d r e i
| Regina |
Es ist noch nicht einmal Mitternacht, als Grimmy und ich aus dem Lokal zurück auf die Straße treten. Inzwischen hat es ordentlich abgekühlt und die kalte Luft schlägt mir beißend entgegen. Die Hände in unsere Mäntel vergraben, laufen wir die Straße entlang, um in Bewegung zu sein und während des Wartens auf mein Uber etwas weniger zu frieren.
„Du hast dich ganz gut mit Diego unterhalten, was?", fragt Grimmy, kaum sind wir draußen angekommen. „Ich wollte euch nicht stören und hab' dann gar nicht bemerkt, dass er schon gegangen ist. Aber ich seh' ihn eh übermorgen."
„Ja, er ist echt lieb", nicke ich lächelnd. Immerhin war Diego heute auch der Einzige, der auf mich zugekommen ist und den ich kennengelernt habe. Nun – abgesehen von Harry.
Da fällt mir die seltsame Situation mit Harry eben wieder ein.
„Was war das vorhin eigentlich, Grimmy?", frage ich direkt heraus. Auf der Arbeit sagt Grimmy ständig, ich solle immer auf ihn zukommen, sobald ich etwas wissen will. Wieso also nicht auch im Privaten?
Unsicher sieht er mich an. „Was meinst du?"
„Du hast gerade eben so getan, als wäre es ein totales No-Go, dass Harry überhaupt gefragt hat, ob wir noch mit ihm weiterziehen wollen", helfe ich Grimmy auf die Sprünge. „Ich hab' nicht mal selbst Nein sagen können."
„Achso, das", seufzt Grimmy und weicht offensichtlich meinem Blick aus. „Hättest du denn mitgehen wollen?"
„Nein, darum geht's gar nicht. Aber du wolltest es ja offensichtlich auch nicht."
Nun bleibt Grimmy doch abrupt stehen und sucht meinen Blick wieder.
„Weißt du, Reggi, ich will dich heute nicht überfordern. Du hast dir die Medienbranche ausgesucht, die ist schon verrückt genug. Und du hast heute einige interessante Menschen daraus kennengelernt. Von der Musikbranche, oder besser gesagt von den Künstlern darin, solltest du dich aber fernhalten."
Irritiert runzle ich die Stirn.
Wenn mir Grimmy den Rat, mich von der Musikbranche und deren Künstlern fernzuhalten, ans Herz legt, sagt er mir auf Umwegen doch bloß, ich solle mich von Harry fernhalten. Wieso stellt er ihn mir dann überhaupt vor?
„Ich dachte, Harry wäre dein Freund?", frage ich weiter nach und merke immer mehr, wie unangenehm Grimmy dieses Thema ist. Er scheint sich nicht in irgendwelche Geschichten verstricken zu wollen.
„Das ist er auch, sogar einer meiner besten", antwortet er trotzdem und guckt unwohl drein. „Aber Musiker sind sehr eigen, damit muss man umgehen können."
Dass Harry merkwürdig ist, ist selbst mir auf die kurze Zeit aufgefallen – oder besser gesagt ist er einfach unverschämt. Aber dass sogar Grimmy eine Warnung ausspricht und zuvor beinahe zwischen uns gehechtet ist, damit ich ja nicht zu viel Kontakt zu Harry habe, ist doch seltsam.
Ehe ich weiter nachhaken kann, biegt ein Wagen um die Ecke und kommt neben uns zum Stehen. In Grimmys Gesicht ist deutlich zu sehen, wie erleichtert er darüber ist, dass unser Gespräch damit unterbrochen wird.
„Das ist deins", sagt er schnell und nimmt mich zum Abschied in den Arm. „Ich bin morgen auf diesem Festival, aber am Sonntag kannst du gerne auch vorbeikommen, wenn Diego bei mir ist. Ich schreib' dir nochmal."
„Alles klar, gute Nacht. Und danke, dass du mich mitgenommen hast. Danke für alles."
Grimmy lächelt mich kurz an, ehe er mich regelrecht ins Innere des Wagens schiebt und wirft von außen die Tür zu.
Erst als ich im Auto sitze, wird mir bewusst, wie müde ich tatsächlich bin. Und um ehrlich zu sein, hat mir der Abend um Einiges mehr zugesetzt als der gesamte Arbeitstag.
