e i n u n d v i e r z i g
| Harry |
Die Arbeit des letzten Jahres hat sich voll ausgezahlt. Es hat eine Weile gedauert, aber letztendlich hat sich Fine Line zu genau dem entwickelt, was ich mir immer gewünscht und vorgestellt habe.
In meinem neuen Album steckt Herzblut. So ehrlich wie in meiner Musik bin ich sonst nie.
Und die Fans scheinen meine Musik genauso zu lieben wie ich. Obwohl wir im Vorfeld wenig die Werbetrommel gerührt haben, sind die Verkaufszahlen durch die Decke gegangen und die Tour ist schon jetzt in vielen Städten ausverkauft.
Es könnte nicht besser laufen. Ich werde schon bald wieder auf der Bühne stehen und spüren, wie in meinem Körper nichts anderes als Endorphin und Adrenalin ausgeschüttet wird.
Den Rausch, den mir die Bühne in Verbindung mit meiner eigenen Musik gibt, wird nichts auf der Welt je ersetzen können - kein Drogencocktail, keine Frau der Welt.
Ich bin wieder genau an dem Punkt, an dem ich zu Beginn meiner Solokarriere und auch diverse Male mit One Direction war.
Ich lebe meinen Beruf, ich lebe für meinen Beruf und habe mich regelrecht darin aufgelöst. Nun gilt es, die Freude an der neuen Musik mit der Welt zu teilen, die Tour zu organisieren und dann endlich wieder auf der Bühne zu stehen.
Vorher aber steht die Promophase an, in der ich gerade stecke. Das Album ist zwar bereits erschienen, aber es kann nicht schaden, sich auch danach noch eine Weile in den Medien zu zeigen. Wenigstens bin ich in der privilegierten Situation, selektieren zu können und mich nur in die Shows zu setzen, auf die ich auch Lust habe.
Darunter fallen vorallem Leute, mit denen mich auch privat etwas verbindet, wie zum Beispiel James, Ellen und natürlich auch Grimmy, dem ich nichts, was er getan hat, zum Vorwurf machen kann.
Bei Letzterem sitze ich im Moment im Studio.
Es hat mich wieder nach London verschlagen und natürlich ist hier BBC Radio 1 meine erste Anlaufstelle, inklusive der berühmten Live Lounge.
„Das war genial!", lautet Grimmys begeistertes Urteil, nachdem ich Lizzos Hit Juice fertig performt habe und aus dem Studio zu Grimmy trete. Er hat das Ganze über diverse Monitore und durch eine große Glasscheibe beobachtet.
„Danke", lächle ich und umarme ihn freundschaftlich. Die Arbeit ist damit für heute getan und es hat wirklich Spaß gemacht.
„Immer wieder eine Ehre hier zu sein."
„Uns ist es eine Ehre", lacht Grimmy sofort.
Von nun an ist er wieder ausschließlich mein Freund, nicht mehr der Radiomoderator, der die Leute mit den richtigen Fragen an mich unterhält. Er meint es immer gut mit mir, selbst in unseren Interviews.
Grimmy kennt mich durch und durch. Er weiß, mit welchen Fragen er mich zum Lachen, manchmal auch zum Schämen bringt. Und er weiß auch, mit welchen Fragen er mich live auf Sendung in die Enge treiben könnte, aber diese würde er niemals stellen.
Er ist ein wahrer Freund, der es immer gut mit mir gemeint hat - auch mit der Sache mit Regina. Er hat versucht, sich bei mir dafür zu rechtfertigen, dass er sich bei ihrem Chef gegen sie ausgesprochen hat und wollte sich erklären, aber das war überhaupt nicht nötig. Bestimmt hat er das Richtige getan und ich bin froh, dass dieser ganze Spuk ein Ende hat und ich meinen alten Lebensstil wieder nachgehen kann, ohne mich ständig in Frage stellen zu müssen.
Prüfend sehe ich Grimmy an.
„Du guckst, als wärst du heute noch nicht alle deine Fragen an mich losgeworden", bemerke ich skeptisch. „Ist noch was?"
Ich treffe ins Schwarze, das zeigt mir Grimmys erleichterter Gesichtsausdruck, als ich ihn darauf anspreche. Selbst hätte er vermutlich geschwiegen.
„Naja, es ist weniger eine Frage", platzt es direkt aus ihm heraus. „Aber ich glaube, ich sollte es dir doch erzählen."
Theatralisch fügt er eine Pause ein.
„Du glaubst nicht, wer sich wieder bei mir gemeldet hat - Regina!"
Kontrolliert halte ich seinem Blick, der meine Reaktion aufs Genauste beobachtet, stand.
Bis gerade eben dachte ich noch, dieses elende Thema hätte ich ein für allemal ad acta gelegt, aber immer wieder kramt jemand diesen Namen hervor und knallt ihn mir vor den Kopf.
„Tatsächlich?", gebe ich mich verhalten interessiert. Ich weiß tatsächlich nicht, ob ich daran Interesse haben sollte.
Wir waren nicht gut füreinander, ihre Rückkehr nach Deutschland war das Beste, das mir seit Langem passiert ist.
