Eine Täuschung
»Terra! Terra, warte!«, rief Hechtkralle ihr hinterher, während sie nur zu zweit durch den finsteren Wald stürmten. Wenigstens regnete es nicht mehr und der Himmel hatte ein Stück weit aufgeklart, aber trotzdem könnte sie jeden Moment über eine Wurzel stolpern.
»Lauf schneller!«, forderte sie ihren Gefährten auf.
»Du hast mir nicht mal richtig erklärt, warum wir uns von den anderen getrennt haben!«, keuchte er und schnaubte, als ein nasses Blatt ihm direkt ins Gesicht schlug. »Du hast Düsterer Mond doch gehört! Ein Verräter aus dem SchattenClan wird die zweite Katze der Macht hierher bringen! Wir müssen ihn aufhalten!«
»Hast du nicht daran gedacht, dass Düsterer Mond das absichtlich gesagt hat, um uns in die falsche Richtung zu schicken?«, fragte Terra im Laufen. »Wenn es wirklich einen Verräter im SchattenClan gibt, würde er dann wirklich versuchen, die Katze mit Gewalt zu den Wölfen zu bringen? Niemand kennt seine Identität und alle vertrauen ihm. Also könnte er die Katze einfach mit irgendeiner Ausrede weglocken. Wahrscheinlich hat er das auch schon lange gemacht.«
»Schon lange gemacht?«, fragte Hechtkralle entsetzt. »Das heißt, wir würde sowieso zu spät kommen? Aber warum hat Düsterer Mond uns dann gesagt, dass wir laufen sollen, um ihn aufzu...« Im selben Moment schien er es selbst zu begreifen. »Er wollte, dass wir hier bleiben, bis der Verräter die Katze der Macht weggeführt hat, und hat uns praktisch zurückgeschickt, als sie auf dem Weg hierher waren! Das heißt, der Verräter und die Katze der Macht sind schon irgendwo hier? Hier im Wald?«
»Richtig«, bestätigte Terra. »Düsterer Mond ist unser Feind. Und Feinden sollte man nicht trauen. Als er sagte, dass wir loslaufen sollen, um den Verräter aufzuhalten, hätten wir das nicht tun sollen! Das ist genau das, was er von uns gewollt hat! Warum sonst hätte er uns so einfach gehen lassen? Er hat uns nur so lange hier behalten, bis er sich sicher war, dass der Verräter und die Katze der Macht weit genug vom Lager des SchattenClans weg sind, sodass wir sie nicht mehr einholen können, wenn wir bemerken, dass wir zu spät sind.«
Sie zögerte kurz und miaute dann: »Fremdschatten hat einmal gesagt: ›Jeder Krieg beinhaltet Täuschung. Wenn du fähig bist, erscheine unfähig. Wenn du tätig bist, erscheine untätig. Wenn du in der Nähe angreifen willst, so täusche vor, dass du dich auf einen weiten Weg machst. Wenn du in der Ferne angreifen willst, mach die anderen glauben, dass du nur eine kurze Strecke zurücklegen wirst.‹«
»Ich wünschte, ich hätte Fremdschatten so lange gekannt wie du«, flüsterte Hechtkralle. »Er scheint sehr klug gewesen zu sein.«
»Ja. Ja, das war er.«
Terra wurde langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Der Himmel, der zwischen den Baumwipfeln über ihnen zu sehen war, war schon etwas heller geworden. Die Morgendämmerung brach langsam, aber stetig herein. Die gefleckte Kätzin sah sich um und witterte, versuchte, durch die Nässe des Regens hindurch SchattenClan-Geruch aufzuschnappen. Habe ich mich geirrt? Sind sie doch nicht hier im Wald?
Plötzlich stieß Hechtkralle sie von der Seite in einen Busch hinein und ging selbst in Deckung. Fragend sah sie ihn an und folgte seinem Blick schließlich nach oben. Undeutliche konnte sie die Gestalten dreier Katzen erkennen. Sie war sich sicher, dass eine von ihnen Schlamm im Pelz hatte, also zu Streifenmond gehörte, was ihre Theorie bezüglich dieser Treulosen bestätigte. Sie hatten sich wirklich den Verfolgern angeschlossen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Terra, wie die Katzen von Baum zu Baum sprangen, und wechselte dann einen Blick mit Hechtkralle. Er nickte. Offenbar waren diese Katzen auf dem Weg zum Verräter, um die Katze mit der Macht abzuholen und zu Düsterer Mond zu bringen. Sie mussten ihnen nur folgen.
