Eine Erklärung
Wolfstern wunderte sich immer wieder darüber, wie schlecht Katzen, die nicht aus dem ErdClan kamen, im Dunkeln sehen konnten. Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt und schon musste sie langsamer laufen, damit der DonnerClan auch wirklich mitkam. Natürlich konnten sie immer noch alles sehen, aber sie waren es einfach nicht gewohnt, zu so einer Zeit irgendwo hin zu gehen. Außer vielleicht auf Nachtpatrouille, aber die Grenzen kannte man sowieso auswendig. Sie vertrauten ihren Sinnen nicht voll und ganz. Fürchteten, auf irgendwas zu treten, was sie möglicherweise übersehen hatten.
Endlich teilten die gelben Halme sich und sie trat mit ihren Clan-Gefährten hinaus. Vor ihnen stand eine hohe Eiche und dahinter lag eine weite Wiese, die am Rand eines dunklen Waldes endete. Dort verstecken sich also unsere Feinde.
»Der WindClan wird auch bald kommen«, miaute Ojiha ihr zu. Der Vogel zwischen seinen Schulterblättern flatterte zustimmend mit den Flügeln, während der mattgrau getigerte Kater zu Windstern und Harzjäger eilte, die bereits zusammenstanden und offenbar etwas besprachen. Der Rest des SchattenClans schaute verängstigt in Richtung des Waldes.
»Denkst du, sie werden uns sagen, wer genau unsere Verfolger sind?«, flüsterte Löwenmut ihr zu.
»Vielleicht wenn der WindClan da ist«, antwortete Wolfstern und wartete geduldig, was die DonnerClan-Krieger auch taten.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Löwenmut von einer Katze zur anderen ging und sich vergewisserte, dass jede von ihnen wusste, was auf sie zukommen würde. Wolfstern hatte ihn gestern erst zu ihrem Stellvertreter ernannt. Er war nicht die erste Wahl gewesen, aber er war besser als so einige andere Katzen, die in Frage kämen. Außerdem war er neben Vogelnase der Krieger gewesen, den der BlitzClan als Anführer des DonnerClans vorgeschlagen hatten, bevor die Wahl letztendlich auf sie selbst gefallen war. Die Katzen vertrauten ihm.
Sie hatte auch den Ratschlag von Weises Reh befolgt und ihren Clan-Gefährten angeboten, sich einen richtigen Clan-Namen auszusuchen. Das hatten tatsächlich alle getan. Die meisten hatten ihren vorherigen Namen nur verlängert, aber einige hatten ihn auch ganz verändert. Der Renner hatte sich zum Beispiel in Weißwind umbenannt, was sich ihrer Meinung nach viel schöner anhörte. Und die Getigerte... Ihr Name war jetzt Tigerblume. Zum Glück habe ich sie im Lager zurückgelassen. Ich könnte mich nicht konzentrieren, wenn sie mit mir kämpft und ich die ganze Zeit aufpassen müsste, dass ihr nichts passiert.
Endlich bewegten sich die Halme erneut und kündigten das Eintreffen des WindClans an. Schattenstern und eine dunkelbraune Kätzin des SchattenClans, deren Name, wenn sie sich richtig erinnerte, Käferblume war, gingen vorne. Dunkelherz ist nicht dabei. Gut. Sonst könnte ihm ein kleiner Unfall während des Kampfes zustoßen. Er ist Schuld an Luchsohrs Tod.
Kurz darauf traten Windstern und Harzjäger zu ihnen. Die restlichen SchattenClan-Katzen blieben zwar im Hintergrund, waren aber noch nah genug, um alles mitzuhören.
»Ich danke euch, dass ihr wirklich gekommen seid«, begrüßte Windstern sie. »Gerade noch rechtzeitig.«
»Rechtzeitig.« Wolfstern schaute den gefleckten Kater misstrauisch an. »Natürlich sind wir rechtzeitig. Ein Versprechen wird nicht gebrochen. Es wäre trotzdem nett, wenn du uns sagen würdest, wer diese Verfolger im Wald dort hinten überhaupt sind und woher du weißt, dass sie diese Nacht angreifen werden.« Sie deutete auf Ojiha. »Ich habe die Hälfte von dem, was er gefaselt hat, nicht verstanden.«
»Die Verfolger, wie wir sie nennen, sind nicht nur Katzen«, sagte Windstern und warf einen flüchtigen Blick auf Brud, den er anscheinend erst jetzt zu bemerken schien. Der Wolf hatte sich zuvor noch zwischen den Halmen versteckt, richtete sich jetzt jedoch auf. Mit der untergehenden Sonne im Rücken warf er einen gigantischen Schatten in ihre Richtung. »Es sind auch Bestien von seiner Sorte dabei.«
»Wölfe?«, fragte Schattenstern verwundert. »Das erklärt so einiges. Als Sprenkelpfote und ich Brud geholt haben, haben wir und seine Freunde ein seltsames Geheul gehört. Das muss aus eurer Richtung gekommen sein.« Sie wandte sich an den grauen Wolf hinter ihr. »Weißt du etwas davon?«
»Wollen Macht«, bellte Brud und schüttelte das buschige Nackenfell.