„Geht's ihr denn gut?"
„Scheint so, sie geht die Dinge gerade etwas ruhiger an und arbeitet wohl in einem Radiosender in Deutschland."
Verstehend nicke ich.
Es ist mir immer noch unangenehm, dass ich Grimmy damals überhaupt in diese Situation gebracht habe und ihm das Gefühl gegeben habe, Regina aus dem Land schicken zu müssen, um sie vor mir zu schützen.
„Also wieder alles gut zwischen euch?"
Unwissend zuckt Grimmy mit den Schultern.
„Ich hab ihr nicht geantwortet. Sie hat ja nicht ohne Grund geschrieben. Sie hat wohl inzwischen verstanden, wie unser Job funktioniert und dass es ein ständiges Geben und Nehmen ist. Und jetzt braucht sie eben was von mir."
Lachend lege ich den Kopf in den Nacken.
„Also war es eher ein berufliche Anfrage?", fasse ich amüsiert zusammen.
Das klingt nicht nach der Regina, die ich in London zuletzt gekannt habe, aber offensichtlich hat sie sich weiterentwickelt. „Aber dann tu' ihr doch den Gefallen. Bockig sein steht dir nicht", ziehe ich Grimmy grinsend auf.
Dem scheint allerdings weniger zum Lachen zumute zu sein.
„Es geht aber um dich", sagt er ernst. „Ich denke mal, sie will ihre Kontakte nutzen und ein Interview oder so mit dir rausschlagen. Ich muss gestehen, dass ich es an ihrer Stelle ganz genauso gemacht hätte, aber - naja, bei eurer Vergangenheit..."
Mit gerunzelter Stirn lehne ich mich etwas gegen das Tonpult hinter mir.
Im Moment weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich denken soll. Ich will Regina garantiert nicht gegenübersitzen und mich von ihr interviewen lassen, aber das ist ihr sicher bewusst.
Ich hätte noch nicht einmal damit gerechnet, dass sie diesen Schritt überhaupt gehen würde. Mein Verhalten muss sie schrecklich verletzt haben, immerhin hat sie seit dem Telefonat, bei dem sie ihre Abreise angekündigt hat, keinen Ton mehr von mir gehört.
„Sollte sie sich dann aber nicht eher bei mir melden, anstatt bei dir?", ist das Erste, das mir über die Lippen kommt.
Zögerlich nickt Grimmy. „Schon, aber sie hat keine Nummer mehr von dir."
Das kann ich ihr noch nicht einmal verübeln und trotzdem spüre ich, wie es mir einen Schlag in die Magengrube versetzt und ich kurz die Luft anhalte. Regina hat mich offensichtlich abgehakt, was wäre ihr auch anderes übrig geblieben.
Fragend mustert mich Grimmy.
Er fragt sich gerade zwei Dinge - wie ich mit dieser Info umgehe und auch, ob er Reginas Bitte nachkommen sollte.
Wie so oft spiele ich den abgeklärten Harry, von dem ich inzwischen überzeugt bin, dass er mein wahres Ich ist.
„Dann gib ihr doch meine Nummer", zucke ich unbeeindruckt mit den Schultern. „Regina ist gut in ihrem Job, das weißt du. Und sie hat hier viel durchgemacht, also sei es ihr doch vergönnt, dass sie jetzt auch mal was davon hat."
„Sie ist gut in ihrem Job, wenn sie sich darauf konzentriert", gibt Grimmy raunend zu bedenken, scheint dann aber beeindruckt von meiner vernünftigen Reaktion. „Sicher?"
„Klar, sie will sich ja jetzt offenbar auf ihren Job konzentrieren. Genau darauf wird sich unser Kontakt nämlich beschränken. Sie ist Redakteurin, da ist das doch das Normalste auf der Welt. Und wir sind ja nicht im Schlechten auseinandergegangen, da kann man sich schon mal einen Gefallen tun."
Ich habe es selbst gehört, das war gerade eben ein Ticken zu viel. Mich so sehr zu rechtfertigen und alles herunterzuspielen, bewirkt bloß das Gegenteil und lässt mich ziemlich verunsichert aussehen.
Zudem ist es auch nur die halbe Wahrheit.
Regina und ich sind nur deshalb nicht im Schlechten auseinandergegangen, weil ich ihr nicht die Gelegenheit dazu gegeben habe.
Ich habe sie hängen lassen, mich verhalten wie ein ignorantes Arschloch und mich nicht wieder bei ihr gemeldet. Wir haben uns zwar nicht gestritten, aber Reginas Enttäuschung war schon am Telefon lauter als die heftigste Auseinandersetzung.
Dass sie mich nun wieder um einen Gefallen bittet, muss sie unheimlich viel Überwindung gekostet haben. Und ich weiß nicht im Geringsten damit umzugehen.
Eigentlich sollte ich wohl sogar froh sein, dass sie nicht eine geharnischten Bericht über mich und alles, was sie mit mir erlebt hat, veröffentlicht hat.
„Also geb' ich ihr deine Nummer?", versichert sich Grimmy zögerlich.
Überzeugt nicke ich. „Klar."
„Und welche?"
