34. Kapitel
»Dachspfote, das war eine ganz dumme Idee.« Zweigpfote schüttelte abermals den Kopf. »Ganz dumm.« Doch sein Bruder zischte ihm bloß leise zu, er sollte leise sein. Zweigpfote jedoch wusste nicht, ob das etwas helfen würde. Sein Herz schlug wie verrückt, so laut, dass man es hören musste. Zudem zitterte er und schaute die ganze Zeit um sich herum, sodass er sich nicht darauf achtete, ob er auf einen Zweig oder in diese eklige schwarze Masse stand, von der es bis gerade eben noch so gewimmelt hatte. Jetzt war sie nur noch vereinzelt zu sehen.
Dachspfote schlich mit leisen Pfoten neugierig durch das Unterholz. Die beiden hatten zugesehen, wie Lichttraum die Katzen in den Wald der Finsternis gebracht hatte. Aus lauter Neugierde sind die beiden Kater an die Stelle geschlichen, an der die Katzen eingeschlafen waren. Kaum waren sie an etwas Kaltes gestoßen, hatte sie die Müdigkeit überrumpelt; die Katzen waren im finsteren Wald aufgewacht. Nun suchten die beiden nach den anderen – oder nach einem Ausgang.
Plötzlich, in dieser bedrückenden Stille, drangen Stimmen zu den beiden hinüber. Alarmiert setzte sich Zweigpfote gerader auf und unterdrückte ein verzweifeltes Aufjaulen. Die Stimmen waren nah, und sie stritten sich offensichtlich. Ein paar klangen bekannt, andere jedoch kalt und düster. Katzen des finsteren Waldes. Dann erklang ein Fauchen und gleich darauf ein Jaulen. Zweigpfote ahnte, dass sie angefangen hatten, zu kämpfen.
Zweigpfote tauschte einen Blick mit seinem Bruder. Als hätten sie sich in Gedanken abgesprochen, wurden sie langsamer und schauten sich vorsichtig um. Zwischen zwei Bäumen hindurchblickend entdeckten sie sie; mehr Katzen, als Zweigpfote erwartet hatte, befanden sich vor dem Eingang, von dem Heideschatten erzählt hatte. Jedoch war dieser gar nicht mehr von Wurzeln bedeckt, sondern leuchtete wie der Vollmond am dunklen Nachthimmel. Das Licht war weiss und grell und hätte eigentlich gereicht, einen Teil des finsteren Waldes zu beleuchten, doch es drang kaum aus dem Durchgang heraus; nach wenigen Fuchslängen herrschte wieder das gewohnte Zwielicht.
Die Katzen war zu sehr damit beschäftigt, sich anzufauchen und die Clankatzen zu vertreiben, sodass sie die beiden Schüler nicht bemerkten, die sich oben am Hang befanden und das Ganze mitbeobachteten. Zweigpfote spürte, wie sich Dachspfote neben ihm verkrampfte. Er wollte bestimmt helfen. Hoffentlich war er klug genug, einzusehen, dass er als Schüler wenig anrichten konnte. Warum waren sie überhaupt gekommen? Zweigpfote fluchte leise vor sich hin.
»Es braucht zwei Katzen, um den Durchgang zugänglich zu machen.«, miaute plötzlich eine wohlbekannte Stimme. Sie war den beiden Katern näher als die anderen Katzen, irgendwo neben ihnen. Instinktiv drückte Zweigpfote sich tiefer in die trockene Erde. »Wenn nicht, dann drei.«
Kurz war Zweigpfote überfordert. Er war hier gut versteckt, nicht zu nah an den fauchenden Katzen vor ihnen, trotzdem klopfte sein Herz wie wild. Dachspfote schien es ähnlich zu gehen. Er drehte sich um, mit verwirrter Miene, die Ohren gespitzt. »Halbmondlicht«, flüsterte er, so leise, dass Zweigpfote ihn beinahe nicht gehört hätte. Er würde trotzdem wissen, wer vorher gesprochen hatte. Er würde Halbmondlichts Stimme überall erkennen.
»Wolltest du Weißdistel auch überzeugen? Dass er dir hilft?«, fauchte eine andere Stimme. Diese hätte Zweigpfote hingegen fast nicht erkannt, da sie so brüchig und verletzt klang, wie er sie noch nie gehört hatte. Lichttraum. »Dann ist es deine Schuld, dass er starb?« Zweigpfote zuckte synchron mit Dachspfote zusammen. Lichttraums Stimme war nun mehr ein Schreien. Eine der Katzen des finsteren Waldes fuhr herum, richtete den Blick irgendwo weiter von den Schülern entfernt, die sofort die Luft anhielten, als der Blick der Katze ihr Versteck streifte.
