "Es ist ja schon einen fast einenhalb Monde her!" Die schöne Kätzin senkte den Kopf. "Sei gegrüßt, Rauchwind. Ich heiße Regenflug und komme vom Heideclan. Birkenpelz schickt dir herzliche Grüße und entschuldigt sich für die Verspätung. Er war der Meinung, es ist besser, auf eine Nachricht aus dem Gipfelclan zu warten, damit wir gleich alle weiteren Dinge, die die drei Clans betreffen, regeln können." Rauchwind nickte zustimmend. "Ich heiße Dohlenkralle.", stellte sich der robuste Kater vor und senkte ebenfalls respektvoll den Kopf. "Wir haben ebenfalls ein Lager in den Bergen gefunden und die Katzen haben sich bereits gut eingelebt."
"Bei der großen Mutter, noch mehr Kuschelkatzen? Wo bin ich hier nur gelandet?", schimpfte Rankenpelz, die Ureinwohnerin des Baumgiganten, die sich auch den Hügel hinabgemüht hatte, hinter Moosjunges. Einige Katzen schnurrten belustigt. Man hatte sich schon an den ruppigen Charakter der alten Kätzin gewöhnt.
Nach dieser kurzen Vorstellung bat Rauchwind die beiden Katzen zu sich in den Anführerbau. "Ihr müsste bestimmt hungrig sein, nach einer solch langen Reise. Nachtschatten?", sprach er den dunklen Peterbald-Kater zu seiner rechten an. "Ja, Rauchwind?" "Würdest du die besten Stücke von unserem Frischbeutehaufen bitte in meinen Bau bringen?" Der schlanke Kater schnippte mit dem Schwanz, wandte sich um und lief den Hügel hinauf. Moosjunges reckte den Hals, um ihrem Retter nachzusehen.
Nachtschatten hatten sie damals vor dem Tod gerettet. Er hatte gesehen, wie sie im Stammgewirr des Baumriesens verschwunden war und war ihr gefolgt. Gerade als sie den Halt verlor und in die Tiefe hinabzustürzen drohte, war er auf den Ast hinausgeschossen und hatte ihr Nackenfell erwischt.
Seitdem bewunderte sie Nachtschatten. Er war definitiv der beste Krieger des Clans.
Die Katzenmenge löste sich langsam auf und die Katzen gingen wieder ihren Arbeiten nach. Es wurde allerdings schon dunkel und die meisten Katzen ließen ihre Arbeit ruhen, um sich stattdessen im Abendrot auf den flachen Felsen, die den Hügel säumten, die Zungen zu geben. Staunend sah Moosjunges den drei Katzen hinterher, die nun auf dem Weg zum Anführerbau waren.
Endlich passiert mal etwas Spannendes!
Moosjunges wollte losstürzen und den Katzen folgen, da hielt plötzlich jemanden ihren Schwanz fest. Ungeduldig blitze sie ihre Mutter Mondschwinge an. "Nana, wo wollen wir denn hin?", schmunzelte sie und schnurrte erschöpft aber glücklich. Ihr Fell war zersaust, Zweigreste, Blätter und Erde klebten ihr im Fell. "Ich will hören, was sie reden! Bitte!", miaute sie und sprang ruckartig nach vorne. Ihr Schweif kam frei und ihre Mutter weitete überrascht die Augen. "Seit wann bist du so stark, Moosjunges?", schnurrte sie stolz und nickte dann wohlwollend. "Tut mir leid, ich habe dich heute ziemlich vernachlässigt, hm?" Sie leckte ihrer Tochter kurz übers Ohr, diese schüttelte widerwillig den Kopf. Dann stupste Mondschwinge die junge Kätzin an. "Na dann lauf. Aber pass auf, dass du nicht beim Lauschen erwischt wirst!" Moosjunges rannte los. "Und erzähl mir dann alles, was du gehört hast, ja?", rief Mondschwinge ihr hinterher, während Moosjunges schon den Anführerbau anvisierte.
