7) Von Menschen und Mädchen - oder Worte im Wald
„Armselig der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft."
Leonardo da Vinci (1452 - 1519)
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Die Sonne stand bereits hoch am Himmel über den beiden Reitern, als diese endlich anhielten und Rast machten.
Sie waren gut vorangekommen, obwohl das Gelände immer unwegsamer wurde und sich allmählich immer steiler den Felsen näherte, die hoch über den Baumwipfeln in den blauen Himmel emporragten.
„Wohin reiten wir?", fragte Abby mit einem skeptischen Blick auf die sanft ansteigenden baumbestandenen Hügel vor ihnen. Es gab in diesem Wald weitaus wegsameres Gelände, das ihnen ein schnelleres Vorwärtskommen sichern würde.
„Dort hinauf", Kendrik zeigte mit dem Finger vage in Richtung der spärlich bewachsenen Felsen. Sie folgte seinem Blick und kniff die Augen zusammen.
„Dort oben gibt es eine Höhle. Da können wir die Nacht verbringen und morgen führe ich uns durch einen versteckten Pass und dann sind wir auf der anderen Seite. Kaum jemand kennt diese Berge. Die meisten reiten umständlich um sie herum, aber so sind wir schneller."
„Aber es wird anstrengender", stellte das Mädchen fest und zupfte sich ein paar Blätter aus den langen Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.
„Bis jetzt hast du gut durchgehalten. Da wirst du das auch schaffen." Kendriks Stimme klang abfällig. „Aber du hast Recht. Ab hier müssen wir zu Fuß gehen, fürchte ich."
Die kleinen aber kräftigen Waldpferde grasten in aller Ruhe und genossen die Pause. Auch Annabelle tat es gut, sich einmal ausgiebig zu strecken und wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Obwohl sie reiten konnte, war sie es nicht gewohnt, zwei Tage am Stück im Sattel zu sitzen. Aber sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als ein Wort darüber zu verlieren und Kendrik eine weitere Gelegenheit bieten, sie zu necken. Sie hatte keine Ahnung, was sie getan hatte, dass er sie nicht mochte.
Insgeheim freute sie sich sogar darauf, die nächste Etappe zu Fuß zurückzulegen. Ihre Schenkel schmerzten von der ungewohnten Haltung und sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Rücken. Reiten und auf dem harten Boden schlafen, waren auf Dauer keine gute Kombination, ganz abgesehen davon, dass sie es nicht gewohnt war. Kendrik hingegen schien keinerlei Probleme damit zu haben. Sie musterte den Jungen aus den Augenwinkeln.
Er saß im Gras, hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ganz offensichtlich fühlte er sich hier draußen wohl, aber ihr war inzwischen bewusst geworden, dass er dabei gerne auf ihre Gesellschaft verzichtet hätte und sie ihm regelrecht lästig war.
„Wie kommt es eigentlich, dass du dich hier so gut auskennst?", fragte sie, obwohl sie sich einen Augenblick zuvor noch geschworen hatte, ihm keine unnötigen Fragen mehr zu stellen und sich so zu verhalten, als wäre sie gar nicht da. Aber schließlich hatte ihre Neugier doch gewonnen.
Er öffnete seine Augen und drehte sich zu ihr. „Ich habe das Gelände erkundet."
„Einfach so?"
„Warum nicht? Was stört dich daran? Ich wollte wissen, was sich in diesen Bergen verbirgt. Und wie du siehst, kann es nie schaden, seine Umgebung zu kennen." Er öffnete seine Flasche und nahm einen großen Schluck. In den hochgelegenen Felsen sammelte sich das Wasser und floss in sprudelnden, kleinen Rinnsalen ins Tal. Sie fanden genügend Gelegenheiten ihre Wasservorräte aufzufüllen und hatten keinen Grund, mit ihren Vorräten hauszuhalten. Trotzdem musste er nicht mit ihr reden, wie mit einem kleinen Kind.
„Das habe ich nie in Frage gestellt." Jetzt klang ihre Stimme ebenfalls patzig. War es denn so schwer, ein vernünftiges Gespräch mit ihr zu führen? „Ich habe mich bloß gefragt, aus welchem Grund du so oft hier unterwegs bist." Ihren Entschluss ihn in Ruhe zu lassen, hatte sie schon wieder völlig vergessen.
