8. Kapitel
Der dunkle Nachthimmel war wolkenleer und die Sterne leuchteten wie kleine, silberne Sonnen. Deutlich sah Brud das Sternenrudel und fragte sich, ob Rato jetzt unter ihnen war. Der kleinste von Janis Welpen war heute gestorben. Er war schon von Anfang an schwach gewesen und hatte sich geweigert, die Milch seiner Mutter zu trinken. Selbst Sora hatte ihm mit ihren Heilkünsten nicht helfen können. Sein Tod hatte Jani und Tokun das Herz gebrochen. Besonders weil ihre beiden anderen Welpen dazu bestimmt waren, Kämpfer zu werden. Das hatte Sora jedenfalls nach der Zeremonie verkündet.
Brud lauschte den Liedern der anderen Heuler. Diese Nacht war er der erste gewesen, der die Trauernachricht verkündet hatte. Seine Melodie war voller zerstörter Hoffnung gewesen und auch im Geheul von Amra klang Traurigkeit mit. Starker Zahn hingegen ließ nicht von sich hören. Gar nicht. Vermutlich hatte Schwarzer Sturm, der Rudelführer des Sumpflandrudels, ihm als Strafe befohlen, im Lager zu bleiben.
Sehnsüchtig schaute Brud zu dem Waldrand und stellte überrascht die Ohren auf, als er jetzt schon Tilas helles Fell erblickte. Dabei hatte er ihr noch gar nicht das Signal gegeben, dass sie kommen konnte! Aber sie trabte gemächlich den Hang hoch, bis sie bei ihm angekommen war.
»Brud«, flüsterte sie liebevoll und schmiegte sich eng an ihn. »Ich habe dich vermisst.«
»Ich dich auch«, brummte er und leckte ihr über die Schnauze. »Warum bist du so früh?«
Ihre braunen Augen fingen an zu glitzern. »Weil ich dir etwas Wichtiges sagen muss.«
Bruds gesamtes Fell fing an zu kribbeln. Ein Schauer nach dem anderen fuhr ihm über den Rücken. Was möchte sie mir sagen? Was ist so wichtig, dass sie nicht warten kann? Angespannt schaute er sie an.
»Ich muss dir sagen, dass ich deine Welpen trage.«
Die Worte trafen ihn wie ein heftiger Schlag. Eine intensive Freude überkam ihn. Sofort fing er an, sie zu umkreisen und von allen Seiten zu betrachten und zu liebkosen. Wenn er genau roch, hatte sich ihr Geruch auch leicht verändert, war süßer geworden. Vorsichtig berührte er ihren Bauch mit der Nase.
»Unsere Welpen! Tila! Das ist wundervoll!«
»Ich weiß.« Sie trat einen Schritt zurück, um ihm über das Schulterfell lecken zu können. »Aber das bedeutet auch...« Sie senkte den Blick. »Roc muss denken, dass es seine Welpen sind. Verstehst du?«
Brud fühlte sich, als würde er in einem kalten Regenschauer stehen. Unbändige Verzweiflung kam in ihm hoch. Dann die Wut. »Was gibt es da zu verstehen! Es muss eine andere Möglichkeit geben! Wir können immer noch abhauen! Einfach verschwinden!«
»Roc wird uns verfolgen und finden«, gab Tila mit einem unterschwelligen Knurren zurück. »Erst recht, wenn unsere Welpen da sind. Wir müssen...«
»Eure Welpen?«
Bei der Stimme, die eigentlich nicht hier sein sollte, fuhr Brud herum. Sein gesamtes Fell sträubte sich. Erschrocken und fassungslos zugleich starrte er Anam an, der ihn genauso ungläubig anschaute. Sein Blick huschte zwischen Brud und Tila hin und her, die Augen weiteten sich.
»Was machst du hier?«, fuhr Brud ihn ohne nachzudenken an.
»Was ich hier mache?«, knurrte Anam. »Ich wollte meinem Bruder beim Heulfelsen Gesellschaft leisten! Die Frage ist eher, was ihr hier macht! Und worüber ihr redet! Tila? Eure Welpen?«
»Anam...« Die hellgraue Wölfin trat vor. »Es ist nicht so, wie es aussieht...«
»Wie es aussieht?« Er musterte sie von oben bis unten, drehte sich dann wortlos um und sprintete den Berghang hinunter in Richtung Lager.
»Anam! Warte!«, jaulte Brud ihm hinterher, doch es war nutzlos. Sein Bruder ignorierte ihn und rannte weiter.
»Beim Urwolf, was wird er tun?« Ein Hauch von Panik schwang in Tilas Stimme mit. »Wird er es Roc sagen? Wird er...«
»Wir müssen ihn aufhalten!« Ohne nachzudenken sprang Brud vom Heulfelsen auf einen anderen Stein und dann von dort auf den schrägen Berghang. Hinter sich hörte er Tilas Pfotenschritte, während er selbst so schnell er konnte zum Wald lief.
Ich werde ihn nicht einholen können, begriff er jedoch recht schnell. Er ist daran gewohnt, lange Strecken zu laufen und ich nicht! Hechelnd kam er im Lager an und konnte sich gerade noch rechtzeitig abbremsen, um nicht mit Anam zusammenzustoßen. Sein Bruder stand in der Mitte der Lichtung. Neben ihm Roc. Und um sie herum kamen die anderen Wölfe aus ihren Bauen und versammelten sich. Brud stellte sich schützend vor Tila, als sie hinter ihm ins Lager stolperte.