Der Anführerbau war in der größeren der beiden Baumhöhlen eingerichtet worden, die am Fuß des Giganten im Stamm klafften. Dort hatte Rankenpelz gelebt, bevor der bunte Haufen von Hauskätzchen, Streunern und Einzelgängern seinen Weg hierher gefunden hatte. Jetzt lebte sie in einem der bequem eingerichteten alten Fuchsbaue, die unter dem riesigen Wurzelwerk des Baumes lagen. Die kleinere der beiden Baumhöhlen war zur Kinderstube geworden und der zweite Fuchsbau zum Heilerbau. Die Krieger schliefen unter einem tiefen Felsvorsprung und Taufpote und Schimmerpfote hatten ihre Nester unter einem umgestürzten Baum gebaut, der von den Felsen eingeklemmt wurde. Das alles hatte Mondschwinge Moosjunges während ihrer Spaziergänge erklärt. Sie durfte sogar die Heilerin Honigmaul besuchen. Wie sich herausstellte, war die Heilerhöhle kein gewöhnlicher Fuchsbau. Es war eine Höhle, die tief hinabführte, bis der Boden und die Wände teilweise aus Gestein bestand. Honigmaul arbeitete noch daran, das Problem mit der Feuchtigkeit zu lösen. Am tiefsten Punkt der Höhle war es kalt und feucht, was nicht gut für kranke Katzen war, hatte Honigmaul ihr erklärt.
"Kommt herein", drang Rauchwinds Stimme herab und Moosjunges blickte auf. Gerade verschwand der Schweif der Heideclan-Kätzin hinter dem Moosvorhang. Vorsichtig sah sich Moosjunges um, ob irgendeine Katze sie beachtete, doch scheinbar waren alle zu beschäftigt, ihre Nester bequemer zu machen und die Baue vor Wind zu schützen. Also schlich Moosjunges hinter einen dichten Farnstrauch direkt unter der Höhle und lauschte angestrengt. Die Stimmen waren sehr gedämpft, doch Moosjunges konnte sie dennoch ausgezeichnet hören.
"Also, wie erging es euch, seit ihr euer Lager gefunden habt? War es schwer, einen geeigneten Ort zu finden? Habt ihr euch schon eingerichtet?"
"Unser Lager ist uns praktisch vor die Pfoten gefallen. Es ist eine große Senke mit einigen alten Bauen und Büschen mit breiten Ästen." Es war die Kätzin, die sprach. "Wir haben uns schon sehr gut eingerichtet und hatten bereits die erste Schülerzeremonie. Der Heideclan kann sich über drei kräftige Nachwuchsschüler freuen."
Moosjunges fragte sich unwillkürlich ob das wohl eine versteckte Drohung war.
"Unser Lager zu finden war nicht schwer. Die Höhle ist groß und schwer zu übersehen. Das Problem war allerdings, dass ein Bär in ihr wohnte. Wir musste in ihn vertreiben, um dort einziehen zu können."
Moosjunges Herz klopfte aufgeregt. Ein Bär? Was war das für ein Tier?
"Ein Bär? Wie habt ihr das geschafft?"
"Der Gipfelclan hat viele starke Krieger und Kriegerinnen. Wir waren elf zu eins in der Überzahl, aber ohne Himmelssturm hätten wir es wohl nicht geschafft. Leider konnte auch er Kieselfuß nicht retten. Er ist von dem Bär außerhalb der Höhle getötet worden, kurz bevor wir ihn endgültig vertreiben konnten."
"Das tut mir leid. Richte Himmelsstern mein Beileid aus"
"Das wird nicht nötig sein. Er bat mich, dass ich dich auf die erste Große Versammlung aufmerksam mache. Dort kannst du es ihm persönlich sagen."
"Die große Versammlung! Blaustern hat mir davon erzählt. Ihr wollt sie schon diesen Vollmond abhalten? Schon nächstes Mondhoch wird der Mond vollkommen rund sein, ist das überhaupt genug Zeit für dich, um zurück zum Gipfelclan zu laufen, Dohlenkralle?"
"Nein, das ist es nicht. Himmelssturm wird mit einer Gruppe von Katzen zum Blütenmeer kommen, ein Landabschnitt, der das Heideclanterritorium von dem euren trennt."
"Territorien? Hat Himmelssturm die Grenzen etwa bereits festgelegt?"
Rauchwind klang verärgert.