Ein Lächeln schleicht sich unerwartet auf meine Lippen.
Vielleicht habe ich mich in den letzten Wochen doch schon verändert, ohne es bewusst wahrzunehmen. Immerhin beschäftigt mich im Moment nicht die Tatsache, dass ich heute Abend Harry Styles begegnet war.
Viel mehr bin ich erfüllt von Dankbarkeit für Grimmy, erleichtert darüber, dass es in der Medienbranche auch Menschen wie Diego gibt und neugierig, weshalb Grimmy mich so dringend von Harry fernhalten will.
Dass mein Leben hier in London bedeutend aufregender ist als Zuhause, wird mir spätestens auf der Rückbank dieses Wagens klar.
Selten war ich so erleichtert über ein bevorstehendes, freies Wochenende, wie in dieser Freitagnacht.
Nachdem ich den Samstag lange entspannt im Bett verbracht und mein kleines Appartement auf Vordermann gebracht habe, habe ich zumindest wieder einen klaren Kopf.
Bei den Telefonaten mit meinen Freunden Zuhause und auch mit meinen Eltern halte ich mich lieber bedeckt, was meine bisherigen Erfahrungen in London angeht. Es geht mir gut, das ist die Hauptsache. Dass ich gestern Abend Harry Styles kennengelernt habe, behalte ich aber besser für mich.
Bei einem gemütlichen Spaziergang im Hyde Park schweifen meine Gedanken dann aber doch wieder zum gestrigen Abend.
Je öfter ich darüber nachdenke, desto mehr ärgert mich Harrys herablassender Kommentar über mich und meine Herkunft.
Es waren nur zwei kurze Sätze und trotzdem überschatten sie die gesamte Begegnung. Genauso schwirren mir immer wieder Grimmys Worte über Harry durch den Kopf.
Wie können Grimmy und Harry überhaupt Freunde sein, wo sie doch so grundverschieden sind? Grimmy ist die Liebenswürdigkeit in Person und ganz anders als Harry, der einen wirklich harschen, unangenehmen Eindruck gemacht hat.
Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.
Gerade als ich mir spätabends einreden will, dass es ohnehin sinnlos wäre, länger darüber nachzudenken und ich Harry auch sicherlich so schnell nicht wiedersehen würde, ertönt der Nachrichtenton meines Handys – Grimmy.
Diego und Harry sind morgen bei mir, komm auch. Etwa so um 2 rum. Bis dann.
Es sind drei Dinge an dieser kurzen Nachricht, die mir übel aufstoßen.
Das Erste ist, dass Grimmy schon wieder keine Frage stellt, sondern meine Pläne beschließt. Das Zweite ist, dass die Deutsche in mir mit der Zeitangabe „so um 2 rum" nicht viel anfangen kann. Und zu guter Letzt, und das ist wohl die größte Hürde von allen, ist Harry.
Grimmy weiß, dass ich mich gestern gut mit Diego verstanden habe, aber was zur Hölle hat Harry plötzlich auch dort verloren? Noch dazu ist es doch sehr widersprüchlich, dass Grimmy mir gestern noch rät, mich von Künstlern wie ihm fernzuhalten und nun lädt er mich zu einem Nachmittag mit ihm ein.
Sofort sucht mein Kopf krampfhaft nach einer glaubwürdigen Ausrede, bis ich mir langsam die Frage stelle, weshalb ich überhaupt von vorherein so konsequent gegen dieses Treffen bin. Das „Nein" in meinem Kopf ist so laut, dass ich die Möglichkeit, eine gute Zeit verbringen zu können, gar nicht mehr wahrnehme – bis mir Grimmys Worte wieder in den Sinn kommen.
Du solltest viel öfter einfach mal Ja sagen, ohne großartig viel nachzudenken, Reggi.
Ja. Vielleicht sollte ich das tatsächlich. Vor allem wird das Ganze morgen in einer kleineren Runde stattfinden und davon kann ich zumindest Grimmy und Diego gut leiden.
Ich bin hier, um neue Erfahrungen zu machen und mich weiterzuentwickeln. Das Haus zu verlassen und Grimmys Hilfe anzunehmen, ist dazu doch ein guter erster Schritt.