Auch er schien zu merken, dass sie Antworten wollte und ihn so schnell nicht in Ruhe lassen würde.
„Hin und wieder kommt es vor, dass ich verwöhnte Mädchen aus Waldhafen retten muss." Sein Mund öffnete sich zu einem leichten Grinsen. Eine angenehme Abwechslung zu seiner sonst so mürrischen Miene. Aber Annabelle ließ sich nicht gerne für dumm verkaufen und erst recht nicht als verwöhntes Mädchen abstempeln. Schmollend kaute sie auf ihrer Unterlippe.
„Ich bin kein verwöhntes Mädchen!" Ein paar Vögel stoben mit erschrockenem Gezwitscher aus den Baumwipfeln, weil sie lauter als nötig gesprochen hatte.
Er lachte laut und seine dunklen Augen blitzten. „Wer behauptet denn, dass ich von dir rede? Manchmal muss ich auch eingebildete Mädchen retten, die alles was ich sage, viel zu persönlich nehmen." Jetzt konnte er sich ein schiefes, spitzbübisches Grinsen nicht mehr verkneifen, bei dem sich Lachfalten um seine Augen legten.
Sie hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst, um ihm das dämliche Grinsen auszutreiben. Vielleicht war es doch besser, wenn sie sich anschweigen, anstatt sich miteinander zu unterhalten, wenn das dabei herauskam.
Wenigstens schien er ihren Ärger zu bemerken.
„Ach komm schon." Er machte eine besänftigende Geste mit seiner Hand. „Manchmal muss ich auch Mädchen retten, die so tun, als wäre der Wald ihre zweite Heimat und sich gar nicht so schlecht anstellen beim Fische fangen und Frühstück machen."
„War das etwa ein Kompliment?" Sie verdrehte die Augen, um den leichten Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu verbergen.
„Vielleicht." Er lächelte wieder verschmitzt und seine dunkelbraunen Augen verengten sich dabei zu schmalen Schlitzen.
„Glaub jetzt bloß nicht, dass ich mir etwas darauf einbilde. Du hast uns bisher nur geführt, aber wir wissen beide, wem wir es verdanken, dass wir etwas im Bauch haben." Trotzig reckte sie ihr Kinn.
„Stimmt. Da hat mein Onkel wirklich gute Arbeit geleistet. Und wie es aussieht muss ich mich wirklich bei ihm bedanken. Und bei dir", fügte er wohlwollend hinzu.
„Dann tu es doch!", forderte sie ihn heraus.
Das Grinsen verblich. Er schaute sie fragend an. „Was soll ich tun?"
„Du wolltest dich gerade bei mir bedanken. Also was ist, ich warte." Sie stemmte ihre Hände in die Seite und sah ihn erwartungsvoll an.
Er schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich. Aber wenn du darauf bestehst. Danke."
„Geht doch. War das jetzt so schwer?", neckte sie. Sie konnte dieses Spiel auch umdrehen. So machte es ihr ohnehin viel mehr Spaß.
Kendrik war allerdings klug genug, sich nicht auf ihren Spott einzulassen. Für seine Verhältnisse hatte er mehr als genug mit ihr geredet, obwohl es keinen Anlass dafür gab. Viel lieber hätte er geschwiegen, dem Gesang der Vögel gelauscht und den Anblick der Natur genossen. Alleine.
Er mochte keine Menschen und am allerwenigsten Mädchen. Er liebte die einsamen Tage im Wald. Ihm genügte es, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und die Freiheit zu genießen, die sich ihm bot. Er hasste es geradezu, wenn er in der Stadt eingepfercht sein und in einer engen, zugigen Kammer schlafen musste, zwischen schmutzigen Lehmwänden und unter undichten Rieddächern. Viel lieber ließ er sich den Wind um die Nase und die Sonne ins Gesicht scheinen.
Aber zu seinem großen Erstaunen stellte er fest, dass ihm Annabelles Gesellschaft bisher nichts ausmachte, selbst wenn sie ihm hin und wieder Kontra gab. Im Gegenteil, es gefiel ihm sogar. Sie tat was er sagte, machte sich nützlich und war die meiste Zeit angenehm still. Und das, obwohl sie ein Mädchen war. Immer wieder musste er sie voller Verwunderung betrachten, und sich bewusst machen, dass er nicht träumte und sie wirklich da war.