"Es ist ein sinnvoller Vorschlag, aber die Territorien werden auch ein Thema auf der Großen Versammlung sein, noch ist nichts festgelegt." Wieder die Stimme von Regenflug.
"Ich werde bis zum nächsten Mondhoch beim Heideclan bleiben und mich dann der Gipfelclanpatroullie anschließen."
"Birkenpelz möchte die Große Versammlung ebenfalls schon so früh abhalten. Je früher wir alles geregelt haben, desto eher kann ein geregelter Alltag für jeden Clan entstehen und es gibt keine Streitigkeiten."
Plötzlich musste Moosjunges niesen. Ihr Niesen war nicht leise, es war ein heftiges Brusten. Warum konnte sie nicht einmal wie andere Katzen niesen??
Prompt verstummte das Gespräch.
Mäusedreck.
Keinen Herzschlag später blickte das ernste Gesicht von Dohlenkralle zu ihr hinunter. "Wir haben einen Spion.", bemerkte er trocken, schob sich aus der Höhle, stützte seine Vorderbeine am Baumstamm ab und packte Moosjunges am Nackenfell.
Er ächzte unter Anstrengung als er ihren Körper nach oben in den Bau zog. Sie landete zwischen Rauchwind, der aufrecht in seinem Nest saß und den zwei Botschaftern, die vor dem Eingang Platz genommen hatten.
"Hat sich einer eurer Schüler verlaufen?", schnurrte Regenflug belustigt und zwinkerte Moosjunges zu. Rauchwind zuckte peinlich berührt mit einem Ohr. "Sie ist keine Schülerin. Darf ich vorstellen? Moosjunges, Mondschwinges Tochter."
Unsicher sah Moosjunges zu den zwei erwachsenen Katzen aus den fremden Clans. Dohlenkralle betrachtete sie von oben bis unten. Sein Augen verdunkelten sich zusehnst.
"Das soll ein Junges sein? Sieht mir deutlich zu groß und zu kräftig aus.", stellte er kritisch fest.
Moosjunges zuckte vor dem scharfen Ton des Katers zurück. Er klang fast wütend.
Auch Regenflug nahm sie genauer in Augenschein. Nach einer Weile fragte sie:
"Ist das überhaupt eine Katze?"
Moosjunges riss erschrocken die Augen auf. Was redete sie da? Natürlich war sie eine Katze! Verzweifelt blickte sie zu Rauchwind. Er musste sie doch vor den Beleidigungen der anderen Katzen in Schutz nehmen!
Doch zu ihrem Entsetzen sah selbst Rauchwind sie nun überrascht an. Je länger er ihr Aussehen überprüfte, desto mehr weiteten sich seine Augen.
"Beim heiligen Sternenclan ... Wie ... wie groß du geworden bist, Moosjunges!", brachte ihr Anführer hervor.
Moosjunges fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Pfoten weggezogen. Plötzlich rauschte das Blut viel zu laut in ihren Ohren. Ihre Herz schlug viel zu schnell und ihre Krallen juckten.
Moosjunges stieß die beiden Katzen zur Seite und stürzte aus dem Bau.
Kaum hatten ihre Pfoten den Boden berührt, hörte sie den Ruf ihrer Mutter, doch ohne sie zu beachten jagte Moosjunges den Hügel hinab. Sprang über die Felsen und setzte mit großen Sprüngen in den Wald hinein.
Das darf nicht sein, das darf nicht sein, das darf nicht sein!
Moosjunges wusste genau, wo der Sumpf lag. Sie hatte ihn von ihrer Lieblingsastgabel schon hunderte Mal beobachtet, wie sich die Sterne im Wasser spiegelten.
Sie lügen! Sie müssen lügen!
Ihre Pfoten gehorchten blind. Sie war noch nie außerhalb des Lagers, geschweige denn in diesem Teil des Waldes gewesen, doch wie vom Sternenclan geleitet, fand sich den Weg.
Der Dschungel lichtete sich und der Boden unter ihren Pfoten wurde von weichem, feuchten Gras abgelöst. Ihr Pfoten flogen nur so über den Boden. Vor ihr fing die Wasseroberfläche die letzten Sonnenstrahlen der hinter den Bergen versinkenden Sonne auf.
