Kapitel 9
Die Welt ist nicht immer fair. Alles andere aber nicht das. In einem Moment kann noch alles gut gewesen sein und dann im anderen ist plötzlich eine Welt zusammen gebrochen. Vieles macht in Imanis Augen keinen Sinn, vieles wird als zu streng beachtet und vieles als zu locker gesehen. Und irgendwie hatte es bisher immer Imani getroffen, wenn es um die Strenge in dieser Welt ging. Irgendwie hatte immer sie das Gefühl gehabt, dass all die Verbote, die es in der Welt gab, ihr galten. Sie sollte sich einerseits wehren, wenn man sie ärgerte, aber es wäre noch besser, würde sie einfach weggehen. Würde sie einfach die Worte, die ihr an den Kopf geworfen wurden, akzeptieren und mit einem Lächeln im Gesicht nach Hause laufen. All den Leuten um sie herum war aber nicht bewusst, dass es eine Grenze gab. Eine Grenze zwischen diesen Punkt verstehe ich und warum soll ich das jetzt machen? Oder warum darf ich es nicht machen? Und diese Grenze war bei Imani schon lange erreicht. Es waren zu viele Dinge, die ihr von den verschiedensten Personen geraten wurden. So viele Dinge, dass sie mittlerweile nur noch das Gefühl hatte, alles falsch zu machen. Und dieses Gefühl, das ist kein schönes Gefühl. Es ist ein genauso scheiß Gefühl, das sie die ganze Zeit über schon hat, weil sie langsam immer mehr zerbricht. Schon vor Aurelas Tod. Weil sie die Worte, die ihr an den Kopf geworfen wurden, ernst nahm. Weil sie diese Worte verfolgten und auch wenn sie von ihrer Familie kamen und als Spaß gedacht waren, war Imani mittlerweile so weit gewesen, dass sie sie gar nicht mehr als Spaß sah. Sondern als das, was sie sowieso schon die ganze Zeit aussprechen wollten und wo jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war. Vielleicht übertrieb Imani auch nur. Vielleicht sah sie das alles zu ernst und vielleicht hatte Imani gerade nur eine Phase.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Sie wusste es nicht mehr, konnte Spaß kaum noch zwischen Ernst unterscheiden und selbst wenn, sie nahm sich die Worte trotzdem zu herzen, selbst wenn sie als Rat gemeint waren.
Vielleicht lag es auch einfach daran, dass Imanis Umfeld alles andere als sanft im verpacken von Nachrichten war. Sie waren direkt. Viel zu direkt wenn's nach Imani geht.
Vielleicht aber lag es auch ganz einfach an der Tatsache, dass Imani niemanden hatte, dem sie sich vollkommen anvertraute. Ihre beste Freundin war tot und hatte Imanis Probleme mit ins Grab genommen. Und bei den anderen war Imani sich sicher, dass es nicht unter ihnen bleiben würde, dass es von vier Augen ganz schnell zu acht Augen eskalieren würde. Das wollte sie nicht. Sie wollte nicht erfahren, dass ihre Mutter es auch weiß, nachdem sie es ihrem Bruder erzählt hatte. Sie hatte keine Vertrauensprobleme, nein. Sie durfte sich nur nicht den Personen anvertrauen, die sie wollte. Für ihre Mutter gab es nur eine Person, der Imani alles erzählen konnte, und das war Yasmin selbst. Erzählte Imani ihrer besten Freundin mehr als ihrer Mutter, hieß es, aber ich dachte, wir können uns vertrauen. Imani war nicht diejenige, die Vertrauensprobleme hatte. Es war die ganze Welt um sie herum, die ihr nicht traute. Die sie nicht einfach machen ließ und mehr als ein Hindernis in ihren Weg stellte.
Deswegen blieb sie lieber für sich, fraß alles in sich hinein, wartete ab, wie lange sie das noch konnte und war zu einem eindeutigen Entschluss gekommen:
Die Welt ist nicht immer fair. Und das Leben schon gar nicht. Da gab es kein vielleicht für Imani, denn darin war sie sich zu 1000% sicher.