»Du verstehst das nicht...« Halbmondlichts Stimme war ruhig, doch sie hatte einen verzweifelten Unterton, einen, der Zweigpfote noch nie bei ihr gehört hatte. So, als würde sie sich selbst von einer eigenen Lüge überzeugen wollen. Am liebsten wäre er zu ihnen gerannt und hätte gesagt, dass die anderen sie gerade brauchten. Doch dann kam schlagartig die Erinnerung zurück, als Heideschatten von der Vision berichtete. Zweigpfote versuchte den Gedanken daran zu ersticken, Halbmondlicht wäre eine Verräterin. Das war nicht möglich.
Ein plötzliches Jaulen erinnerte Zweigpfote abrupt daran, wo er sich befand. Ein große Schildpattkätzin mit einer langen Narbe an der Flanke und Augen, die wie Feuer glühten, glitt durch die Menge. »Was ist hier los?« Ihr Blick war suchend. »Woher kommen diese Katzen, Halbmondlicht?« Die Menge der Katzen wich zurück, als sei sie eine Flamme und alle, die sich ihr näherten, würden an ihr verbrennen.
Mit aufgerissenen Augen sah Zweigpfote, wie sie den Hang hinunterkam, mit festem Blick. Halbmondlicht, die Augen auf die Schildpattkatze gerichtet. Sie ignorierte das Geflüster und Raunen der anderen. Der Katzen des finsteren Waldes, die sie bereits kennen mussten, so, wie sie sie ansahen. Doch besonders achtete sie darauf, nicht zu den Clankatzen zu schauen, die sich mit müden Augen vor dem Durchgang aufgestellt hatten, in der Hoffnung, die Katzen davon abhalten zu können, hindurch zu gelangen. »Jemand muss sie hierhergeführt haben, um dich von dem Plan abzuhalten.«, erklärte Halbmondlicht. Zweigpfote sah sich nach Lichttraum um, doch sie hielt sich noch versteckt.
Die Katzen des finsteren Waldes zogen sich lautlos zurück, standen mit unerklärlichen Mienen am Rande, dort, wo der Hang ansetzte. Die Clankatzen tauschten Blicke. Keine von ihnen wusste, was los war. »Schmetterlingsschatten... Immer denkt sie, sie ist schlauer als ich.« Die Schildpattkatze schnaubte, dann fiel ihr Blick auf Heideschatten, die mit wildem Blick an Front der Clankatzen stand. Zweigpfote musste an Halbmondlichts Worte denken. Zwei Katzen, wenn nicht drei, die das Licht entfernen mussten, um... ja, warum? In Zweigpfotes Kopf befand sich eine riesige Lücke.
»Ist sie das?« Die Katze mit dem Feuer in den Augen wandte sich erneut an Halbmondlicht. »Da du es allein nicht schaffen kannst.« Sie klang abschätzig, was Wut in Zweigpfote hervorrief. Wer war diese Kätzin? Und was erlaubte sie sich?
»Oh, und euch kenne ich auch schon.« Die Schildpattkatze schien es genießen, ihren Monolog zu führen. Überraschenderweise wandte sie sich an Rosenfluch und Rotkehlchenflügel, die in Kampfhaltung nebeneinanderstanden. Sie tauschten vielsagende Blicke, die Zweigpfote nicht deuten konnte. Er zwang sich, nicht zu sehr darüber nachzudenken. »Ihr seid wohl hier, um zu kämpfen.«
Halbmondlicht sah zwischen den beiden Seiten hin und her, als müsste sie sich entscheiden, zu wem sie stehen sollte. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. »Was hast du davon, wenn du sie alle tötest, Regendorn? Wir brauchen einen der beiden anderen Katzen der ewigen Macht, um den Durchgang zu öffnen. Was du tust, ist keine Überredung.« Zum ersten Mal in seinem Leben sah Zweigpfote eine unsichere Version Halbmondlichts. »Schmetterlingsschatten muss sie, auf ihre Weise, aufgeklärt haben.«
Regendorn, wie die Feuerkatze anscheinend hieß, fauchte. Die Clankatzen tauschten Blicke; wahrscheinlich rechneten sie jetzt alle mit einem Angriff. Dabei gab es noch gar keinen Grund dazu, zu kämpfen. »Und, Halbmondlicht? Weshalb versuchst du es nicht allein?« Zweigpfote beobachtete mit angehaltenem Atem, als hätte er Angst, etwas zu verpassen, würde er sich bewegen, wie Halbmondlicht zögerte. Sie trat von einer Pfote auf die andere und wirkte seltsam nervös. »Ich kann das nicht. Meine Kräfte allein... wenn ich das tue, dann...«
Zweigpfote fragte sich, wie sich die Clanpatrouille fühlen musste. Wahrscheinlich verstanden sie gerade genauso wenig wie er selbst. »Bist du nicht loyal?« Regendorns Stimme war schneidend. Sie trat weiter nach vorne, drang somit alle Umstehenden noch mehr zurück. Sie schien auf eine gefährliche Art verzweifelt, so, als würde sie betteln und gleichzeitig drohen. »Versuch es. Öffne diesen Durchgang.« Die Clankatzen tauschten Blicke, offensichtlich verwirrt. Schließlich war der Durchgang bereits von den Wurzeln befreit.