So unauffällig sie konnten, huschten Terra und Hechtkralle aus dem Busch und hinter den Katzen her. Es war schwierig, mit ihnen mitzuhalten und gleichzeitig darauf zu achten, nicht von ihnen gesehen zu werden. Als eine der feindlichen Katzen den Stamm ihres Baumes runtersprang und auf dem Boden landete, versteckten Terra und Hechtkralle sich schnell hinter einer hoch aufragenden Wurzel.
»Und? Wo sind sie?«, hörte Terra die Stimme des Katers, der zuvor Käferblume am Boden gehalten hatte. Ihr fuhr ein Schauer über den Rücken. Wenn sie Harzjäger richtig verstanden hatte, war dieser Hirschbein ein Mörder. Man sah es ihm gar nicht an. Umso gefährlicher war er wohl.
»Bestimmt kommen sie gleich«, miaute jemand, den Terra nicht kannte. Sie lugte ein Stück über die Wurzel und entdeckte einen grau getigerten Kater, der nun ebenfalls am Boden angekommen war. Er schüttelte verärgert seinen nassen Pelz. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, über diese Bäume zu springen.«
»So schlimm ist das gar nicht«, meinte die dritte Katze im Bunde, die Kätzin mit dem schlammbedeckten Fell, die zu Streifenmond gehörte. Der Regen hatte einen Teil des Matsches weggewaschen, sodass ein Stück orangenes Fell mit dunkelbraunen Punkten zu sehen war. »Ich habe es auch innerhalb von nur einem Mond gelernt.«
»Nur, weil du nirgendwo sonst hingehen konntest«, erwiderte der grau getigerte Kater. »Hätten du und deine Freunde eure jammernde Anführerin und ihre zwei Jungen nicht getötet, hätten wir uns nicht mal angehört, was ihr zu sagen habt. Jetzt seid ihr aber Mörder. So wie Hirschbein und ich.«
Streifenmond und ihre Jungen sind tot?, schoss es Terra durch den Kopf. Ihre eigenen Krieger haben sie getötet, um sich den Verfolgern anschließen zu können? Beim SternenClan, warum gibt es so grausame Katzen!
»Mörder müssen halt zusammenhalten«, sagte die Kätzin gleichgültig. Auf einmal zuckten ihre Ohren und sie schaute in Richtung eines finsteren Gestrüpps. »Still. Ich höre was.«
Tatsächlich raschelte es kurz darauf. Im ersten Moment meinte Terra, es wäre irgendein Tier, das sie nicht kannte, aber dann erkannte sie, dass es die SchattenClan-Katze mit den schweren Verbrennungen war, die aus dem Busch heraus stolperte. Sie konnte offenbar nichts sehen, denn eine schwarz-weiße Kätzin führte sie. Auf ihrer Brust prangte eine auffällige, verkrustete Hautfläche, die Terra selbst bei dieser Entfernung und Dunkelheit sehen konnte.
»Kräuselpfote«, begrüßte Hirschbein sie mit einem Schnurren. »Du hast dich also daran erinnert, wem deine Treue gilt.«
»Ich möchte nur meine Macht wiederbekommen«, murmelte die SchattenClan-Schülerin.
Sie ist auch eine Katze der Macht? Terra riss überrascht die Augen auf. Nein, sie war es nur. Wurde sie ihr weggenommen? Etwa von dieser Jägerin, von der Ojiha erzählt hat? Ist sie also die Verräterin?