»Wie ist das zu verstehen?«, knurrte Roc und bleckte drohend die Zähne. Sein eines graues Auge war voller Hass, aber Brud wagte es nicht, seinem Blick auszuweichen. Als er nicht antwortete, wiederholte der Rudelführer seine Frage: »Wie ist das zu verstehen?« Wenn noch nicht alle Wölfe wach gewesen waren, so waren sie es jetzt. Von irgendwo drang das leise Jammern von Janis Welpen.
Brud wich nicht zurück, als Roc auf ihn zu kam. Der graue Wolf überragte ihn um fast einen Kopf. Sie standen jetzt so dicht, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Brud konnte den Gestank nach Blut und Fleisch aus seinem Maul riechen.
»Wie konntest du es wagen!«, brüllte Roc. »Du hast meine Gefährtin verführt! Ich hätte dich nie in meinem Rudel aufnehmen dürfen! Der Fluch des Mondes liegt auf dir!«
»Es tut mir leid, dass ich Tila verführt habe!«, winselte Brud in Panik. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Tila das Maul öffnete, um zu widersprechen, aber er redete einfach weiter. Wenn er selbst schon sterben musste, konnte er auch alle Schuld auf sich nehmen. Dann würde Tila wenigstens verschont werden. »Ich sehe ein, dass ich jede Strafe verdient habe!«
»Keine Strafe ist genug!«, brüllte Roc ihm direkt ins Gesicht, wobei Brud die Augen schloss und zusammenzuckte. »Du hast alles verdorben! Alles!« Der graue Wolf knurrte ihn an und bleckte wieder die Zähne, sagte jedoch nichts. Er schien nachzudenken.
Brud sah an dem Rudelführer vorbei zu Anam, der sich zu Sanda und Vulco gesellt hatte. Die Augen seiner anderen Geschwister waren voller Angst. Angst um ihn. Doch über Anams schwarzen Augen lag ein düsterer Schatten. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Er wirkte sogar zufrieden.
Warum hast du das getan, Bruder?, fragte Brud ihn in Gedanken und begriff gleichzeitig, dass diese Frage eigentlich unnötig war. Er möchte kein Kämpfer sein. Er hat es selbst gesagt. Indem er mich los wird, bekommt er die Chance, ein Heuler zu werden. Aber zu welchem Preis, Anam! Würdest du mich wirklich verraten? Natürlich würdest du das. Du hast es schon getan...
»Ich sollte dich töten«, knurrte Roc vor ihm.
Brud senkte den Kopf, blickte jedoch auf, als eine weitere Stimme ertönte.
»Der Tod ist nicht Strafe genug für sein Vergehen, Rudelführer«, bellte Sora. Die Seherin trat neben den großen Wolf und schaute nun ebenfalls auf Brud hinunter. »Verbanne ihn. Mach ihn zu einem Rudellosen, so wie sein Vater einer ist.«
»Und was ist mit Tila?«, fragte Roc mit unterdrücktem Zorn. »Und seinen Welpen?«
»Behalte sie hier«, sagte Sora emotionslos. »Sie haben zusammen gegen das Rudelgesetz verstoßen, aber sie sollen nie mehr zusammen sein. Der Urwolf wird über Tila entscheiden.«
Brud fuhr hoch. Er wusste nicht genau, was das bedeutete, konnte es sich aber denken. »Nein!«, jaulte er. »Nein, bitte! Töte mich, aber lass sie am Leben! Bitte! Ich flehe dich an! Bitte!«
Rocs Schlag schickte ihn zu Boden, wo er nach Luft schnappend liegen blieb. Er konnte Tila entsetzt aufjaulen hören, doch im nächsten Moment wurde sie von Tokun zurückgedrängt. Ihr herzzerreißendes Heulen verlor sich im Knurren der anderen Wölfe. Brud schaute hoch und blickte direkt in Rocs hasserfüllte Augen.
»Verschwinde von hier!«, grollte der Rudelführer. »Ich verstoße dich aus meinem Rudel! Wenn du morgen noch auf unserem Territorium bist, werden alle Wölfe die Erlaubnis haben, dich zu töten! Du bist hier nicht mehr willkommen!«
Brud kam schwankend auf die Beine und wollte den Kopf recken, um nochmal nach Tila zu schauen, aber Roc hob drohend die Pfote und fletschte die Zähne. »Hau ab!«
Er konnte gerade noch einen Blick auf Anam erhaschen, der sich mit gesträubtem Nackenfell seinen Geschwistern zugewandt hatte, doch dann drehte er sich um und rannte davon. Hinter sich hörte er das Schnappen von Zähnen und das Hecheln von Wölfen, die ihn verfolgten. Er flog förmlich über die festgetretene Erde und die knorrigen Wurzeln, bis er den Wald verließ. Dort wandte er sich in Richtung des Territoriums des Waldmoosrudels. Wenn er lange genug an der Grenze entlang lief, sollte er das Gebiet der Rudel verlassen können.
Die Geräusche seiner Verfolger waren schon lange verklungen, als es anfing zu regnen. Es kam ihm vor, als würde der Nachthimmel seinen Verlust beklagen. Kalt und nass. Fast zu Tode erschöpft suchte er Schutz zwischen den Wurzeln einer einsamen Eiche und schlief sofort ein.
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