»Ihr wisst davon?«, fragte Ojiha auf einmal.
»Du weißt davon, also erzählst du es uns jetzt«, forderte Wolfstern. »Dann müssen wir uns nicht aus den wenigen Worten, die Brud in unserer Sprache kennt, zusammenbasteln, was er eigentlich meint.« Sie erinnerte sich, dass Weises Reh ihr schonmal von irgendwelchen zwölf Mächten erzählt hatte, aber die Heilerin schien selbst nicht verstanden zu haben, wovon sie da redete.
»Die zwölf Mächte«, hob Ojiha an und setzte sich, wobei der Vogel von seinen Schultern auf den Platz zwischen seinen Ohren flog, »sind besondere Fähigkeiten, die eine Katze haben kann. Es sind Schatten und Licht, Gestern und Morgen, Feuer und Wasser, Erde und Luft und Sonne und Mond im Licht der Sterne.«
Wolfstern setzte sich ebenfalls, um besser zuhören zu können. Das kann jetzt bestimmt länger dauern. Sie verließ sich darauf, dass es trotzdem Katzen gab, die den Waldrand im Auge behielten. Wenn es aber wirklich Wölfe waren, die dort lauerten, würden sie wahrscheinlich eher hören als sehen, wann die Verfolger ihren Angriff begannen.
»Der SternenClan hat diese zwölf Mächte einst gleichmäßig unter den Clans verteilt«, fuhr der Schamane fort. »Wenn eine Katze, die eine der Mächte besaß, starb, wurde sie im SternenClan erneut getötet, um so schnell wie möglich wiedergeboren zu werden. So funktioniert das mit den Wiedergeburten.«
Wolfstern blinzelte verwirrt und bemerkte überrascht, dass Schattenstern nickte. Natürlich. Sie weiß Bescheid.
»So existierten die Mächte immer weiter. Von Generation zu Generation. Irgendwann erkannten einige der Katzen jedoch, dass diese Mächte auch für anderes eingesetzt werden konnten als nur den Frieden und das Gleichgewicht zu bewahren. Sie fingen an, die Katzen der Mächte zu jagen, um ihnen ihre Fähigkeiten zu nehmen oder sie so zu manipulieren, dass sie Schreckliches damit taten. Der SternenClan konnte das nicht länger mit ansehen und bat die Katze mit der Macht des Wassers darum, die Erinnerung aller Katzen an diese zwölf Mächte auszulöschen. So gerieten sie also in Vergessenheit und die Jagd auf die Mächte hörte auf.
Doch manchmal passiert es, dass eine Katze die Erinnerungen ihrer früheren Geburt sieht und sogar zwischen ihren Wiedergeburten wechseln kann. Das ist äußerst selten und wir wissen immer noch nicht, wie diese Katzen das bewerkstelligen.«
»Wer ist ›wir‹?«, fragte auf einmal Efeubein aus den Reihen der WindClan-Katzen.
Ojiha wirkte etwas ertappt, rettete sich jedoch mit einem leichten Zucken seiner Schnurrhaare und meinte: »Nimm einfach an, dass ich damit den SternenClan und mich meine.«
»Nimm an...«, schnaubte der dunkelbraune Kater, schwieg aber und hörte weiter zu.
»Jedenfalls gab es unter den Katzen des SchattenClans eine, die die Erinnerung ihrer vorherigen Geburt wiedererlangt hat. Von einer, die vor einer so langen Zeit lebte, dass die zwölf Mächte ihr natürlich bekannt waren. Diese Kätzin beschloss, die anderen elf Katzen der Mächte zu jagen und ihnen ihre Fähigkeiten wegzunehmen. Eine nach der anderen fand sie sie und überredete oder zwang sie dazu, ihr ihre Macht zu überlassen. Sie konnte insgesamt acht Mächte stehlen. Eine besaß sie selbst. Als sie starb, nahm sie also neun der zwölf Mächte mit sich in den Tod. Was mit den letzten drei passiert ist, kann ich nicht sagen. Nur, dass mindestens eine von ihnen sich unter den SchattenClan-Katzen befindet.
Die Verfolger bestehen aus einer Gruppe von Katzen, die auch von den Mächten wissen. Einer von ihnen war der Gefährte der Jägerin, den sie umgarnt hat, um dann seine Macht zu stehlen. Andere haben sich ihm angeschlossen, als sie erfahren haben, welche Möglichkeiten sich ihnen bieten würden, wenn sie wenigstens eine der verbleibenden Mächte in die Krallen bekommen könnten.