»Du kannst sie nicht wiederbekommen. Das habe ich dir doch schon hundert Mal gesagt«, fauchte Hirschbein verärgert. »Deine Mutter hat sie mit sich in den Tod genommen. Zusammen mit den anderen acht Mächten, die sie gesammelt hatte. Du musst warten, bis eine Katze mit deiner Macht wiedergeboren wird. Welche war das nochmal?«
»Die Macht des Lichts«, murmelte Kräuselpfote. »Jedenfalls eine davon. Es gibt ja zwei Katzen der Mächte, die Lügen spüren können.«
»Richtig.« Hirschbein zuckte mit den Ohren. »Dein Vater war der andere mit der Macht des Lichts. Zum Glück ist er gestorben, bevor er jemandem etwas von dem Plan deiner Mutter erzählen konnte.«
Kräuselpfote schwieg eine Weile mit gesenktem Kopf und fragte dann: »Was werdet ihr mit Ignis machen?«
»Aber das weißt du doch«, schnurrte Hirschbein. »Du hast es doch schon selbst durchgemacht. Ich sehe das Zeichen auf deiner Brust. Ich habe es auch.« Er hob eines seiner Vorderbeine, aber Terra konnte nicht sehen, was er der Schülerin zeigte. »Keine Sorge, seine Macht wird bei Düsterer Mond gut aufgehoben sein. Danach werden wir ihn aussetzen und du wirst ihn wieder zufällig finden.«
»Kräusel... pfote«, röchelte auf einmal der Kater mit den schweren Verbrennungen. »Warum... verrätst du mich wieder?«
»Wieder?«, fragte diesmal der grau getigerte Kater verwundert. »Was heißt hier ›wieder‹?«
»Weißt du nicht, wer dafür verantwortlich ist, dass damals so viele Katzen gestorben sind und unser Territorium zerstört worden ist?«, spottete Hirschbein. »Es war nicht nur die Auserwählte mit den neun Mächten. Es war auch ihre Tochter Kräuselpfote. Sie haben beide zusammengearbeitet.«
»Sie ist Schuld am Tod so vieler Katzen! Auch Katzen meines Clans!«, regte der grau getigerte Kater sich auf.
»Ist doch alles egal, Weidenstern«, meinte Hirschbein.
»Können wir vielleicht aufhören zu reden und den Krähenfraß einfach mitnehmen?«, stöhnte die schlammbedeckte Kätzin genervt. »Wir verschwenden zu viel Zeit.«
»Hast recht«, sagte Hirschbein und wandte sich Kräuselpfote zu. »Du kannst gehen. Wenn du erfährst, dass ein Junges mit einer Macht geboren wurde, sagst du uns wieder Bescheid, wie abgesprochen.«
Kräuselpfote nickte, warf Ignis noch einen letzten Blick zu und verschwand dann im Dickicht.
Weiß sie nicht, dass, wenn sie jetzt zurückkehrt, sie sich allen als Verräterin offenbaren wird?, dachte Terra. Machen die Verfolger das mit Absicht? Wollen sie sie vielleicht einfach nur loswerden? Eine schlimme Vorahnung stieg in ihr auf. Jetzt, da sie ihnen die zweite Katze der Macht gebracht hat, hat sie eigentlich keinen Nutzen mehr für Hirschbein und die anderen! Sie will ihre Macht zurück, aber sie werden sie Kräuselpfote garantiert nicht geben! Schließlich wollen sie sie für sich haben! Sie stockte. Kräuselpfote ist wirklich die Tochter dieser Jägerin, dieser Auserwählten, die jetzt tot ist? Wie konnte eine Mutter ihrem eigenen Kind solche Schmerzen bereiten?
»Komm, Krähenfraß, gehen wir«, befahl Hirschbein und stieß Ignis grob von der Seite an. Seine ohnehin schon schmalen, blauen Augen wurden zu Schlitzen, als der Kater sich nicht von der Stelle bewegte.
»Er will nicht«, stellte die schlammbedeckte Kätzin das Offensichtliche fest.
»Du willst nicht, ja?«, fragte Hirschbein und beugte sich zu dem verbrannten Kater hinab. »Warum willst du nicht, Ignis? Oder soll ich besser sagen Sternenpfote, der Wunderheiler?«
Terra sah, wie der Kater zusammenzuckte, woraufhin Hirschbein zufrieden mit dem Schwanz schnippte.
»Denkst du, Kräuselpfote hätte uns nicht gesagt, wen sie damals gerettet hat?«, machte er sich über Ignis lustig und nickte dann dem grau getigerten Kater, Weidenstern, auffordernd zu. »Komm, hilf mir, ihn von der Stelle zu bewegen.«
»Wir müssen etwas tun«, zischte Terra Hechtkralle zu. »Sie dürfen ihn nicht zu Düsterer Mond bringen!«
»Wer ist da?«, ertönte die Stimme der schlammbedeckten Kätzin plötzlich.