Völlig außer Atem rammte Moosjunges ihre Krallen in das Ufergras und beugte sich mit bebenden Flanken nach vorne.
Die Sonne verschwand und Dunkelheit hüllte den Sumpf ein.
Moosjunges blickte ins Wasser. Und ein fremdes Wesen starrte zurück.
Die Ohren waren anders.
Die Augen waren anders.
Die Schnauze war anders.
Die Schultern waren anders.
Anders als die ihrer Mutter. Anders als die ihrer Clangefährten. Anders die jeder Katze, die sie je gesehen hatte.
Moosjunges fing an, unkontrolliert zu zittern.
Sie stolperte rückwärts.
Ihr Herz schlug bis zum Hals und Tränen brannten in ihren Augen.
Dann warf sie sich herum und begann zu rennen.
Sie rannte zurück in den Wald. Aber das letzte, was sie jetzt wollte, war zurück zu all den Katzen zu laufen, die ihr zeigten, wie anders sie war. Also schlug sie einen anderen Weg ein. Der Wald war in der Nacht noch dunkler als er sowieso schon war. Moosjunges kniff die Augen zu und ließ sie ihre Pfoten davon tragen. Die Tränen brannten heiß auf ihren Wangen. Eine nach der anderen viel auf den Waldboden. Selbst als sie eine Höhle in einer Felswand entdeckte und in die Dunkelheit eintauchte, klang ihr trauriges Echo auf dem felsigen Untergrund fort.
Sie dachte nicht nach. Irgendetwas in ihr führte sie und sie ließ sich dankbar darin verlieren. Sie spürte Kälte. Sie spürte Felswände. Raues Gestein. Sie spürte eine Felsendecke, die so niedrig war, dass sie sich gegen ihren Rücken drückte. Dann wurde es so dunkel, dass ihr selbst die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, nichts mehr half. Als hätte ihr jemand mit einem Schlag diese Fähigkeit genommen. Ihre Ballen streiften einen dünnen Wasserfilm über dem felsigen Untergrund. Sie hörte etwas Rauschen. Einen kleinen Bach. Die Luft roch frisch und klar wie der Sternenhimmel. Ihre Pfoten fanden Halt und völlig erschöpft hielt sie an. Müdigkeit ließ ihre Beine schwer werden und sie sank zu Boden. So blieb sie liegen.
Atmete.
Ein und aus.
Lauschte dem Geräusch, wie die Luft über den Felsboden schwebte. Lauschte ihrem eigenen Herzschlag. Und hörte, wie sich ihre Tränen eine nach der anderen mit dem Fluss vereinten.
Ich bin keine Katze. Was beim Sternenclan bin ich dann?
Unglaublicher Schmerz pochte in ihrer Brust. Sie war anders. Sie gehörte nicht dazu. Sie würde niemals ein volles Mitglied des Clans werden.
Wer war sie? WAS war sie? Zweifel nagten an ihr, wie Rattenzähne an bleichen Knochen. Drohten, sie völlig aufzulösen.
"Moosjunges."
Moosjunges schlug die Augen auf.
Vor ihr stand eine Kätzin. Ihre blaue Augen strahlten heller als jeder Himmel. Ihr Fell glitzerte heller als tausend Sterne. Ihre Stimme klang wie hundert fließende Bäche.
"Moosjunges, verzweifle nicht.
Dein Weg wird steinig und hart werden und blutige Spuren werden deinen Weg zeichnen.
Doch du hältst das Leben in deinen Pfoten."
Moosjunges war geblendet. Die Stimme der Katze hallte in ihren Ohren, in ihren Pfoten, in ihrer Brust.
"Wenn Blut Blut verrät,
wenn Liebe Hass verbreitet
und der Tod das Leben bedroht,
wirst du Gegensätze vereinen, Feind zu Freund wandeln und den Kreis der Rache durchbrechen.
Deine Pfoten werden den Frieden bringen."
Die Kätzin löste sich auf. Die Sterne in ihrem Fell stiegen gen Himmel und schwebten wie tausend kleine Sonnen empor.
Als sich ein Himmel voller Glühwürmchen über ihr auftat, erkannte sie, dass ihre Augen längst wieder geöffnet waren.
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