Kapitel 3
,,Was macht ihr denn hier?", schrie die Polizistin und rannte auf die beiden zu. Weder Imani noch Malique machten Anstalt darauf wegzurennen, zu schockiert waren sie. Wie in einer Zeitschleife wiederholte sich der Anblick von der Leiche in Imanis Kopf. Durch den Regen war es zwar nicht so einfach zu erkennen gewesen, was genau da vor ihnen war, doch Imani wusste sofort, was es gewesen war. Sie wusste sofort, dass es ihre arme Nachbarin war, die ihnen immer wieder Apfelkuchen gebracht hatte, die arme Nachbarin, die nun tot war.
,,Imani?", drang Maliques Stimme allmählich in ihren Kopf und ließ sie sich zu der Realität herumdrehen.
,,Was ist das?", wiederholte er seine Frage von eben nochmal. Er schien gefasst und kam Imani einen Schritt näher, er war das komplette Gegenteil von Imani. Denn sie war vollkommen durcheinander und verstand die Welt nicht mehr, es ergab wieder einmal keinen Sinn für sie. Mittlerweile hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt und ihr Atem ging schneller. Verzweifelt schnappte sie immer wieder nach Luft.
Vielleicht lag Maliques Gelassenheit daran, dass er immer noch nicht richtig erkannt hatte, was genau da vor ihnen kniete.
,,Du solltest wohl eher fragen, wer das ist", brachte Imani wütend heraus und wiederholte ihre Worte noch einmal, dann noch einmal. Jedes Mal wurde sie lauter und schien jedes Mal unberechenbarer zu werden. Jedes einzelne Mal kam die Polizistin näher und ihre Chance zu fliehen wurde geringer.
,,Was... was meinst du?", stotterte Malique und klammerte sich an Imani, er suchte seinen letzten Halt. Es tat Imani leid, dass er so was erleben musste. Es tat ihr leid, dass Laetitia so etwas passiert war. Im Moment tat ihr jeder leid, zurecht.
Ihre Gefühle überwältigten sie und waren kurz davor sie zu fesseln, doch Imani musste hier weg, das wusste sie.
,,Ich erkläre dir alles später! Weg hier!" Malique zögerte nicht lange und rannte seiner Schwester sofort hinterher. Und das, obwohl er sich fragte, was hier vorging. Obwohl er nicht wusste, wohin Imani rannte. Wie auch? Imani selbst wusste nicht, wo lang sie rannte, sie wusste nur, dass sie wegmusste. Weg von all dem. Weg von ihrer Nachbarin Laetitia und ihrem Anblick.
Weg von ihrem Anblick, wie sie vor ihnen auf der nassen Wiese kniete. Imani hatte die ganze Zeit ihr Gesicht im Kopf, wie sie mit offenem Mund und herunterhängenden Armen dort hockte. Doch es war nicht nur das, es waren ihre Augen, diese unendliche Leere in ihnen. Und dann fiel Imani ihr Mund ein, der nicht gewöhnlich gewesen war. Ihre Zähne waren komplett zerknirscht und kaputt gewesen. Manche Zähne hatten gefehlt und andere waren nur noch zur Hälfte da gewesen. Ihr Blut war ihr das Kinn heruntergeprasselt und vermischte sich mit dem Regen, bevor es hinunter tropfte.
Was für Schmerzen sie wohl ertragen haben musste, fragte sich Imani und in diesem Moment tat Laetitia ihr noch mehr leid.
Wie sie es wohl geschafft hatten, dass Laetitia dort auf den Knien saß, immerhin hätte sie doch schon längst zusammensacken müssen, dachte sie nach und fand keine Antwort darauf, zumindest keine schmerzfreie.
Und erst da blitzte ein Gedanke in Imanis Kopf auf, den sie schnell wieder zu verdrängen versuchte. Sie wollte so was nicht denken, sie wollte sich letztendlich nicht noch mehr Gedanken darüber machen. Ihr Kopf war schon jetzt voll mit Überlegungen, die sie alles andere als wollte.
Was ist, wenn all ihre Opfer so schmerzvoll sterben, machte sich Imani trotzdem Gedanken. Plötzlich tauchten Bilder von Malique und der Bande in ihrem Kopf auf, sie dachte über ein Szenario nach, dass sie um alles in der Welt verhindern wollte. Das Szenario, dass Malique von dieser Bande geschnappt werden würde.
Augenblicklich kam ihr ihr Bruder wieder in den Sinn, sie war vorhin einfach losgerannt, ohne auch nur über ihn nachzudenken. Elangeladen drehte sie sich um und hielt Ausschau nach Malique. Er war ganz dicht hinter ihr und war vollkommen aus der Puste. Sein Atem ging nur stockend und seine Beine schwankten immer wieder. Erleichtert schnappte sich Imani seine Hand und bemerkte, dass niemand sie mehr verfolgte.
Sie waren zwar ein gutes Stück gerannt, aber immer noch im Park.
Wenigstens kenne ich mich hier aus, dachte Imani.
Ihre Schritte wurden langsamer und allmählich stoppte sie. Vollkommen aus der Puste klammerte sie sich an Maliques Hand und legte ihre andere Hand auf ihren Oberschenkel. Hechelnd schaute sie Malique in die Augen und sah, wie auch er nach Luft schnappte.