Okay, tippe ich also zögerlich. Bis dann.
Und ich schicke die Nachricht ab – ohne großartig viel nachzudenken, genau wie Grimmy es mir geraten hat.
Die gemischten Gefühle und auch die latente Aufregung, die sich in mir breitmacht, muss ich trotzdem ertragen.
Grimmy wohnt so nah am Sender, dass ich ihn schon einige Male nach Hause begleitet oder ihn in der Mittagspause aus seinem Appartement geklingelt habe. Schon damals habe ich mich darüber gewundert, wie weit man es als Radiomoderator bringen kann und über sein riesiges Loft gestaunt. Eine solche Wohnung in London zu ergattern und bezahlen zu können, ist nahezu unglaublich – zumindest in meinen Größenordnungen.
„Hey! Schön, dass du da bist!", reißt Grimmy fröhlich die Wohnungstüre auf uns schließt mich in eine warme Umarmung. Es ist punkt zwei Uhr, ich bin wohl deutscher als ich dachte. „Ich war mir fast sicher, du sagst kurz vorher doch noch ab", grinst er mich wissend an und schiebt mich dann in seine weiträumige Wohnung.
„Und doch bin ich hier", zucke ich mit den Schultern und werfe meine schwarze Lederjacke auf den Sessel neben der Türe, wo bereits eine weitere Lederjacke liegt – Diegos.
Grimmys Wohnung ist im Grunde nur ein einziger, riesiger Raum. Bloß die Badezimmer sind abgetrennt und das Schlafzimmer ein Stockwerk nach oben verlegt. Entsprechend habe ich auch die anderen beiden Gäste sofort bemerkt.
„Diego und Harry kennst du ja", sagt Grimmy, als er auf die Kücheninsel zuläuft, wo Diego bereits mit Messer und Schneidebrett hantiert.
Harry hingegen hat es sich auf dem großen, hellgrauen Sofa, das in der anderen Ecke der Wohnung steht, bequem gemacht und sich dort offensichtlich einem Bollywood-Film gewidmet. Zumindest erkenne ich seine braunen Locken über die Lehne hinweg.
„Hey!", winkt mir Diego mit dem Messer zu und strahlt quer durch den Raum. „So schnell sieht man sich wieder."
„Hi!" Ihn so schnell wiederzusehen freut mich tatsächlich sehr und ich gehe schnurstracks auf ihn und Grimmy in der Küche zu. „Was macht ihr da?"
„Chili sin Carne", erklärt Diego. „Das ist zumindest der Plan. Mal sehen, was dabei rauskommt."
„Klingt gut. Kann ich euch helfen?"
Sofort schreitet Grimmy ein.
„Wir haben hier gerade einen hitzigen Streit darüber, wer die Zwiebeln schneidet, hinter uns. Bring unsere Arbeitsteilung jetzt bloß nicht durcheinander."
Lachend hebe ich unschuldig die Hände. „Okay, ich rühre nichts an."
„Brav", nickt Grimmy zufrieden. „Leiste lieber Harry Gesellschaft, bevor der noch vollkommen irre wird mit diesen schrecklichen Filmen."
Mit großen Augen gucke ich ihn an. Zuerst darf ich nicht mit Harry feiern gehen und plötzlich werde ich zu ihm abgeschoben?
Offensichtlich kann Grimmy in meinem Gesicht lesen, wie wenig ich von seinem Vorschlag halte.
„Er beißt nicht, Reggi", sagt mein Lieblingskollege leise und grinst mich an.
An dieser Stelle schaltet sich Diego wieder ein.
„Eigentlich ist er auch eher meinetwegen hier", gesteht dieser plötzlich.
Fragend sehe ich ihn an.
„Grimmy hat ihn netterweise eingeladen, damit wir uns besser kennenlernen können. Du weißt doch – das große Ziel heißt Tourfotograf", erklärt Diego flüsternd, damit seine Worte nur in der Küche zu hören sind.
Verstehend nicke ich und lache leise.
„Ah. Jobbörse Grimshaw."
„Hey, ich helfe, wo ich kann", sagt Grimmy grinsend. „Schadet ja niemandem, wenn sie sich mal kennenlernen und Harry unseren Diego vielleicht doch irgendwann einstellt."
Sein Helfersyndrom wird er nie in den Griff bekommen, aber das muss er auch überhaupt nicht. Dass Grimmy seinen Freunden so sehr die Hand reicht, ist einer der Gründe, weshalb ich ihn so schnell ins Herz geschlossen habe.
Was mich allerdings verwundert, ist die Tatsache, dass Grimmy Diego wohl nicht vor dem Musiker warnen muss. Aber wieviel kann Grimmys Warnung schon wert sein, wenn er heute das völlige Gegenteil davon lebt?
„Und jetzt Abflug, Reggi", befiehlt er mir wiederholt. Auch Diego guckt mich grinsend an und zuckt hilflos mit den Schultern.
„Na schön."
Seufzend stoße ich mich von der Kücheninsel ab und wende mich stattdessen der Wohnzimmer-Ecke, in die sich Harry zurückgezogen hat, zu.
Der Fernseher läuft und Harry scheint darin vertieft zu sein. Zumindest hat er mich bisher noch nicht einmal begrüßt.
Andererseits kann ich Harry so schlecht einschätzen, dass ich mich auch nicht wundern würde, wenn er mich einfach nicht begrüßen wollte.
Harry liegt ausgestreckt auf dem Sofa und guckt tatsächlich einen Bollywood-Streifen, in dem bereits eifrig gesungen und getanzt wird.
Je näher ich ihm komme, desto mehr verwundert mich sein heutiges Auftreten.
Dort auf der Couch liegt ein völlig anderer Harry, wie ich ihn vorgestern Abend kennengelernt habe. Ein schwarzer Hoodie, eine kurze Sporthose, die mich bei diesen Temperaturen doch sehr verwundert und die Locken hält er sich mit einem Haarband aus dem Gesicht.
Er sieht natürlich und sogar irgendwie gemütlich aus – rein optisch wirkt er damit um Längen sympathischer als bei unserer ersten Begegnung.
Unter Beschallung von indischer Musik und Stimmen lasse ich mich zögerlich auf den hellgrauen Ohrensessel neben dem Sofa sinken.
Ich muss noch nicht einmal etwas sagen. Allein durch mein Erscheinen zuckt Harry plötzlich erschrocken zusammen und richtet sich vor Schreck sofort auf.
„Um Gottes Willen", seufzt er und fasst sich an sein Herz. „Hast du mich erschreckt, seit wann bist du denn da?"
„Gerade erst gekommen", antworte ich und muss etwas darüber schmunzeln, dass Harry so schreckhaft sein kann, wenn er in solche unsäglichen Romanzen vertieft ist.
Das hier passt alles überhaupt nicht zu dem Bild, welches ich mir nach unserem Kennenlernen von ihm gemacht habe.
„Oh, sorry, hab' ich gar nicht bemerkt", entschuldigt er sich lächelnd. „Hi."
Auch das habe ich nicht erwartet. Zwar hatte er sein charmantes Lächeln schon vorgestern aufgesetzt, aber diese höfliche, sympathische und auch offene Aura war neu. Die kannte ich bisher nur von Diego.
Nun liegt es an mir, ob ich nachtragend bin und ihm immer noch seinen dummen Dorfkind-Kommentar übelnehme, oder ob ich vergessen kann.
Ohne lange darüber nachzudenken, entscheide ich mich für Letzteres.
„Schon gut", winke ich lächelnd ab. „Du scheinst ziemlich vertieft zu sein."
„Aber hallo", grinst Harry breit. „Immerhin steht die Protagonistin kurz vor der Zwangsheirat und plötzlich tauchen zwei Kerle auf, die ihr verkünden, dass sie sich auf die Suche nach ihrer seit zehn Jahren verschollenen Jugendliebe machen wollen. Wie das wohl ausgeht? Es bleibt spannend!"
Selbst Harry muss bei seiner knappen, ironsichen Filmzusammenfassung laut lachen. Es ist so ansteckend, dass ich allein wegen seines Lachens grinsen muss.
Spätestens jetzt kann ich mir sehr gut vorstellen, weshalb er die Herzen seiner Fans höher schlagen lässt.
„Also doch kein überzeugter Bollywood-Fan?", hake ich schmunzelnd nach.
Zwiegespalten seufzt Harry.
„Naja, alles Mittel zum Zweck. Ursprünglich hatte ich mir erhofft, durch die indischen Melodien ein paar Anreize für neue Songs zu finden, aber irgendwie bleibt man dann doch erschreckend schnell daran hängen."
Sofort wird mein Lächeln noch breiter.
Seitdem ich hier sitze, habe ich noch kein einziges Mal auf den Bildschirm geguckt, sondern nur in Harrys Gesicht.
Wieso ist mir gestern nicht aufgefallen, wie perfekt er aussieht? Es ist nicht diese klassische Vollkommenheit, wie in Diegos Fall oder wie bei all den anderen Models, die vorgestern in dieser Bar herumgelaufen sind.
Mit seinen Grübchen und strahlenden grünen Augen hat er etwas so Eigenes und so Fesselndes, dass ich fürchte ihm innerhalb von Sekunden zu verfallen – und trotzdem schafft es Harry dabei auch noch irgendwie niedlich auszusehen.
Wow, wo denke ich nur hin? Konzentration.
Streng ermahne ich mich innerlich und lenke meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Gespräch.
„Hm, ich finde es irgendwie immer etwas reizlos, wenn man von vornherein weiß, wie das Ende sein wird", tue ich meine Meinung kund und richte meinen Blick nun doch zum ersten Mal auf den Fernseher, anstatt mich länger mit Harrys Gesicht und seiner Ausstrahlung zu beschäftigen.
Harry überlegt kurz.
„Aber es geht doch auch gar nicht darum, wie es am Ende sein wird, sondern darum, wie es dazu kommt und was auf dem Weg dorthin passiert."
Zwar sitze ich dieses Mal ruhig in Grimmys Wohnung, aber trotzdem bin ich, was Harry betrifft, genauso ratlos wie vorgestern in dieser Bar.
Was ist mit dem Kerl passiert, der mir dort begegnet ist und so unruhig und unentspannt gewirkt hat?
Einsichtig nicke ich, als ich über Harrys Worte nachdenke. „Auch wieder wahr."
„Apropos", sagt Harry, wendet sich vom Fernseher ab und stattdessen mir zu. Unwillkürlich liegt mein Blick damit auch schon wieder bei ihm, anstatt mich auf den Bildschirm zu konzentrieren. „Wie kommt es bei dir dazu, dass du jetzt hier in London bist?"
Bevor ich antworte, kommt mir wieder Harrys abfällig klingende Dorfkind-Bemerkung in den Sinn. Aber wie sollte man bei diesem Lächeln nachtragend sein?
„Ach, es wurde einfach Zeit für was Neues. Über eine Bekannte hab' ich von der Ausschreibung bei BBC Radio 1 erfahren, hab' überraschenderweise all die Bewerbungsrunden überlebt und hier bin ich."
Es ist die Kurzfassung meines Werdegangs, aber ich hoffe, dass es Harry genügt.
„Radio 1 nimmt nicht jeden, du musst wirklich gut gewesen sein. Was hast du studiert?", fragt Harry weiter.
Ein indirektes Kompliment, ein warmes Lächeln und aufmerksame, interessierte Fragen – der neue, unerwartete Harry bringt mich nach wie vor völlig aus dem Konzept.
„Journalismus und Anglistik", antworte ich knapp, aber wahrheitsgemäß. Gerne hätte ich ihn auch etwas gefragt, aber Harry lässt mir keine Zeit.
„Die Beste deines Jahrgangs?"
Ertappt seufze ich. Dass ich in der Schule und in der Uni immer schon sehr fleißig und ehrgeizig gewesen bin, hat nicht immer jedem gefallen und oft dazu geführt, dass die Leute schnell ein sehr langweiliges, biederes Bild von mir hatten. Genau diese Seite an mir wollte ich eigentlich in Deutschland zurücklassen.
Das ändert allerdings nichts daran, dass Harry voll ins Schwarze getroffen hat.
„Ja, schon", gestehe ich widerwillig.
Auf der Stelle schleicht sich ein triumphierendes Grinsen in Harrys Gesicht.
„Was gibt's da zu lachen?", will ich sofort wissen und muss, ohne es zu wollen, ebenfalls lächeln, sobald ich Harry ansehe.
Dieser zuckt gutgelaunt mit den Schultern.
„Es passt einfach zu meinem Bild von dir."
Da ist er mir einen großen Schritt voraus, denn ich weiß bei Harry keineswegs, woran ich bin.
„Welches Bild hast du denn von mir?", wage ich es zu fragen, obwohl ich mir noch nicht sicher bin, ob ich die Antwort wirklich hören will.
Prüfend mustert mich Harry, als wollte er seinen Eindruck noch ein finales Mal abklären, bevor er zu einer Einschätzung meiner Person ausholt.
„Du bist behütet aufgewachsen, hast seit der Grundschule dieselben Freunde und einen perfekten Schulabschluss, gefolgt von einem perfekten Uniabschluss. Du bist am Dorf aufgewachsen und wusstest immer schon, wohin dein Leben führen soll. Du wolltest am Besten ein Haus in deinem Heimatort bauen und dort 'ne Familie gründen. Aber auf einmal wolltest du doch ausbrechen und jetzt bist du hier."
Siegessicher grinst Harry weiter vor sich hin und beobachtet mich aufmerksam.
Er hat den Nagel so punktgenau auf den Kopf getroffen, dass es mir Angst macht. Im Gegensatz zu mir scheint er mich tatsächlich zu lesen wie ein offenes Buch.
Und trotzdem fühle ich mich sofort wieder angegriffen, weil Harry so schief grinst, sobald er über mich und mein Leben spricht.
„Aber warum du dich dafür schämst, versteh' ich nicht", redet Harry weiter, bevor ich mich wieder in meinem Gräuel gegen ihn verlieren kann.
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. Harrys Menschenkenntnis ist bemerkenswert.
„Ich schäme mich nicht", versuche ich mich zu verteidigen, aber glaube mir nicht einmal selbst, was ich da von mir geben.
Natürlich ist es mir mein ödes, ereignisloses Leben unangenehm, wenn mich Menschen umgeben, die so viel mehr erlebt haben.
„Aber es ist dir unangenehm", glaubt Harry trotzdem zu wissen. „Und das sollte es nicht. Ein bodenständiges Leben ist viel öfter auch ein glückliches Leben, als wenn man ständig auf der Jagd nach Abenteuern und rastlos ist."
Ungläubig beobachte ich den Menschen mir gegenüber, der so ehrlich und vernünftig über das Leben spricht und so unheimlich lieb wirkt. Nicht nur sein Auftreten, sondern auch seine Worte haben nichts mit dem Harry von Freitagabend gemeinsam.
An diesem Punkt, als er mir mein bisher recht langweiliges Leben schönreden will, ziert eine tiefe Denkfalte Harrys Stirn. Auf einen Schlag wirkt er so leise und zerbrechlich, dass ich ihn am Liebsten in den Arm nehmen würde.
Bevor ich allerdings etwas tun oder sagen kann, platzen Diego und Grimmy in unsere Zweisamkeit. Plump lassen sie sich neben Harry auf die Couch fallen.
„So, Diego hat dank der Zwiebeln geheult wie ein Schlosshund und das Chili köchelt", bringt uns Grimmy auf den neusten Stand in der Küche.
Das Gespräch zwischen Harry und mir ist damit wohl beendet.
Harry schenkt mir noch ein sanftes Lächeln, als er bedauernd mit den Schultern zuckt und dann auf Grimmys Gerede einsteigt, indem er ein paar Anekdoten über dessen Kochkünste zum Besten gibt.
Ich hingegen lehne mich in dem Ohrensessel zurück und folge lachend den Gesprächen der drei Männer, die dort auf dem Sofa ihre Küchentipps austauschen.
Zum ersten Mal bin ich heilfroh darüber, Grimmys Rat beherzigt und zu diesem Tag einfach „Ja" gesagt zu haben. Was ich heute erlebt habe, war sogar noch unerwarteter als der gesamte Freitagabend.
Zwar kann ich ihn immer noch nicht einschätzen, aber vielleicht steckt in Harry doch mehr als ich gedacht habe und er ist doch ein herzlicherer und offenerer Mensch als erwartet. Allerdings verstehe ich Grimmys seltsames Verhalten am Freitag und seine Warnungen nun noch weniger.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro