(Nessellauf) I
Wenn der Nebel den Boden rot färbt, bleibt nur noch Asche.
Nebel. Boden. Stern. Rot. Blut.
Nessellauf kniff die Augen zusammen. Das durfte alles nicht wahr sein. Genau zwei Monde war es her, dass die Prophezeiung ausgesprochen wurde, und immer noch wirbelten die Worte in seinem Kopf herum. Jedes Mal schmeckte er Blut, wenn er sie hörte, und sah kristallblaue Augen vor sich. Nein.Verbittert schüttelte er den Kopf. Dieses Mal nicht. Entschlossen stemmte er sich aus seinem Farnnest. Der Sand, der den Boden der kleinen Felsspalte bedeckte, knirschte unter seinen Pfoten, als er die Schnauze aus seinem Unterschlupf streckte. Der Regen schüttete nur so. Angestrengt kniff Nessellauf die Augen zusammen. Eine Gestalt war zwischen den im Wind raschelnden Tannen aufgetaucht. Durch den beständigen Regen, der ihm allmählich in die Augen lief und seine Ohren betäubte, konnte er jedoch nichts weiteres erkennen. Die Gestalt kam immer näher – nach ein paar Augenblicken konnte er schwarzen Pelz ausmachen und schließlich quetschte sich eine kohlschwarze Kätzin an ihm vorbei und schüttelte sich angewidert.
»Tapferherz, was machst du hier?« Nessellauf zuckte unwillig mit den Ohren. »Ich sagte doch, ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Seine Wurfgefährtin fuhr herum. »Wir haben aber keine Zeit!«, fauchte sie. »Der Rat hat sie bereits versammelt! Verstehst du nicht? Es ist zu spät!« Nessellauf knurrte ungläubig. »Das meinst du nicht ernst, oder? Das kann Lichttau nicht machen.« »Das weißt du genau so gut wie ich.« Tapferherz schüttelte den Kopf. Einzelne, kristallene Tropfen hingen noch an ihren Schnurrhaaren. »Nessellauf, der Plan steht schon seit zwei Monden. Früher oder später musste es so kommen.« Nessellaufs Augen blitzten ärgerlich auf. »Sag mir nicht, dass du diesen fuchsherzigen Plan befürwortest!« Die Kätzin blickte zur Seite.
»Nein, natürlich nicht, es ist nur so...« »Es ist nur wie?! Dir ist es doch egal, dass Katzen sterben!« »Hey, jetzt hör mir zu, okay?! Natürlich befürworte ich den Plan nicht – es ist schrecklich! Aber letztes Mal gab es zu viele Opfer! Wir können das einfach nicht riskieren, verstehst du das nicht? Nicht schon wieder...« Schmerz glitzerte in ihren Augen. Nessellauf senkte den Kopf. »Du hast ja recht. Tut mir leid. Ich reagiere über.« Die schwarze Kätzin sah ihn mitleidig an, dann sah sie hinaus in den Sturm und ihre Miene verhärtete sich. »Gut, jetzt komm.«
Der Kater nickte und zwängte sich aus dem Eingang zu seinem Unterschlupf. Sofort benetzte der Regen seine Schnurrhaare und übergoss sein Fell. Er richtete die klaren, grünen Augen gen Himmel. Unaufhörlich fiel der Regen. Donner grollte in der Ferne. Seit Langem hatte der SternenClan keine solchen Unruhen mehr erlebt. Und das alles ist nur einer Katze geschuldet. »Hey, kommst du jetzt? In den Himmel starren kannst du auch später noch.« Beim Klang der Stimme seiner Wurfgefährtin schüttelte Nessellauf das klamme Gefühl, welches ihn beschlich, ab, und nickte der schwarzen Kätzin zu.
