Ein Nachthimmel
Es war schon wieder tiefe Nacht, als Wolfstern aufwachte. Der ganze letzte Tag hatte mehr an ihren Kräften gezehrt als sie zunächst angenommen hatte. Sobald sie im Lager angekommen war, hatte sie darauf geachtet, dass die Verletzten versorgt wurden, bevor sie sich völlig übermüdet in den Anführerbau geschleppt hatte und eingeschlafen war. Offenbar war es den meisten Katzen so ergangen.
Als sie durch die Halme auf die Lichtung trat, war sie fast vollkommen leer. Nur auf einem verzweigten Ast des Stockes, der den Eingang markierte, war die Silhouette einer Katze zu erkennen, die Nachtwache hielt.
Ich habe ganz vergessen, jemanden aufzustellen, fiel ihr siedend heiß ein. Hat Löwenmut das für mich gemacht? Dann wäre er bestimmt ein viel besserer Anführer als ich...
Kurz fiel ihr Blick in Richtung des Heilerbaus. Dort kämpfte Fliegenschatten immer noch um sein Leben. Irgendwie machte es sie traurig, dass er gerade erst seinen Kriegernamen bekommen hatte und jetzt schon so schwer verletzt worden war. Weises Reh, seine Mutter Nachtrabe und seine Schwester Eichelpfote wichen nicht von seiner Seite, während Sprenkelpfote nach einem Streit mit Schattenstern doch noch mit dem WindClan zum eigenen Lager hinter dem Fluss zurückgekehrt war. Alle vier der Kätzinnen waren der vollen Überzeugung, dass Sternenpfote Fliegenschatten heilen könnte, und warteten darauf, dass die Gruppe von Katzen, die sie nach ihm losgeschickt hatten, zurückkehrte. Nur war keine von ihnen bisher aufgetaucht.
Seufzend trabte Wolfstern hinüber zum verzweigten Stock. Vielleicht könnte sie sich etwas auf andere Gedanken bringen, wenn sie etwas frische Luft außerhalb des Lagers schnappte. Doch als sie der Katze, die Wache hielt, Bescheid sagen wollte, verschluckte sie sich und fing an zu husten.
»Wolfstern?« Tigerblume drehte sich zu ihr um, stand auf und sprang auf einen breiteren Ast, bevor sie mit dem Schweif einladend auf den freien Platz neben sich deutete. »Ich dachte, du würdest noch länger schlafen. Wenn du möchtest, kannst du dich zu mir setzen.«
»Ich habe dich nicht zur Nachtwache aufgestellt«, miaute Wolfstern und schimpfte gleich darauf innerlich mit sich selbst. Warum hast du das gesagt? Es hört sich an wie ein Vorwurf! Mäusehirn!
Tigerblume legte nur leicht den Kopf schief. »Ich habe mich selbst aufgestellt. Ihr wart alle so müde. Du kannst aber später sagen, dass du es mir aufgetragen hast. Dann sieht es nicht so aus, als hättest du es vergessen.«
Wolfstern war damit überfordert, ihr Schnurren und ihr Herzpochen gleichzeitig zu unterdrücken, sodass letztendlich nur ein heiseres »Danke« herauskam. Als die getigerte Kätzin erneut auf den leeren Platz neben sich deutete, riss Wolfstern sich zusammen und sprang geschickt die Zweige hoch, bis sie bei ihr war. Für einen kurzen Moment verlor sie sich in diesen klugen, dunkelblauen Augen, bevor sie sich schnell abwandte.
Warum, SternenClan? Warum bin ich so nervös!
»Es freut mich, dass du unverletzt bist«, miaute Tigerblume. »Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Wolfsterns Herz setzte fast einen Schlag aus. »Es war ein harter Kampf«, presste sie schließlich heraus. »Düsterer Mond ist ein Gegner, den man nicht unterschätzen darf. Ich hoffe, dass Hasensturm, Kiefernblut und die anderen wohlbehalten wieder zurückkehren.«
»Das werden sie bestimmt.« Tigerblume zögerte kurz. »Weißt du, warum Nachtrabe, Eichelpfote und Weises Reh denken, dass dieser Sternenpfote Fliegenschatten heilen kann?«
»Sternenpfote ist auch eine Katze der Macht«, erklärte Wolfstern. »Vielleicht hat er irgendeine Gabe, mit der er ihn heilen kann. Ich frage mich aber, ob er das überhaupt tun wird. Und ob die anderen es schaffen, ihn zu retten. Das weiß nur der SternenClan.«
»Der SternenClan«, sagte Tigerblume nachdenklich und schaute hoch zum Himmel, wo der Mond halb hinter dunklen Wolken verborgen war. »Ich habe mich immer gefragt, ob es stimmt, was Schattenstern immer behauptet hat. Dass es ihn wirklich gibt.«
»Natürlich gibt es ihn. Ich habe meine neun Leben von ihm bekommen und nach dem Kampf gegen Funkenstern ist eine SternenClan-Katze aufgetaucht, um seine Strafe zu verkünden.«
»Ich war da nicht dabei«, erinnerte Tigerblume sie. »Aber ich glaube dir.«
Wolfstern schaute sie von der Seite her an und sah dann mit ihr zusammen zum Nachthimmel hoch. »Ich glaube daran, dass jeder dieser Sterne ein gefallener Krieger ist. Einer unserer Ahnen. Und sie wachen über uns.« Luchsohr ist jetzt bei ihnen. So viele sind bei ihnen!