„Du hättest einfach nur sagen brauchen, dass ich mich für alles bei dir bedanken soll. Wenn es das ist, was du möchtest." Dass sie ihn weit weniger störte, als er befürchtet hatte, bedeutete allerdings nicht, dass er sie verstand.
„Nein, das ist nicht was ich möchte. Eigentlich möchte ich bloß, dass du mich anständig behandelst und wir vernünftig miteinander reden", gab sie zu.
„Aber das tun wir doch!" Er gab vor, nicht zu verstehen, was sie meinte. Aber er wusste, dass er ihr vielleicht Unrecht getan hatte. Sie konnte nichts dafür, dass sie war wer sie war und noch weniger, dass sie in diese Situation geraten war. Mit Sicherheit konnte sie sich ebenfalls Besseres vorstellen, als ihre Tage und Nächte hier mit ihm im Wald zu verbringen.
Er konnte sich ja auch Anderes vorstellen, als mit ihr durch den Wald zu hasten. Viel lieber hätte er sich nämlich ohne sie durch das Unterholz treiben lassen und sich Zeit genommen, um in aller Ruhe zu jagen und dabei die Gegend zu erkunden. Es gab noch so viele Gebiete in diesem riesigen Wald, die er nicht kannte.
„Tun wir nicht! Wir streiten oder schweigen uns an. Was ist dein Problem?", fragte sie geradeheraus.
Er mochte ihre offensive Art. Er hatte schnell gemerkt, dass sie sich nichts gefallen ließ und den Dingen gerne auf den Grund ging. Ohne Rücksicht auf Verluste, auch wenn ihm nicht verborgen geblieben war, dass sie in manchen Bereichen sehr empfindlich reagierte. So hasste sie es zum Beispiel, als verwöhntes, eingebildetes und zimperliches Mädchen bezeichnet zu werden. Und er glaubte auch den Grund dafür zu kennen. Sie machte nämlich - wie er zu seiner großen Erleichterung feststellen musste - kein bisschen den Eindruck eines zu sein.
„Ich habe kein Problem. Ich bin nur lieber alleine unterwegs."
„Tut mir leid, dass du jetzt mich an der Backe hast. Aber glaube mir, ich wäre auch lieber woanders." Der trotzige Tonfall hatte sich zurück in ihre Stimme geschlichen.
„Wo denn? In einem kuscheligen, weichen Bett mit zehn Bediensteten, die dir jeden Wunsch von den Augen ablesen?" Er konnte es einfach nicht lassen. „Tut mir leid, aber damit kann ich nicht dienen."
Es amüsierte ihn, ihren beleidigten Gesichtsausdruck zu studieren.
„Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn du keinen Augenblick in Ruhe gelassen wirst. Oder wenn du nicht eine Stunde am Tage wenigstens für dich alleine hast und selbst entscheiden kannst, was du tust. Oder wenn dein Tag bereits damit beginnt, dass du stundenlang still sitzen musst, während dir jemand an den Haaren herumzieht, damit du auch ja schön aussiehst. Oder wie es ist, sich in ein viel zu schweres, viel zu enges Kleid zwängen zu müssen, in dem man weder atmen noch sich bewegen kann." Jetzt war sie wirklich aufgebracht. Was bildete sich dieser Junge eigentlich ein? Er kannte sie kein bisschen.
Ihr plötzlicher Gefühlsausbruch überforderte ihn tatsächlich.
„Du hast Recht. Das hört sich wirklich nicht nach Spaß an. Du musst dein Leben wirklich hassen. Ich dachte eigentlich, dass Mädchen solche Dinge lieben." Er konnte sie allmählich immer besser verstehen, aber er war überzeugt gewesen, dass Mädchen es liebten, schöne Kleider zu tragen und sich frisieren zu lassen und all die Dinge.
„Ich nicht. Das einzige, was mein Leben erträglich macht, ist dein Onkel und die Stunden, die wir draußen im Wald verbringen."
„Glaub mir, dass kann ich verstehen. Mein Onkel hat dir viel beigebracht", gab er anerkennend zu. „Ich hätte es wirklich schlimmer treffen können."