Angeführt werden die Verfolger aber von diesen Bestien, den Wölfen. Der stärkste von ihnen heißt Düsterer Mond. Er weiß offenbar auch von den Mächten und möchte sie für sich haben. Ihr erkennt ihn leicht an seinem schwarzen Fell und einem sichelförmigen, weißen Fleck auf seiner Stirn. Wenn er euch angreift, solltet ihr besser fliehen statt sich ihm entgegen zu stellen. Dasselbe gilt für seine Gefährtin Dämmriger Himmel.«
»Also sind eure Verfolger hinter einer Katze her, die eine der zwölf Mächte besitzt?«, fasste Hechtkralle zusammen. Er stand neben Schattenstern. Wahrscheinlich hatte sie ihn zu ihrem neuen Stellvertreter ernannt. Nach Luchsohrs Tod...
»So ist es«, bestätigte Ojiha.
»Warum liefert ihr sie nicht einfach aus?«, zischte Vogelnase von weiter hinten. »Dann hätten sie, was sie wollen und würden euch in Ruhe lassen.«
Wie gut, dass ich nicht sie zur zweiten Anführerin ernannt habe, dachte Wolfstern und fuhr zu ihr herum. »Deine Denkweise ist mir so fremd wie ein Fisch dem Himmel. Wenn du an der Stelle dieser Katze wärst, würdest du es toll finden, wenn deine Clan-Gefährten dich opfern statt dich zu verteidigen?«
»Ich würde mein Leben freiwillig geben, wenn das meine Clan-Gefährten rettet«, fauchte Vogelnase.
»Wir wissen sowieso nicht, wer diese Katze ist«, unterbrach Ojiha ihre Auseinandersetzung. »Und selbst wenn wir es wüssten, können wir nicht zulassen, dass eine Macht an diese Katzen oder Wölfe gerät. Die Mächte müssen immer bei den Katzen bleiben, denen sie gehört.«
»Und was ist dann mit dieser Jägerin?«, fragte Blumenduft aus den Reihen der DonnerClan-Katzen heraus. »Sie ist zusammen mit den neun Mächten gestorben. Sind sie jetzt für immer verloren? Schließlich leben einige Katzen, denen sie sie abgenommen hat, offenbar noch.«
»Wenn die Zeit kommt, werden wir den Katzen ihre rechtmäßige Macht zurückgeben«, erklärte Ojiha geduldig.
Ich nehme an, mit ›wir‹ sollen wieder er und der SternenClan gemeint sein, dachte Wolfstern. Irgendwas verbirgt er. Aber was? Wenigstens hilft er uns. Das kann nur bedeuten, dass er auf unserer Seite steht.
»Habt ihr denn nicht versucht, herauszufinden, wer unter euch die Katze mit der Macht ist?«, fragte Schattenstern nun.
»Ehrlich gesagt hören wir das alles gerade auch zum ersten Mal!«, rief ein junger SchattenClan-Kater mit ungewöhnlich türkisen Augen ihnen zu. »Ojiha bespricht sich immer nur mit Windstern und Harzjäger!«
»Das stimmt«, bestätigte der Anführer des SchattenClans. »Wir sind uns nicht sicher, ob es unter uns vielleicht einen Verräter gibt. Sollte rauskommen, wer die Katze mit der Macht ist, kann es sehr schnell passieren, dass der Verräter sie ausliefert.«
Ein Verräter... Wolfstern musste direkt an Dunkelherz denken, konzentrierte sich aber schnell wieder auf das Gespräch. Mittlerweile waren die letzten Strahlen der Sonne hinter dem Horizont verschwunden und ein unheimlicher Schatten hatte sich über die Landschaft gelegt. Der Großteil der Sterne wurde von dicken Wolken verdeckt. Bitte lass es gleich nicht regnen...
»Aber die Verfolger scheinen es doch trotzdem irgendwie herausgefunden zu haben«, meinte Rosendorn schnippisch.
»Das können wir uns auch nicht erklären«, miaute Windstern. Sein Blick wanderte besorgt in Richtung Wald. Seit die Sonne untergegangen war, war der ganze SchattenClan zunehmend nervöser geworden.
»Sie kommen«, sagte auf einmal eine gelbbraune Kätzin mit weißen Beinen, die am weitesten vom Stamm der Eiche entfernt stand und die ganze Zeit in die Dunkelheit gestarrt hatte. Ihre Stimme war ruhig, viel zu ruhig. Es hörte sich an, als hätte sie irgendwas akzeptiert, was ihr bereits alle Gefühle geraubt hatte.
»Sie kommen«, wiederholte Windstern und seufzte. »Denkt daran, was ich euch über Düsterer Mond und Dämmriger Himmel gesagt habe. Und noch eins...« Er wandte sich den DonnerClan- und WindClan-Kriegern ein letztes Mal direkt zu. »Was auch immer ihr tut, betretet auf keinen Fall den Wald. Die Wölfe kennen sich dort bestens aus und die Katzen, die sie begleiten, können auf Bäume klettern und euch von oben aus angreifen. Sie kennen keine Gnade.«
Seine letzten Worte gingen in einem langgezogenen Heulen unter. Im schwachen Licht des Mondes, der gerade noch so durch die Wolken schien, sah Wolfstern mehrere dunkle Schatten über die Wiese schreiten. Ganz vorne leuchtete ein heller, sichelförmiger Fleck.
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