,,Alles okay?", fragte er sie besorgt und zog sie langsam weiter. Malique wollte einfach nur noch nach Hause und alles verstehen, er liebte zwar Abenteuer, aber das war definitiv zu viel für einen 9-Jährigen gewesen. Und nicht nur er war total überfordert, sondern auch Imani. Ihr Gehirn arbeitete noch immer nicht ganz, denn momentan war sie viel zu gestresst und schien von Geschehenem erdrückt zu werden.
,,Ja,... bei dir?"
Erzählst du mir jetzt alles, fragte sich Malique und schaute Imani angespannt an. Er beschloss, nicht zu fragen. Es würde Imani noch mehr überfordern, sie würde es ihm noch erzählen, das wusste er.
,,Auch. Gehen wir jetzt nach Hause?", wisperte Malique stattdessen und versuchte sich allmählich zu entspannen. Doch trotzdem war seine linke Hand noch zur Faust geballt und es schien so als ob er sie auch nicht freiwillig öffnen würde.
,,Ja." Imani schaute hoch und sah, dass es durch die dichten Wolken und den Regen wirklich dunkel war.
Passend zur Stimmung, dachte sie und ihr Blick wirrte umher. In dieser Gegend waren viel mehr Menschen, viel mehr Menschen, die unbesorgt spazierten und den Regen genossen, der mittlerweile immer leichter wurde.
Lautes Gelächter ließ Malique und Imani nach links schauen. Erschrocken fing Imani an zu zittern und blickte zu Malique, er hatte sie nicht gesehen. Er hatte nur das lachende Paar gesehen, das sich in den Armen hielt und die Welt zu erhellen schien. Die Frau dahinter, die dieses Paar mit ihrem Blick erdolchte, hatte er nicht gesehen. Und selbst wenn, wüsste er nicht, wer es war. Aber Imani wusste es, sie wusste, dass diese Frau der Grund für Laetitias Tod war, immerhin war diese Frau die Anführerin dieser Bande und allein sie bestimmte, wer das nächste Opfer sein würde. Ekel und pure Wut überkamen Imani, als ihr einfiel, dass diese Frau der Grund für Aurelas Tod war. Allein sie war daran schuld.
Sieht sie denn sonst keiner, schrie eine Stimme in Imanis Kopf.
Und trotz dass Imani in diesem Moment alles versuchte, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu erregen, schaute sie plötzlich geradewegs in ihre Augen. Schnell senkte Imani ihren Blick.
Noch immer bekam Malique nichts mit, was Imani etwas beruhigte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann wären sie zu Hause.
Und wie als wenn Imani den stechenden Blick spürte, schaute sie wieder zurück zu ihr. Ein schelmisches Grinsen war auf dem Gesicht der Frau zu sehen und das plötzliche Funkeln in ihren Augen erschreckte Imani. Vollkommen überfordert ging Imani schneller, doch ihr Blick verharrte noch immer in den Augen der Frau. Das laute Schmatzen, das durch den nassen Rasen bei jedem Schritt ertönte, beruhigte Imani keinesfalls, sondern ließ ihr Adrenalin nur weiter in die Höhe steigen.
Und als die Frau einen Schritt näher zu ihnen machte und sich somit etwas aus ihrem Versteck hinter einem Baum traute, brannte Imanis Kehle und es war, als würde ihre Lunge keinen Sauerstoff mehr aufnehmen können. Mit einem Mal wurde ihr schwindelig und sie begann schwarze Punkte zu sehen.
Vollkommen benebelt kamen ihr Tränen in die Augen, weswegen ihre Sicht noch mehr verschwamm. Angst kroch ihre Kehle hoch.
Flehend schaute sie die Frau an. Sie wollte nicht, dass Malique oder sie ihr nächstes Opfer werden würden, denn genau das befürchtete sie in diesem Moment. Sie befürchtete, dass der Blick von der Frau bedeutete, dass sie ihre nächsten Opfer gefunden hatte.
Behutsam schüttelte Imani ihren Kopf, in der Hoffnung, dass sie in Sicherheit sein würden. Doch das Lächeln der Frau wurde, wenn auch nur für einen kleinen Moment, größer und schien plötzlich irre. Ihre Augen hatten sich vergrößert und Imani war sich sicher, dass dieser Frau weder zu trauen war noch dass sie berechenbar war.
Doch dann, als hätte sie Imanis Flehen gehört und akzeptiert, nickte sie. Erleichterung überkam Imani, und das, obwohl sie nicht wusste, was dieses Nicken gemeint hatte.
Sie wusste im Endeffekt nicht, ob das Nicken ein Zeichen für ihren Tod oder ihre Freiheit war.
Sie würde es bald herausfinden, das wusste sie.
Während sie ihrem Haus immer näher kam, hoffte sie inständig, dass es das Zeichen der Freiheit gewesen war.
Und das, obwohl eine kleine Stimme Imani immer wieder zu zischte, dass sie nie wieder in Sicherheit sein würde. Dass sie ab diesem Moment in den Händen von der Frau gefangen sein würde.
Diese Stimme wisperte ihr immer wieder zu, dass sie ab jetzt in einem Spiel gefangen war, in einem Spiel, das um Leben und Tod ging und lediglich die unbekannte Frau beenden konnte.
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