Zu seiner Erleichterung wirkte sie schon fast wieder versöhnt. Kendrik fehlte einfach die Übung im Umgang mit Mädchen. Schließlich waren in Waldhafen nicht umsonst Gerüchte im Umlauf, wonach Silvans Neffe mehr Interesse an Männern hegte, als am anderen Geschlecht. Er nahm sich vor, ein wenig rücksichtsvoller mit ihr zu sein. Schließlich tat sie ihr Bestes, sich nützlich zu machen und stellte sich dabei sogar ziemlich geschickt an. Sie machte es ihm leicht, also konnte er wenigstens dasselbe für sie tun.
„Du bist nicht oft bei deinem Onkel in Waldhafen, oder? Jedenfalls habe ich dich zuvor noch nie getroffen und er hat auch nur selten von dir erzählt." Sie riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nun, von dir hat er mir auch nichts erzählt", gab Kendrik zurück.
„Verschwiegenheit war eine der Bedingungen meines Vaters. Es sollten nicht mehr Leute als unbedingt nötig von meinem Unterricht erfahren, um meinen Ruf und meine Sicherheit nicht noch weiter zu gefährden", erklärte sie. „Jedes Mal, wenn wir ausreiten, muss ich mich durch den Dienstbotenausgang hinausschleichen, damit mich keiner erkennt. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde", fügte sie eilig hinzu. Annabelle wollte ihm keine Gelegenheit mehr geben, sich über sie lustig zu machen.
„Aber du hast Recht. Ich bin nicht oft in Waldhafen. Meine Mutter lebt in Nordstadt. Sie ist alleine und hat sonst niemanden, außer ihrer alten Hausmagd Nilla."
Annabelle zog die Augenbrauen in die Höhe. "Also doch Personal, das dir jeden Wunsch von den Lippen abliest! Kein Wunder, dass du so unselbstständig bist!" Sie grinste, aber er bevorzugte es, ihre Stichelei dieses eine Mal wenigstens zu ignorieren.
„Nein. Meine Mutter und Nilla haben eher ein freundschaftliches Verhältnis. Mutter lässt sie bei sich wohnen und Nilla hilft im Haushalt. Sie war schon bei uns, als ich geboren wurde."
„Es muss schön sein, eine Mutter zu haben, die für einen da ist." Irgendetwas an ihrer leisen Stimme und den Worten rührte ihn. Beides klang so bitter, dass er gegen einen Kloß in seinem Hals ankämpfen musste.
„Meine Mutter ist eine tolle Frau. Sie hat mich alleine großgezogen. Silvan hätte sie gerne nach Waldhafen geholt, aber sie wollte ihr kleines Haus in Nordstadt nicht aufgeben", erklärte er. „Und so lege ich alle paar Wochen den Weg zwischen Nordstadt und Waldhafen zurück, wenn sie Nachrichten für ihren Bruder hat."
Tatsächlich gab es in Kendriks Leben keine weibliche Person, für die er die gleiche Bewunderung aufbrachte wie für seine Mutter. Vielleicht war das der Grund, weshalb er kein gutes Bild von Mädchen im Allgemeinen hatte. Bisher hatte er keine getroffen, die seiner Mutter auch nur ansatzweise ähnlich war.
„Das muss aufregend sein, einfach so durch den Wald reiten zu können." Die Bitterkeit in ihrer Stimme war Bewunderung und Neid gewichen.
„Ja, aufregend und anstrengend, aber ich liebe es. Aber genug geredet, du altes Waschweib, es wird Zeit, dass wir aufbrechen. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, und wenn wir nicht aufpassen, wird es Nacht, bevor wir die Höhle erreichen. Und heute würde ich dir gerne beweisen, dass ich ein ganz guter Jäger und Fallensteller bin und zur Abwechslung einmal selbst für unser Abendessen sorgen."
Und zu ihrem Erstaunen konnte sie sogar über seinen Scherz lachen. Die beiden unfreiwilligen Weggefährten waren sich keineswegs so unähnlich wie sie dachten, auch wenn es längst keiner der beiden Sturköpfe wahrhaben wollte.
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Und dann gibt es noch die Kapitel, bei denen ich mich nicht für einen Titel entscheiden kann. Sind doch beides hübsche Alliterationen. :)
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