Die Hoffnung auf ein Wiedersehen (Teil Eins)
Lorcan war immer ein Paradebeispiel für einen Niom gewesen. Zumindest bezeichnete er sich selbst gerne so. Einzelgänger, freiheitsliebend und Schatzsucher.
Doch seit drei Monden trafen nur noch zwei dieser Bezeichnungen zu. Genauer gesagt, wünschte er sich seit fünfundvierzig Tagen, drei Stunden und fünfzehn Minuten, er wäre nicht mehr alleine, sondern Arianwen und, besonders, Sioda wären bei ihm. Doch das würde er diesem Feuerstängchen kauenden, dauerbesorgten ... Muschelschnittchen sicher nicht pfeifen. Ganz davon abgesehen, dass er sie seit jenem Moment vor fünfundvierzig Tagen, drei Stunden und sechzehn Minuten ihn nicht gesehen hatte. Geschweige denn, wusste, wo er sich aufhielt.
Lorcan drehte sich auf den Rücken und strampelte seine Füße frei. Er bezweifelte, dass er noch einmal einschlafen würde. In letzter Zeit, seit fünfundvierzig Tagen, drei Stunden und achtzehn Minuten, schlief er generell nur wenig. Aber wer zählte schon?
Seine Hand strich über die leere Bettseite. Ein paar Falten warf das Laken und die Decke lag in einem Knäuel am Fußende. In all seiner Zeit bei den Wandernden Suchern hatte er niemanden mit auf sein Schiff genommen. Zur jährlichen Anaparjoigi-Feierlichkeit in der Aniksi-Jahreshälfte legte er am Riff der Zweisamkeit an und ging von Bord, um sich in einer der schützenden Austernkammern schwängern zu lassen. Da er danach vierundzwanzig Tage in der Kammer verbringen musste, bis er seinen Laich abgab, hatte er nie die Notwendigkeit gesehen, den Geschlechtsverkehr auf seiner Wellenreiterin zu vollziehen.
Sioda war der Erste und Einzige gewesen. In mehr als nur einer Hinsicht. Ja, an dem Abend hatte er sich doch sehr an den Niom rangemacht, aber zum Teil hatte da der Alkohol aus ihm gesprochen und zum anderen die Neugier. Die Neugier, wie es wohl wäre, mit einem Niom anstatt mit einer Niomfe zu schlafen. Zugegeben, er konnte sich ab dem Zeitpunkt, nachdem die Kajütentür hinter ihnen zugefallen war, nicht mehr an alle Details erinnern, aber nach dem Zustand der Laken und dem Geruch war es eine sehr zufriedenstellende Nacht für beide gewesen.
Allerdings war Lorcan eines hängen geblieben. Sioda wusste wirklich, wie er seine Zunge einsetzen musste, um ihm den Verstand zu rauben ... Die war auch eines der ersten Merkmale an Sioda, das Lorcan ins Auge gefallen war, als er sich damals an diesem folgenreichen Abend zu ihnen gesetzt hatte. Neben seinen ungewöhnlich dunklen Haaren und der grünlichen Haut war die Zunge das Auffälligste, so oft wie der Niom sie benutzte. Wenn er nervös war, schob sie das Feuerstängchen, für dessen Entzünden er meist zu faul war, von einem Mundwinkel zum anderen. Wenn er nachdachte, drehte er das Stängchen zwischen seinen Zähnen und jedes Mal blitzte die Zungenspitze dabei auf. Einmal hatte Lorcan sogar gesehen, wie Sioda nur mit seiner Zunge Knoten in die Stängel von Knorpelkirschen gedreht hatte. Danach hatte er sich diskret zurückgezogen, weil in seiner Hose sonst eine unfreiwillige Privatfeier stattgefunden hätte ...
Seit jener Nacht hatte Lorcan mehr als nur einmal phantasiert, wie es mit Sioda und seiner akrobatischen Zunge in nüchternem Zustand wäre und all diese unbewussten Macken hatten ihn nur noch neugieriger gemacht.
Doch was zählte das jetzt noch? Sioda war weg, erinnerte der Niom sich selbst. Genauso wie Arianwen. Mit dem Unterschied, dass sie beide ihr nicht dorthin nachfolgen konnten, wo sie sich gerade aufhielt.
Seufzend setzte Lorcan sich auf und beugte sich vor, sodass ihm die Haare offen ins Gesicht fielen. Diese dumpfe Leere, die er damals schon empfunden hatte, schlich sich in sein Herz zurück, fraß ihn regelrecht von innen auf und drückte seine Schulten noch weiter nach unten. Der Niom atmete schneller, seine Kiemen schienen nie genug Sauerstoff filtern zu können. Die Leere bekam etwas Beklemmendes und Lorcan kniff die Augen zusammen.
Ja, er würde Arianwen nicht nachfolgen können, aber sein Wortikosmos war noch viel weniger ein Ort, den er erreichen wollte. Da er sein Leben liebte und es in vollen Zügen genoss, graute es ihm vor dem Moment, an dem diese Freiheit vorbei sein würde. Dazu kam, dass das Einzige, das sein Vater ihm mitgegeben hatte, eine Warnung gewesen war.
„Der, der das Leben voll auslebt, wird danach nichts mehr davon übrighaben. Das ist dasselbe wie mit den Worten."
Lorcan schnaubte und seine Kehle schnürte sich zu. Auf den fünf Frühling alten Niom hatte das mächtig Eindruck gemacht. Wobei das noch milde ausgedrückt war, wenn Lorcan sich seine Reaktion auf Arianwens Tod so besah.