»Ist der Große Stern auch dort oben? Schaut er uns auch zu?«
Aus irgendeinem Grund fühlte Wolfstern einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Als hätte jemand ihr die Krallen tief ins Fleisch gebohrt. »Ich denke nicht. Er hat nicht an den SternenClan geglaubt.«
»Ist es nicht egal, ob jemand an den SternenClan glaubt oder nicht?«, fragte Tigerblume. »Wachen die toten Krieger nicht über alle Katzen? Warum dürfen sich ihnen dann nur ganz bestimmte anschließen?«
Wolfstern kannte die Antwort darauf nicht und wollte ehrlich gesagt auch nicht darauf antworten. »Warum möchtest du das wissen?«, miaute sie zögernd. »Möchtest du den Großen Stern so sehr wiedersehen?«
Tigerblume schwieg, sah nur weiterhin zum halbbedeckten Mond.
»Hast du ihn geliebt?«, fragte Wolfstern mit klopfendem Herz.
»Er ist der Vater meiner Tochter.«
Das ist keine Antwort! Aber sie sah, dass es keinen Sinn hatte, weiter auf eine klare Aussage zu drängen. Es reichte ihr vollkommen, einfach in Tigerblumes Nähe zu sein und Zeit mit ihr zu verbringen. Nur ihre Stimme zu hören schenkte ihr schon etwas Trost. Sie hätte mich auch ignorieren können, aber sie hat mich auf den Ast eingeladen und jetzt schauen wir uns zusammen den Nachthimmel an.
»Hast du Luchsohr geliebt?«, fragte die getigerte Kätzin auf einmal.
Wolfstern blinzelte überrascht. Sei ehrlich, sei ehrlich, sei ehrlich, pochte es in ihrem Kopf. Aber wenn ihr ehrlich antworte, was wird sie dann denken? Was wenn sie... Und wenn nicht, dann...
»Natürlich hast du ihn geliebt. Man hat es gemerkt«, nahm Tigerblume ihr die Entscheidung über die richtige Antwort ab. »Es tut mir leid, dass er gestorben ist. Aber bestimmt schaut er dir jetzt vom SternenClan aus auch zu.«
Wolfstern zuckte gequält mit den Schnurrhaaren. »Bestimmt.« Sie sog scharf die Luft ein, als Tigerblume sich plötzlich zu ihr hinüber lehnte und sie mit der Nase anstupste.
»Du denkst zu viel nach«, schnurrte sie belustigt. »Das brauchst du gar nicht. Du kannst mir vertrauen. Wir sind doch Freunde.«
Freunde? Wolfstern versuchte, den Schmerz in ihrer Brust zu unterdrücken, was ihr aber nicht gelang. Als das Schweigen sich zu sehr in die Länge zog, zwang sie sich ebenfalls zu einem Schnurren und meinte: »Ja. Ich bin froh, dass wir Freunde sind.«
Gerade wollte sie noch hinzufügen, dass sie jetzt wahrscheinlich besser zurück in ihren Bau gehen und noch eine Runde schlafen sollte, als Tigerblumes Ohren auf einmal zuckten. Ihr Blick richtete sich auf einen Teil der Halme, der sich leicht hin und her bewegte.
»Da ist jemand«, flüsterte sie.
Im nächsten Moment tauchte eine dunkle Gestalt auf der freien Fläche vor dem Stock auf, auf dem die beiden Kätzinnen saßen. Hasensturm. Hinter ihm erschienen weitere Katzen. Wolfstern zählte durch. Insgesamt sieben. Die Gruppe war zurückgekehrt und hatte es also wirklich geschafft, Sternenpfote zu retten. Nur warum kommen sie zuerst zum DonnerClan? Sie wechselte einen fragenden Blick mit Tigerblume, bevor sie hinab sprang und die Neuankömmlinge persönlich begrüßte.
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Lied zum Kapitel: End of Silence - Blood Moon (feat. Alexa Ray)
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