Dieses Mal zögere ich kurz. „Die Private."
„Wie du meinst", sagt Grimmy.
Ich kann ihn nicht einschätzen, was er im Moment denkt. Ich weiß ja selbst kaum, was ich denke.
Vielleicht hätte ich sie doch einfach ignorieren und Grimmy darum bitten sollen, dasselbe zu tun. Aber dann hätte ich mir eingestehen müssen, dass Regina immer noch etwas mit mir macht und das wird nicht passieren.
Stattdessen werde ich mich ihr also stellen und dieses verkorkste Verhältnis auf eine professionelle, unverfängliche Ebene bringen. Weniger für Regina, dafür aber für mich, um mir zu beweisen, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
| Regina |
Hey Reggi, schön von dir zu hören. Und genauso freut es mich, dass es dir wirklich gut zu gehen scheint.
Ja, hier herrscht dasselbe Chaos wie immer, aber ich fühl' mich mittendrin natürlich pudelwohl.
Ich hab' dir schon diverse Gefallen getan, auch wenn du die manchmal erst spät erkannt hast. Da kann ich dir natürlich auch diesen hier nicht abschlagen.
Mach was draus (in beruflichem Sinne) und vielleicht hört oder liest man sich bald wieder.
Und natürlich liebe Grüße von Mesh.
Grimmy
An seine Nachricht hat Grimmy einen seiner Kontakte angehängt - Harrys Privatnummer.
Sofort schnürt sich mir die Kehle zu, als ich die Nummer wieder in mein Handy einspeichere, als wollte mich mein Körper warnen, dass ich wieder in die falsche Richtung laufe. Wenn ich mich dann aber erinnere, dass es lediglich um meinen Job geht, gelangt doch wieder etwas Sauerstoff in meine Lunge.
Vielen, vielen Dank, Grimmy!!
Nicht nur für diesen Gefallen, sondern für alles, was du für mich getan hast.
Meine Antwort ist ehrlich und von Herzen, aber in erster Linie spricht die Erleichterung aus mir. Die ganze Woche über habe ich nichts von Grimmy gehört und ich habe bereits gedacht, dass das auch nicht mehr passieren würde.
Meinem Chef Erik hingegen habe ich stets selbstbewusst versichert, dass ich quasi kurz vor einem Durchbruch stehe. Die Schmach, dann zugeben zu müssen, dass meine Ankündigungen bloß heiße Luft waren, wäre schrecklich peinlich.
Nun habe ich dank Grimmy die erste Hürde genommen und dabei völlig ignoriert, dass mir das wahre Hindernis noch bevorsteht. Nun gilt es, an Harry heranzutreten.
Ich darf nicht zu lange darüber nachdenken. Ansonsten würde ich womöglich Fragen nachgehen, wie zum Beispiel, weshalb ich nun wieder seine Privatnummer besitze, nicht seine berufliche. Dabei würden andere in meiner Position für eine solche Kontaktbrücke vermutlich morden. Oder ich würde mich fragen, weshalb ich mich jetzt wieder mit voller Kraft und auch bewusst in das Thema Harry manövriere.
Anstatt diesen Abgründen nachzugehen, schreibe ich ihm also eine Nachricht - kurz und hoffentlich auch schmerzlos.
Ich werde einfach nur mein Anliegen formulieren und dann darauf hoffen, dass mir Harry diesen Gefallen tut. Alles andere hat mich nicht zu interessieren.
Hi Harry, hier ist Regina.
Es kommt vielleicht etwas unerwartet, aber ich hätte eine Bitte an dich, die du wahrscheinlich ständig hörst. Würdest du dich für ein Interview mit meinem neuen Sender bereitstellen?
Mir ist bewusst, dass du nicht in Deutschland bist, es wären auch nur ein paar Fragen, die ich dir mailen würde und die du dann in Ruhe beantworten kannst.
Die Website des Senders schicke ich dir, damit du mal einen Blick darauf werfen kannst, aber ist natürlich alles auf deutsch.
Du würdest mir unheimlich helfen!
Warum mir Harry helfen wollen sollte, weiß ich selbst nicht und trotzdem schicke ich die Nachricht schnell ab. Nun kann ich nur noch hoffen.
Ich muss allerdings gar nicht lange hoffen und versuchen mich abzulenken. Noch am selben Wochenende, als ich sonntags bei meinen Eltern gerade meine Sachen zusammensuche, um zurück nach München zu fahren, leuchtet mein Handydisplay auf. Nicht nur kurz, als hätte mich eben eine Nachricht erreicht.
Er leuchtet gnadenlos vor sich hin - und in großen Lettern steht dort Harry.
Erschrocken halte ich die Luft an und spüre mein Herz trommeln.
Ich habe bewusst den schriftlichen Weg gewählt, um mich nicht direkt mit ihm unterhalten zu müssen und mir damit unnötigen Stress und potenziellen Schmerz zu ersparen. Und nun ruft er mich an.
Wobei er im Grunde nicht mich anruft, sondern womöglich bloß auf eine Presseanfragen reagieren will.
Das ist es, was ich mir einrede, um den Anruf überhaupt entgegennehmen zu können.
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