Angespannt atmete Imani ein und versuchte sich zu beruhigen. Sie saß in ihrem Zimmer und dachte nach. Starrte einfach die Wand an und versuchte ihr Leben zu verstehen. Versuchte zu verstehen, warum all diese Verbote auch für sie galten und warum Menschen behaupteten, sie vertrauen einem, es aber im Endeffekt doch nicht tun. Eigentlich versuchte Imani nur diese Welt zu verstehen und so sehr sie es auch wollte, sie konnte nicht. Stattdessen brach sie in Tränen aus und verzweifelte immer mehr. Sie verstand einfach nicht, warum die einzige Person, die sie vollkommen verstand, ihr genommen wurde und nun nicht mehr für sie da war. Ihre Gedanken überschlugen sich und sie atmete immer schneller. Ihr Herz sprang ihr gefühlt aus der Brust und die Tränen, die mittlerweile nicht mehr aufzuhalten waren, durchnässten ihr Oberteil. Ihre Sicht verschwamm und nahm ihr den letzten Halt, den sie noch hatte.
Normalerweise wäre sie jetzt raus gegangen, hätte sich auf irgendeine Bank gesetzt und dort die frische Luft und Natur genossen. Das lenkte sie vom Weinen ab. Es waren aber keine normalen Umstände, sie durfte seit ein paar Tagen nicht raus außer zur Schule. Weder sie oder ihr Bruder noch ihre Mutter. Die Polizei hielt es für das Beste, aber Imani war definitiv anderer Meinung, denn immerhin wusste die Bande, wo sie wohnten und sie scheuten sich auch nicht davor, hierher zu kommen. Das war der Polizei entweder nicht wirklich bewusst, obwohl Imani es ihnen schon mehr als einmal gesagt hatte, oder sie sahen es gar nicht als schlimm und stempelten diesen Fall als unwichtig ab.
Wie gesagt, die Welt ist nicht fair.
Immerhin war es Imanis Familie, die Angst um ihr Leben hatte. Das war natürlich nicht wichtig. Wäre dasselbe mit einer bedeutsameren Familie passiert wie der vom Bürgermeister, wäre die Polizei voll alarmiert und hätte Polizisten vor deren Haus positioniert. Etwas, was Imani sich wünschte, es würde ihnen einen Funken Sicherheit verschaffen. Aber nein, sie waren nun mal nicht die Familie des Bürgermeisters und daran ließ sich auch nichts ändern.
Plötzlich musste sie an Malique denken. Es nahm Imani sehr mit, dass er seit Tagen nicht mehr aus seinem Zimmer raus kam und das, obwohl er neun ist.
Verdammte neun Jahre alt, das ist viel zu jung für all das hier, regte sich Imani auf. Sie vermisste den Anblick von ihrem kleinen Bruder, wenn er glücklich durch die Küche hüpfte und sein Lieblingslied mitsang. Seit Tagen war er in seinem Zimmer und kam nur noch selten raus. Imani wusste nicht, was er machte. Ob er schlief oder weinte oder was auch immer, sie wusste nur, dass es so nicht weitergehen konnte. Deswegen stand sie auf und verließ ihr Zimmer, die Trauer von eben war vergessen und machte stattdessen Platz für unendliche Sorge. Sorge um ihren kleinen Bruder, der sich mehr verändert hatte als Imani selbst.
Ihre Hände zitterten und als sie seine Türklinke berührte, hielt sie kurz inne. Einen Moment lang sammelte sie sich und versuchte sich auf alles, was sie erwarten könnte, vorzubereiten.
Imani war kein starkes Mädchen, wenn es darum ging, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten, so sehr sie es auch sein wollte und versuchte. Sie war es einfach nicht. Und würde Malique jetzt vollkommen verheult in seinem Bett sitzen, dann würde Imani auch anfangen zu weinen. Und zwar sofort.