Ab dann geschah alles auf einmal; eigentlich hatten Dachspfote und Zweigpfote ja nur vorgehabt, zuzusehen, weil kämpfen zu gefährlich war. Planänderung. Während Heideschatten mit fester, eisiger Stimme »Dann muss sie aber zuerst an uns vorbei«, miaute, beugte sich der Schüler etwas zu weit vor. Er spürte, wie die trockene Erde unter ihm bröckelte, und er leicht schwankte, verzweifelt mit den Pfoten ruderte. Seine Welt begann sich schnell zu drehen, kleine Steinchen trafen ihm am Kopf. Schwindel überkam ihn, und am liebsten hätte er sich übergeben, als er schwer atmend aufkam. Die Katzen vor ihm waren unförmig und drehten sich weiter. Stolpernd wich er zurück, direkt auf das grelle Licht zu. Er bekam zu spüren, was Regendorn wahrscheinlich mit »Öffne den Durchgang« gemeint hatte; das Licht fühlte sich an wie eine lodernde Flamme, die ihn verschlingen wollte. Als wäre all die Hitze der Sonne an diesem kleinen Ort versammelt, spürte er stechender Schmerz auf seinem Pelz. Jaulend bewegte er sich wieder vorwärts.
»Fuchsdreck, Zweigpfote!« Er war noch nie glücklicher darüber gewesen, seinen Bruder einen Hang runter auf ihn zustürmen sehen. Nun standen sie zu zweit keuchend vor einem lichtdurchfluteten Durchgang, die Blicke alle auf sich gezogen.
»Schüler«, miaute Regendorn amüsiert. »Nie tun sie das, was man ihnen sagt, hab ich Recht?« Dann verschwand ihre belustigte Stimme und sie klang wieder so finster wie vorher. »Räumt sie aus dem Weg.«
Langsam schlichen die Katzen des finsteren Waldes näher, wie unsichtbare Schatten zingelten sie die Clanpatrouille ein. Sie sahen sich um, mit ausgefahrenen Krallen. Ein paar Blicke, zu überrascht, um böse zu sein, glitten in die Richtung der beiden Schüler. Zweigpfotes Herz begann wieder, laut zu klopfen. Er war nicht der beste Kämpfer. Aber wenn es um den Wald der Finsternis ging, war er im Vergleich dazu wahrscheinlich nichts.
»Vater«, hauchte plötzlich eine gehässige Stimme in der Nähe Zweigpfotes. Kurz befürchtete er, Dachspfote hätte gesprochen, von ihrem Vater geredet, doch dieser Gedanke war absurd. Kampfsprung war eine wunderbare Katze gewesen, und gehörte nicht in den finsteren Wald. Es war kein anderer als Aschenstern, der den Blick auf einen weißen Kater gerichtet hatte. Zweigpfote verstand nichts mehr von dem, was hier vorging. Das Einzige, was er wusste, war, dass es gleich zu einem Kampf kommen würde.
Die ersten Katzen, die Krallen ausgefahren, die Blicke entschlossen, stürzten sich auf die anderen. Aschenstern rang mit dem weißen Kater und sah dabei so aus, als hätte er sein Leben auf diesen Moment gewartet. Zweigpfote erschauderte und sah sich um; was, wenn jemand ihn angriff?
Doch bevor sich der Kampf überhaupt weiterentwickeln konnte, bevor es die ersten schweren Wunden gab, zerriss eine Stimme, laut und entschieden, das Kampfgeheul. Sie hatte etwas mit ihrer Stimme gemacht, sie lauter gestellt, oder etwas anderes, denn sonst wären die Katzen bestimmt nicht verstummt. Doch genau dies geschah; die Katzen verstummten. Sie ließen von ihrem Gegner, ihrer Gegnerin, ab, und wandten sich beinahe schon hypnotisiert der Katze zu, die gesprochen hatte. Es war Halbmondlicht. Natürlich war es Halbmondlicht. »Was, wenn ich es nicht tue? Wenn ich mich weigere, den Eingang zu öffnen?«
Regendorn schüttelte sich und gab ein, beinahe belustigtes, Schnauben ab. »Du hast dich bereits entschieden. Entweder du bist mir oder du bist ihnen loyal« - Sie schnippte mit der Schweifspitze abschätzig zu den Clankatzen. »Aber wie, bitte, möchtest du das bei ihnen wieder gutmachen?«
Im Augenwinkel sah Zweigpfote, dass sich die Katzen des finsteren Waldes immer noch in einer Art Trance befanden; nur die, die gekämpft hatten. Sie starrten mit leerem, emotionslosem Blick irgendwo in die Finsternis. Was der Kater auch noch wahrnahm, war Lichttraum, die langsam den Hang hinunterschlich. Leider nicht so unbemerkt, wie geplant. Regendorn fuhr zu ihr herum, die Augen wieder so seltsam glühend, als wäre ein Plan aufgegangen. Sie sah aus, als hätte sie etwas Neues gefunden; eine Lösung. Dachspfote und Zweigpfote tauschten Blicke.