Fuchsdung! Ich hätte nicht reden sollen!
Terra wechselte einen Blick mit Hechtkralle, atmete tief durch und sprang dann mit ihm zusammen auf die Wurzel, hinter der sie sich zuvor versteckt hatten.
»Eure Feinde!«, schrie sie den versammelten Katzen entgegen, bevor sie sich ohne nachzudenken nach vorne stürzte. Sie hörte Hechtkralles Knurren neben sich und sah die überraschten Blicke der Verfolger, bevor ihre Krallen sich im schlammbedeckten Fell der Kätzin verhakten. Diese fauchte verärgert auf, während weiter rechts Weidenstern von Hechtkralle zu Boden gestoßen wurde.
»Haltet sie auf!«, rief Hirschbein.
Terra schaute gehetzt hoch und sah, wie der dunkelbraune, fast schwarze Kater Ignis grob am Nacken packte und davon zerrte. Wir müssen verhindern, dass er ihn zu Düsterer Mond bringt! Hätte ich doch nur noch jemandem vom WindClan Bescheid gesagt!
Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte die schlammbedeckte Kätzin aus, um Terra einen Schlag gegen den Kopf zu verpassen. Sie schnappte nach Luft und lockerte ihren Griff, wodurch ihre Gegnerin sich befreien konnte. Sofort wurde Terra angegriffen. Die Kätzin war unglaublich schnell und so gelenkig, dass sie kaum zu treffen war. Allerdings wurde sie auch schnell müde. Als Terra meinte, sie im nächsten Atemzug umwerfen und am Boden festnageln zu können, wich ihre Gegnerin jedoch zurück. Mit flinken Pfoten rannte sie auf einen Baum zu, kletterte den Stamm hoch und blickte von einem Ast fauchend auf sie hinab.
»Feigling!«, rief Terra zu ihr hoch. »Komm runter und kämpfe wie eine richtige Kriegerin!«
»Bloß nicht! Ich habe mein Ziel erreicht!«, behauptete die Kätzin und legte den Kopf schief. Neben ihr tauchte Weidenstern auf, der sich wohl auch von Hechtkralle losgerissen hatte, um auf den Baum zu fliehen. »Oder weißt du, in welche Richtung Hirschbein und Ignis gegangen sind?«
Terra sah sich um. Von den beiden war wirklich keine Spur zu sehen. Hechtkralle schaute sie genauso hilflos an.
»Wir sind so gnädig und lassen euch ohne schwere Verletzungen zu eurem Clan zurückkehren«, miaute die Kätzin von oben und peitschte mit ihrem langen Schweif. »Sonst sehen wir uns dazu gezwungen, einen der Wölfe zu holen.«
Terra unterdrückte ein Knurren. Welche andere Wahl haben wir? Wegen des Regens können wir keine Spur finden, der wir folgen könnten. Und die Kätzin und Weidenstern werden bestimmt nicht ein weiteres Mal zulassen, dass wir ihnen unbemerkt folgen. Sie werden eher uns folgen, um sicher zu sein, dass wir den Wald auch wirklich verlassen haben.
»Lasst uns wenigstens unsere toten Clan-Gefährten begraben!«, rief Hechtkralle zu den zwei Verfolgern hoch. »Brud und Weizenherz!«
»Meinetwegen«, schnaubte Weidenstern. »Aber wir werden euch beobachten. Kommt nicht auf dumme Gedanken und verlasst danach sofort den Wald.«
»Natürlich.«
Terra wechselte einen Blick mit ihrem Gefährten. Hat er einen Plan? Aber der blaugraue Kater schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Es ging also wirklich nur darum, Brud und Weizenherz zu begraben. Eine heftige Verzweiflung klammerte sich in ihr Herz. Aber was ist mit Ignis? Wir können doch nicht zulassen, dass Düsterer Mond ihm seine Macht nimmt! Der schlaffe Körper von Sonnenpfote ging ihr nicht aus dem Kopf. Was haben sie nur mit ihm gemacht?
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Na, wer hat die Referenz zu »Die Kunst des Krieges« erkannt? O.o
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