Ihr Atem zitterte, als sie den Raum betrat und noch im selben Moment als die Tür aufschwang, entdeckte sie Malique. Vorsichtig setzte sie einen weiteren Schritt und merkte gar nicht, dass sie ihre Augen aufgerissen hatte und den Atem anhielt. Ihre Handflächen fingen an zu schwitzen und sie spürte, wie die Überforderung und Angst ihre Kehle hochkrochen und ihre Gedanken benebelten. So lange, bis das einzige, woran sie noch denken konnte, der tote Anblick von Malique war, der immer wieder in ihren Träumen auftauchte und sie nachts verfolgte.
Reiß dich zusammen, dachte Imani und atmete einmal tief aus. Sie spürte, wie Tränen kommen wollten, spürte, dass sie kurz davor war nachzugeben und diese Welt noch mal zu verfluchen.
,,Hey", flüsterte sie mit einer solchen Ehrfurcht in ihrer Stimme, sodass sie sich selbst kurz wunderte, was mit ihr los war.
,,Geh weg." Maliques Stimme war nicht mehr als ein Hauch, der durch den Raum flog und noch in derselben Sekunde verschwand. Seine Erschöpfung, sein Leid und seine Angst waren deutlich zu hören. Und auch zu sehen. Zusammengekauert lag er auf seinem Bett und hatte sein Gesicht weg von Imani gedreht. Einzig allein das leise Schluchzen erfüllte den Raum und ließ Imani noch schlechter fühlen als sie es so schon tat.
,,Lass mich bleiben. Bitte." Imanis Stimme war um eine Oktave gesunken und ihr Atem fing erneut an zu stocken. Das Zittern, das Imani im selben Moment ergriff, versuchte sie zu ignorieren. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich auf die Bettkante setzen musste, um nicht den Halt zu verlieren und auf dem Boden zusammenzubrechen.
,,Es wird alles wieder gut, irgendwann. Ich werde dafür sorgen, weißt du? Ich hab schon einen super Plan in meinem Kopf, damit alles wieder ganz toll wird." Sie erwähnte nicht, dass es nicht wie vorher sein würde. Sie erwähnte nicht, dass dieser Plan nicht gut für sie enden würde. Letztendlich erwähnte sie einfach nicht, dass es sich für jeden außer Imani selbst verbessern würde.
,,Aber wann, Imani? Hm?" Endlich drehte er sich zu ihr und einen kurzen Moment stockte sie. Seine sonst so wunderschönen Locken waren nun nur noch ein Haufen verknoteter Haare, die nicht zu bändigen waren. Sein sonst so stetiges Lächeln hatte Platz für Tausende von Tränen gemacht. Die tiefen Augenringe, die sich abzeichneten, sorgten dafür, dass Imani sich fragte, wann er das letzte Mal geschlafen und wann er das letzte Mal nicht geweint hatte.
,,Bald, versprochen."
,,Du weißt doch, das Böse verliert immer", wisperte sie und genau das war der Satz, der Malique überzeugte.
In all den Filmen gewinnt immer das Gute, warum dann nicht auch jetzt?, dachte sich Malique. Er kannte es nicht anders und für einen kleinen Jungen war es möglich, dass all das, was in Filmen passierte, auch im Leben passieren könnte.
Und während Malique sich Hoffnung machte und die Trauer langsam verging, war Imanis Angst und Trauer noch nie so stark und die Hoffnung noch nie so klein gewesen. Für sie gab es keine Hoffnung mehr, wenn es ihrer Familie gut gehen sollte. Das war ihr Plan.
Und so saßen sie auf dem kleinen Autobett von Malique. Imani am Lächeln, obwohl sie am liebsten losgekreischt hätte. Sich eingeschlossen und geweint hätte. Und Malique am lachen mit einer solchen Freude, sodass Imani nicht anders konnte, als ihn zu umarmen und die letzten Stunden mit ihm zu genießen.
Der Countdown begann, heute wären die letzten Stunden mit ihrer Familie und etwas Freude, bevor sie ihren Plan in Wirklichkeit umsetzen und das Leid anfangen würde.
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