»Lichttraum! Nicht wahr? Diese Katze, die du unbedingt beschützen wolltest.« Aus Halbmondlichts Gesicht wich jegliches Leben. Sie sah auf einmal aus, als würde sie etwas realisieren. »Wie wäre es damit... wenn du den Durchgang nicht öffnest, ist sie tot.«
Für eine kurze Zeit stand die Welt still; kein Wind blies an diesem sternenlosen Ort, keine Katze bewegte sich. Die des finsteren Waldes hörten in ihrer Trance zu, die Clankatzen beobachteten alles mit angehaltenem Atem, die Augen weit aufgerissen. Wahrscheinlich verlief alles anders, als geplant war. Lichttraum stand nun am Ende des Hanges, ebenfalls erstarrt, die Augen müde und irgendwie traurig. Halbmondlicht schien mit sich zu ringen, was Regendorn genoß.
Dann entschied sie sich. Halbmondlicht holte tief Luft, als würde sie einen letzten Atemzug nehmen, bevor sie in tiefes Wasser tauchte. Dann griff sie an – die Krallen voraus. Regendorn schien es nicht erwartet zu haben, ihre Feueraugen wirkten auf einmal verletzlich. Halbmondlicht nutzte das Überraschungsmoment und hatte keine Scheu davor, Regendorn den Todesbiss zu versetzen. Doch es war nicht so einfach; schließlich war sie eine Katze des finsteren Waldes. Da sich Halbmondlicht nun vollkommen auf ihr Ziel fokussieren musste, erwachte auch die Welt um Zweigpfote herum wieder zum Leben; von einem Moment auf den anderen ging das Kampfgeheul wieder los.
Doch so schnell, wie es erwacht war, verstummte es auch wieder. Zweigpfote hatte gerade genug Zeit gehabt, aus der Mitte des Gerangels zu flüchten, als die Katzen des finsteren Waldes wieder erstarrten. Eine nach der anderen wandte sich um, doch dieses Mal half keine unsichtbare Macht; sie drehten sich um, als hätten sie etwas gehört. Zweigpfote erstarrte wie von selbst ebenfalls.
Da bemerkte er, dass Halbmondlicht am Boden lag; dort, wo Regendorn gerade noch gestanden war. Doch diese war weg. War sie tot? Zweigpfote hatte davon gehört, dass Katzen sich in Luft auflösten, wenn sie im finsteren Wald starben. War sie also weg? Bevor er seine Antwort hatte, erhoben sich die Katzen des Waldes der Finsternis und rannten wortlos davon. Zweifelslos das Merkwürdigste, was Zweigpfote je mit eigenen Augen beobachtet hatte. Es war, als wären sie erlöst, als wäre ihre Arbeit getan. Als wäre es sinnlos, weiterzukämpfen, wenn ihre Anführerin tot war.
Da fiel Zweigpfote plötzlich auf, dass Halbmondlichts Fell in Blut getaucht war. Hätte er es nicht anders gewusst, hätte er denken können, ihr Fell wäre immer so rot gewesen; vom Kopf bis hin zu den Pfoten war sie in diese Farbe getaucht. Als wäre er es nun, der hypnotisiert war, rannte er schnurstracks zu der Kätzin hinüber. Sie atmete flach, die blauen Augen waren an einen Ort gerichtet, den Zweigpfote nicht sehen konnte. Lichttraum war neben ihm, verzweifelt. Das würde sie nicht überleben. Da war so viel Blut... sie würde das nicht schaffen. Oder doch?
Bevor Zweigpfote etwas sagen konnte, er wusste selbst nicht einmal, was, fing Halbmondlichts Fell vor ihm an zu schimmern. Sie sah auf einmal nicht mehr aus wie sie selbst, nur noch ein Abbild, das durchsichtig war. Mit großen Augen verfolgten die Clankatzen den Vorgang; wie sich das geisterhafte Abbild Halbmondlichts erhob und zu dem Licht schwebte, als wäre sie ein Windhauch. »Es tut mir leid.«, flüsterte sie, bevor sie vollends im Licht verschwand.
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