Wie auf ein geheimes Signal hin setzten sich beide rasch in Bewegung und erhöhten ihr Tempo, bis sie nebeneinander durch den verregneten Wald rannten. Nesselkralles Pfotenschritte ließen immer wieder Wasser aufspritzen. Über ihm rauschten die Baumwipfel. Der Sturmwind zerzauste sein Fell. »Wie wär's mit einem kleinen Wettrennen?« Tapferherz' grinste schelmisch, doch ihre Augen drückten noch immer Sorge aus. Nessellauf seufzte, dann lächelte er aber. »Klar, warum nicht.« Sofort beschleunigte die schlanke, schwarze Kätzin und verschwand hinter einem umgefallenen Baumstamm, doch Nessellauf ließ nicht lange auf sich warten. Kraftvoll stieß er sich vom Boden ab und rutschte beinahe auf der glitschigen Rinde aus, bevor er sein Gleichgewicht wiederfand und das Hindernis überwand. Der Kater legte die Ohren an und legte sich in die Kurve. Nur etwas weiter vorne konnte er schon den kohlschwarzen Pelz seiner Wurfgefährtin erkennen. Er legte noch etwas mehr Kraft in seine Sätze und bevor er sich versah, war er schon auf gleicher Höhe mit Tapferherz. Sie fauchte daraufhin spielerisch und stürzte sich auf ihn. Beide wälzten sich über den nass-laubigen Boden, bevor ihre Jagd in einer Pfütze endete. Wasser spritzte in alle Richtungen. »Brr«, machte Tapferherz und rappelte sich auf. Nessellauf lachte und schüttelte seinen nassen Pelz. »Kälte und Unwetter waren noch nie dein Ding, was?«, schnurrte er. »Nein«, die schwarze Kätzin schüttelte sich, »und sie werden es auch nie sein.« Der hellbraune Kater zuckte belustigt mit einem Ohr, bevor er sich wieder in Bewegung setzte.
Zusammen trabten sie durch das Unterholz. Der Regen, der schon seit Tagen, vielleicht Monden, wütete, erschwerte ihnen die Sicht und der Donner betäubte ihre Ohren, doch im Wald, den er schon seit vielen Blattwechseln sein Zuhause nannte, kannte sich Nessellauf aus. Die Bäume beugten sich über den alten Pfad, den sie schließlich einschlugen. Der nasse Kies knirschte unheilvoll unter ihren Pfoten. Nessellauf öffnete das Maul und sog die Geruchsspuren ein. Viele waren vom Regen verwischt worden, doch eine stach hervor.
»Lichttau«, murmelte Tapferherz, die das gleiche wie er entdeckt hatte, dunkel. Ärgerlich legte Nessellauf die Ohren an. »Du Fuchsherz!« Der schneeweiße Kater, der am Ende des Pfades saß, richtete seine honigfarbenen Augen auf die beiden. »Ich wusste du würdest es nicht verstehen.« »Was gibt's denn da nicht zu verstehen? Katzen werden sterben!« »Niemand wird sterben. Nun, niemand unschuldiges.« »Die Kätzin trägt keinerlei Schuld! Dennoch wird sie sterben! Natürlich wird sie sterben!«, fauchte Nessellauf. »Außer du glaubst im Ernst daran, dass sie sich an das Verbot halten werden. Diese Seelen sind Mörder!« Nüchtern begegnete Lichttau Nessellaufs stechendem Blick. »Sie mögen Mörder sein, doch auch sie haben Prinzipien.« Tapferherz neben ihrem Wurfgefährten schnaubte ungläubig. »Prinzipien? Das ich nicht lache!« »Hör mir doch mal zu!« Ärgerlich peitschte der weiße Kater mit seinem Schweif. »Wir können das nicht riskieren! Nicht nach dem Massaker, was er zuletzt angerichtet hat!« »Dieses Junge ist nicht er!«, presste Nessellauf zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Jetzt verteidigst du ihn auch noch?« Lichttaus honigfarbene Augen verengten sich. »Nein! Warum sollte ich?! Du hast recht – er war eine schreckliche Katze! Ein Mörder, ein Psychopath! Aber das rechtfertigt das hier noch lange nicht! Selbst der Himmel ist in Aufruhr, siehst du nicht? Niemand weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn ihr das hier nicht getan hättet.«
»Ja, und genau das ist der Punkt. Es hätte sich alles wiederholen können!«, fauchte Lichttau. »Aber es hätte auch anders kommen können!« »Oder eben nicht! Da sind zu viele ‚wenn's im Spiel!« Nessellauf schüttelte den Kopf. »Es ist wegen deiner Gefährtin, oder? Rache ist das einzige, was du willst! Schön, da hast du deine Rache! Aber lass mich aus dem Spiel! Ich habe hiermit nichts zu tun!« Schmerz durchfuhr die Augen des weißen Katers. Nessellauf schloss erschöpft die Augen. Er wollte nicht mehr diskutieren. »Ist ja auch egal. Jetzt ist es zu spät. Ich hoffe zu bist zufrieden mit dir.« Lichttau wandte den Kopf ab. »Nein, das bin ich nicht«, miaute er rau. »Und du hast ja recht. Es tut mir leid.«
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