Lorcan schlug sich auf die Wangen, schüttelte seinen Kopf und fuhr sich über seine Brust. Über die Tätowierung Befenjas, die er sich aus genau diesem Grund unter die Haut hatte stechen lassen. Er wollt dieser Angst ein Gesicht, einen Namen geben und sich ihr so stellen.
Seine Atmung beruhigte sich ein wenig, die Kiemen nahmen wieder genügend Sauerstoff aus dem Wasser auf. Lorcan legte seinen Kopf in den Nacken, strich seine Haare zurück, nahm die obersten Büschel und fasste sie am Hinterkopf zusammen. Er stand auf, sprang von seinem Bett und landete vor seinem Schreibtisch.
Über einem Fingerfragment einer Parnosstatue, das aus einer Holzschatulle ragte, baumelte seine Augenklappe. Als er sie sich umband und sie kühl und glatt über seinem Auge lag, unterdrückte er ein Schaudern.
Bei einer Suche hatten sie den Weg einer Merajospinne gekreuzt und er hatte es geschafft, ihre Schale zu beschädigen, was sie ihm heimgezahlt hatte, indem sie ihm ein Auge ausgekratzt hatte.
Doch er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, das Stück Phalatrovaleder zu tragen. Der Schutz war Arianwens Idee gewesen. Sie hatte es lustig gefunden, ihm ein noch verwegeneres Aussehehen zu geben. Sioda hatte das sofort durchkreuzt, weil er ein Ajevatokalb draufstickte.
Auf einem seiner seltenen Landbesuche hatte der Niom mal eines gesehen und hatte es so süß gefunden, dass er seitdem wie besessen von den Tieren war. Lorcan war nicht begeistert gewesen, geändert hatte er es aber auch nicht. Zum einen, weil er nicht mit einer Nadel umgehen konnte und zum anderen, weil es ihn seit Arianwens Tod an ihre gemeinsame Zeit erinnerte.
Lorcan fuhr die Unebenheiten des Ajevatokalbs nach und griff sich das erstbeste Hemd, das über seinem Schreibtisch hing. Ein rosarotes, das grüne Dreiecke aufgedruckt hatte. Die Sprach der Farben, auf die sich die Amóda so gut verstanden, hatte er nie erlernt. Auch weil er als Wasserlebewesen wohl nie viel Kontakt mit den Wüstennomaden haben würde.
Er rückte das Hemd zurecht und knöpfte es bis zur Mitte zu, schaute kurz an sich hinunter, bewegte seine Schultern und öffnete den mittleren Knopf. Das war besser. Jetzt kam seine Tätowierung auch schöner zur Geltung. An seinen Schultern saß das Hemd nun zwar sehr lose, aber das brachte ihn dazu, eine aufrechte Haltung einzunehmen.
Lorcan berührte Befenjas leere Augenhöhlen, fuhr sich mit einem Finger über seine Lippen und anschließend über die Wange. Wie jeden Morgen bat er um den Segen der Götter, er möge viele Schätze finden und dem Tod entrinnen. Jetzt konnte sein Tag beginnen.
*
Der wandernde Sucher segelte an der Kante des Aporusigrabens entlang. Von seinem Platz hinter dem Steuerrad spähte er über die Reling in den tiefschwarzen Abgrund. Die Schatzsucher munkelten, dort unten würde die mittlerweile selten gewordene Ejeluro zuhauf wachsen. Diese Blume wuchs nur in dem Inneren der Tiefseevulkane. Anscheinend enthielt sie einen Stoff aus dem Wörternichts, aus dem damals Faleyatos Pangea geschaffen hatte. Deswegen war sie bei den Amóda sehr gefragt, da diese sie für ihre Versuche brauchten, Worte herzustellen. Doch, wie Lorcan gehört hatte, waren diese Versuche kläglich gescheitert. Stattdessen hatten diese Pfuscher eine Rauchdroge namens Kapro entwickelt, die von den Xina gerne benutzt wurde.
Aber im Grunde war es Lorcan egal, was sie mit Ejeluro schafften oder nicht schafften. Für ihn war sie bloß ein sagenumwobener Schatz, der seine Sucherinstinkte wachrief. Würde er dort hinunterschwimmen und tatsächlich noch welche finden, wäre er ein gefeierter Niom. Und reich obendrein, denn die Niomfi, die nicht unter die Schatzsucher gingen, sondern sich dem Handel verschrieben hatten, würden ihm die Blumen aus den Händen reißen.
Ein Kribbeln fuhr durch seine Finger und er packte das Steuerrad fester, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das Holz bohrte sich in seine Haut und er tänzelte auf der Stelle. Es wäre ganz einfach, er müsste nur nach rechts lenken und wäre schon mittendrin in seiner Schatzsuche. Doch etwas hielt ihn ab.
Nicht die spitzen Kanten der Klippen oder das immer dunkler werdende Schwarz des Meeres oder die karge Landschaft. Nein, das machte ihm nichts aus. Viel eher war es ein innerliches Zögern, als wäre es nicht richtig, alleine nach der Ejeluro zu suchen. Nicht mehr.
Völlig absurd! Niomfi waren Einzelgänger und er ganz besonders. Doch er hatte sich an die Anwesenheit der Geschwister gewöhnt und jetzt da sie nicht mehr da waren, fühlte Lorcan sich fast schutzlos.
Was eine Nacht für Ausmaße annehmen konnte ...
Lorcan seufzte, lenkte von der Klippe fort, während er in Erinnerungen versank.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro