Prolog
4 Jahre zuvor
~ ~ ~ Ihr Vater war ein besonderer Mann. Da war es kein Wunder, dass seine Tochter zu einem außergewöhnlichen Mädchen heranwuchs. ~ ~ ~
Vergnügt rannte das zwölfjährige Mädchen den langen Flur entlang. Die Sohlen ihrer dünnen Schuhe hallten auf den rauen, behauenen Steinen wider. Die langen, rotbraunen Haare wehten hinter ihr her. Der Zopf, den ihre Zofe am Morgen sorgfältig geflochten hatte, hatte sich längst aufgelöst und einzelne Strähnen ihren Weg in die Freiheit gefunden.
Sie hasste die strenge Routine ihres Tages. Geweckt werden, sich dann unter Aufsicht anziehen müssen, was ihre Kammerfrau für sie herauslegte, still zu sitzen, bis ihre Haare perfekt frisiert waren, stets artig lächelnd die Anweisungen ihrer Mutter, ihrer Zofe oder ihrer Lehrer zu befolgen.
„Sitz still. Den Rücken gerade. Lächle. Rede nicht. Antworte, wenn du gefragt wirst. Tu dies nicht. Lass das." Tagein, tagaus eine endlose Tirade lieblos dahin geblätterter Befehle.
Es gab nur Regeln in ihrem Leben, die sie zu befolgen hatte und keinen Raum für Vergnügen.
Wenn ihre Mutter sie in diesem Augenblick sehen könnte, wie sie so ziemlich alle ihrer auferlegten Regeln in den Wind schoss. Ein Mädchen aus gutem Haus rennt nicht. Deine Frisur muss tadellos sitzen. Es geziemt sich nicht, so außer Atem zu sein. Es geziemt sich nicht Spaß zu haben. Es geziemt sich nicht, dies zu tun oder das. Ein Mädchen durfte sich nicht vergnügen. Es war so ungerecht. Ein Junge durfte alles, ein Mädchen nichts. Sie wollte kein Mädchen sein.
Sie hatte dieses Leben nie gewollt. Sie hatte genug. Folglich hatte sie das einzige getan, was ihr in den Sinn kam, und einen Ausweg gesucht. Und sie wäre nicht Annabelle von Waldhafen, wenn sie diesen Ausweg nicht gefunden hätte.
„Es tut mir leid, Herr Tanzmeister." Artig, wie sie es gelernt hatte, hatte sie vor ihm geknickst und dabei ihr unschuldigstes Lächeln aufgesetzt. „Aber meine Tanzstunde muss leider verschoben werden. Der Herr Musikus wartet bereits im Klavierzimmer auf mich. Es gab wohl ein Missverständnis." Ohne seine Antwort abzuwarten, hatte sie ihren verdutzten Tanzlehrer in dem kleinen Ballsaal stehenlassen, der ihnen für den Unterricht diente.
Mit sicheren Schritten war sie zur Tür gegangen und hinausgeschlüpft, hatte die schwere Eichentür ins Schloss fallenlassen und war entschlossen den Gang entlang geeilt. Zuerst noch mit zügigen Schritten, bald darauf in vollem Tempo. Auf der ausgetretenen Wendeltreppe war sie mit einem Dienstboten zusammengestoßen. Sie hatte das Chaos, das sie angerichtet hatte, ignoriert und sich aufgerappelt und war ohne ein Wort der Entschuldigung weitergeeilt.
Sie durfte keine Zeit verlieren. Und für gutes Benehmen und Anstand hatte sie gerade keine Zeit übrig.
Vor einer unscheinbaren, niedrigen Holztür im Dienstbotentrakt hielt sie an. Ihr Atem ging schnell und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Hier war um diese Zeit kein Mensch unterwegs. Die Dienstboten hatten in der Küche oder den Ställen zu tun, waren mit Aufräumen, Putzen oder dem Nähen und Ausbessern von Kleidung beschäftigt. Trotzdem schaute sich das zierliche Mädchen vorsichtig nach allen Seiten um, ehe sie die Türe öffnete und leise in den dahinter liegenden Raum huschte. Sie brauchte einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie blinzelte. In diesem kleinen Kämmerchen wurden Bettlaken, Vorhänge, Kerzen und allerlei mehr aufbewahrt. Durch einen Zufall hatte sie dieses Versteck auf einem ihrer früheren Streifzüge entdeckt. Es war einer der Orte, an denen sie sich versteckte, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Hier konnte sie stundenlang lesen oder sich die unglaublichsten Abenteuer ausdenken, ohne dass sie jemand fand. Natürlich bekam sie Ärger, wenn sie wieder auftauchte und ihre Tanzstunde oder den Nähunterricht verpasst hatte. Aber wie sehr man sie auch ausquetschte, ihre Verstecke gab sie nicht Preis. Niemals. Selbst unter Androhung der strengsten Strafen nicht.
Mit wenigen Schritten eilte sie durch den Raum an das kleine, verstaubte Fenster und öffnete den Riegel. In einer Ecke hatten sich Spinnenfäden gebildet. Es kam nicht oft jemand hierher. Mit einer entschlossenen Bewegung ihrer Hand wischte sie die klebenden Fäden fort und strich sie am Vorhang ab. Sie musste mehrmals am Fenstergriff rütteln, ehe das Fenster endlich nachgab und sich öffnete. Kühle, frische Luft strömte ihr entgegen.
Ihre Hände glitten zu ihrem Rücken und geschickt öffnete sie die Ösen ihres Kleides. Hastig zog sie sich den blauen Stoff über den Kopf und legte ihn achtlos neben die sorgsam gefalteten Bettlaken. Jetzt stand sie nur in einem weißen Unterkleid bekleidet vor dem geöffneten Fenster. So konnte sie nicht gehen. Sie zog ein graues, schlichtes Kleid aus einem der ordentlich gefalteten Stapel an der Wand und brachte ihn dadurch ganz schön in Schieflage. Das Kleid war ihr etwas zu lang, aber es würde für den Zweck reichen, wenn sie es mit einem Band am Bauch enger knüpfte. Sie hatte es einem der Mägde von der Wäscheleine gestohlen und am Tag zuvor unter dem Stapel versteckt.
Mit geübten Griffen schlüpfte sie in das Kleid und knotete einen vergilbten Ledergürtel um ihre schmale Taille. Wenigstens würde das Kleid so halten.
Sie trat entschlossen ans Fenster, schwang ein Bein auf die Fensterbank und zog sich nach oben. Dann streckte sie beide Beine ins Freie. Die Höhe machte ihr keine Angst.
Sie musste sich etwas nach unten fallen lassen, bis sie den dicken Ast erreichen konnte, der sich ein wenig unterhalb ihrer Reichweite dem Gemäuer entgegenstreckte.
Mit dem Leichtsinn der Jugend vollführte sie diesen ersten gewagten Sprung in die Freiheit. Von da an ging es spielend leicht. Sie balancierte zu dem dicken Stamm der alten Eiche, der ihren Händen Halt bot und ließ sich darauf niedersinken, bis ihre Füße den nächstgelegenen tieferen Ast ertasteten. Geschickt wie eine Katze kletterte sie den Stamm auf diese Art Ast für Ast hinunter. Ihren Weg hinab hatte sie sich schon vor Tagen überlegt. Der letzte Ast über dem Boden war etwas zu hoch für sie um den Untergrund zu erreichen. Sie musste sich daran hängen und sich die letzten Meter fallenlassen. Aber zuvor band sie ein langes Hanfseil um die raue Rinde, damit sie später wieder daran hinaufklettern konnte. Mit geübten Griffen überprüfte sie ihren Knoten und nickte zufrieden. Wenn sie Glück hatte und keiner ihren Schwindel aufdeckte, würde sie zurück sein, ehe jemand sie vermissen konnte.
Sie legte sich auf den Ast, griff mit den Händen um ihn herum und ließ sich langsam nach unten sinken. Ohne zu überlegen, sprang sie ab und landete sicher auf ihren Füßen. Geschafft. Sie grinste selbstzufrieden.
Wieder einmal war sie ihrem goldenen Käfig entkommen. Sie atmete tief ein und spürte wie die kühle, würzige Luft des Waldes durch ihre Lungen strömte. Sie schloss ihre Augen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie lieber grün oder braun sein wollten und lauschte.
In den Bäumen zwitscherten die Vögel und im Gras zirpten die Grillen. Und sie war ein Teil dieser Welt. Sie breitete ihre Arme aus und drehte sich einmal im Kreis, ehe sie ihre Augen öffnete und schnell hinter ein paar Heckenrosen außer Sichtweite verschwand. Immer noch mit einem glückseligen Grinsen im Gesicht.
Die Möglichkeiten, die die Wälder boten, faszinierten sie. Sie wollte auf Bäume klettern, den Wind um die Nase spüren und frei sein. Und jedes Mal, wenn sie wieder ein wenig der verbotenen Freiheit gekostet hatte, merkte sie, dass sie nicht zurück wollte. Dass sie nicht eingesperrt sein wollte.
Dass ihr Leben sie nicht glücklich machte, obwohl sie alles hatte, was man sich nur wünschen konnte.
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