20) Alltägliche Sorgen
„Tröste dich, die Stunden eilen,
und was all dich drücken mag,
Auch das Schlimmste kann nicht weilen,
und es kommt ein andrer Tag."
Theodor Fontane (deutscher Schriftsteller, 1819 - 1898)
~ ~ ~
Nicht erst seit Kurzem machte sich Deina Gedanken um ihren Sohn und vor allem um seine Zukunft. Es lag in der Natur der Mütter, sich allzu viele Sorgen über den Nachwuchs zu machen, aber Deina zählte sich nicht zu der Sorte überfürsorgliche Glucke.
Sie wusste, dass ihr Sohn ein ungewöhnlicher junger Mann war. Er war bereits in jungen Jahren ein sehr außergewöhnliches Kind gewesen und bis zum heutigen Tag hatte sich nichts daran geändert. Sie machte sich selbst dafür verantwortlich. Hätte er einen Vater in seinem Leben gehabt, der ihm Vorbild hätte sein können, würde er vielleicht anders über so manches denken. Aber das Schicksal hatte es nicht so gewollt. Der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte, war gestorben, kurz bevor Kendrik geboren worden war. Sie hatte ihren Sohn nach seinem Vater benannt und es nie wieder gewagt, jemand anderes in ihr Herz zu lassen.
Sie dachte noch oft an ihn, aber selbst Kendrik hatte sie nie viel über seinen Vater erzählt. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an das, was sie viel zu früh verloren hatte. Ihr Sohn hatte nie nach seinem Vater gefragt. Und selbst wenn sie sich hin und wieder dabei ertappte, wie sie dachte, dass es gut sei, wenn er wenigstens ein paar Dinge über seine Herkunft wusste, so fand sie doch keine Möglichkeit das Gespräch zu eröffnen. Nicht nach so langer Zeit und nicht, ohne alte Wunden aufzureißen.
Sie liebte ihren Sohn und würde nichts auf der Welt an ihm ändern wollen, redete sie sich ein.
Bis auf eine klitzekleine Sache vielleicht. Sie schmunzelte und fing den Blick aus denselben nachdenklichen graublauen Augen auf, die Kendrik von ihr geerbt hatte. Bis auf die Züge seines Gesichts hatte er so wenig von seinem Vater. Er war ihr Sohn, durch und durch, und manchmal erschreckte sie der Gedanke daran. Auch sie hatte ihr Herz nur schwer vergeben und nach dem viel zu frühen Tod ihres Mannes ein einsames Leben geführt.
Sie fürchtete, dass er auch diese Eigenschaft, wie so viele andere, von ihr geerbt hatte.
Aber seit er das Mädchen von seinem letzten Ausflug nach Waldhafen mitgebracht hatte, erkannte sie ihn fast nicht wieder. Sie hatte ihren Sohn noch nie so aufmerksam und redselig erlebt, und so oft wie in den letzten Tagen hatte sie ihren Sohn in seinem ganzen achtzehn Lebensjahren noch nie lachen sehen. Annabelles Gesellschaft tat ihm gut. Sie spürte seinen Blick noch immer auf ihr ruhen. Fragend gehobene Augenbrauen. Selbst sein Mienenspiel glich dem ihren. „Mutter? Worüber denkst du nach?"
Selbst den Verstand und Scharfsinn schien er von ihr geerbt zu haben. Ihm entging nichts.
Eine Sache gab es wirklich, die sie gerne an ihrem Sohn ändern würde, aber diese hatte nichts mit seiner Auffassungsgabe oder seiner Intelligenz zu tun, sondern vielmehr mit seinem Erscheinungsbild. Sie streckte die Hand aus und liebkoste auf eine mütterliche Art und Weise seine viel zu langen Haare, die ihm bei jeder Bewegung ins Gesicht fielen, wenn er sie nicht mit einem Band zusammenfasste.
„Ich könnte sie dir schneiden", schlug sie vor. Wenn er so wie in diesem Augenblick neben Annabelle mit ihren kurzen Haaren saß, wirkte seine schulterlange Mähne noch unordentlicher.
Ihre Haare waren gerade lang genug, damit sie sie hinter ihre Ohren stecken konnte. Sie wirkte äußerst zufrieden damit und es stand ihr außerordentlich gut. Daran, dass sie Tag und Nacht Kendriks alte Kleider trug, von der Deina glücklicherweise eine ganze Truhe voll aufbewahrt hatte, hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, die zu klein gewordenen Hemden und Hosen ihres Sohnes wegzugeben und außerdem benutzte sie die alten Stoffe, um Kendriks abgewetzte Sachen damit auszubessern. Abby weigerte sich, Deinas Kleider zu tragen oder sich etwas Neues schneidern zu lassen. Sie in Mädchenkleidern zu sehen, wäre wahrscheinlich ein seltsamer Anblick für Deina, so sehr hatte sie sich an Abbys burschikoses Erscheinungsbild gewöhnt. Und falls man noch immer nach ihr suchte, war es sicherer so.
Kendrik schob ihre Hand fort und strich eine widerspenstige Strähne seines dunklen Haares hinter die Ohren. „Lass das, Mutter", entgegnete er genervt.
„Aber es sieht unmöglich aus. Findest du nicht auch, Annabelle?" Deina war gewillt ihren Weg zu gehen und sich notfalls weiblichen Beistand und eine Verbündete zu suchen. Außerdem interessierte sie Abbys Meinung tatsächlich.
Annabelles grünbraune Augen wanderten über Kendriks Haare, während sie nach den passenden Worten suchte. Sowohl Deina als auch ihr Sohn schauten sie erwartungsvoll an.
„Nun, ja -" Sie schüttelte den Kopf, unfähig ihren begonnenen Satz zu beenden. „Wenn er es so mag." Sie entschied sich für den Weg der Diplomatie.
„Aber ich wollte doch wissen, wie du es findest?", hakte seine Mutter nach. „Er könnte sehr hübsch aussehen mit einem ordentlichen Haarschnitt. Findest du nicht?"
Die Fragen waren Annabelle mehr als nur unangenehm, was daran zu erkennen war, dass sich eine Röte der Verlegenheit auf ihren Wangen ausbreitete.
Deina nahm ihre Reaktion mit Genugtuung zur Kenntnis.
„Mutter, du bist unmöglich." Kendrik hatte ihr Spiel durchschaut und versuchte es mit einer Ablenkungstaktik, um die Aufmerksamkeit von Annabelle zu lenken. „Du findest also deinen eigenen Sohn nicht hübsch?", fragte er seine Mutter herausfordernd.
„Doch natürlich! Der hübscheste Sohn, den ich habe." Deina grinste. „Aber er könnte etwas mehr auf sich achten."
„Du könntest mich auch einfach darum bitten, wenn es dir so wichtig ist. Aber eigentlich finde ich, dass ich zu alt bin, um mir die Haare von meiner Mutter schneiden zu lassen wie ein kleines Kind."
Deina lachte und auch Annabelle fiel erleichtert in ihr Lachen mit ein, da keiner mehr ihre Meinung hören wollte und die Gefahr zwischen die Fronten zu geraten, somit gebannt schien.
„Na gut, es war nur ein Vorschlag. Mach, was du willst." Deina gab klein bei. Manchmal, so wusste sie aus Erfahrung, war genau das der Weg, der zum Ziel führte, und es war gar nicht mehr nötig, als dem Gegenüber die Chance zu geben, selbst zu entscheiden.
Auch dieses Mal war ihre Strategie von Erfolg gekrönt.
„So schlecht war der Vorschlag gar nicht." Prüfend fuhr sich Kendrik mit seinen langen Fingern durch seine viel zu langen Haare. „Aber wenn, dann ist es eine Aufgabe für Annabelle. Schließlich musste ich ihr schon zwei Mal die Haare schneiden und jetzt wäre es an der Zeit, dass sie sich einmal bei mir versucht." Er grinste sie an und erneut stieg ihr eine Röte ins Gesicht.
Erneut stand sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und fand zwei graublaue Augenpaare auf sich gerichtet. „Gut, wenn du darauf bestehst. Aber ich übernehme keine Verantwortung für das Ergebnis."
„Schon in Ordnung. Schlimmer als das, was ich bei dir angerichtet habe, kann es ja kaum werden." Er war zurück bei seinen üblichen Scherzen, sehr zu Annabelles Erleichterung. Auch wenn diese aus dem Mund ihres Sohnes für Deina absolut neu und ungewohnt waren.
Eine Viertelstunde später saßen die beiden tatsächlich draußen im Garten, Abby bewaffnet mit einem Messer und dem Plan, Kendriks Haare wenigstens ein bisschen zu kürzen.
Deina hatte beschlossen, dass es am besten sei, die beiden dabei alleine zu lassen und hatte sich zurückgezogen, um ein paar alte Hemden für Kendrik auszubessern.
„Halt still!", befahl das Mädchen. „Sonst kann ich für nichts garantieren." Er gehorchte artig und sie legte los. Kürzte Strähne für Strähne seines dunkelbraunen Haares, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.
Sie begutachtete ihn prüfend von allen Seiten. Besserte hier und da noch etwas aus, lief einmal komplett um ihn herum und fand das Ergebnis eigentlich ganz gelungen.
„Und? Gefällt dir was du siehst?", wollte er mit einem schelmischen Grinsen von ihr wissen.
Und zum wiederholten Mal an diesem Tag spürte Annabelle, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.
„Ja, bin zufrieden mit dem Ergebnis. Dafür, dass ich das zum ersten Mal gemacht habe, ist es ganz gut geworden. Deine Mutter ist bestimmt zufrieden, Krik." Rik war Deinas Kosename für ihn und fühlte sich unpassend und falsch aus ihrem Mund an. Krik gefiel ihr, beschloss sie, und würde ihrer werden.
„Na dann, komm mit und lass uns meine Mutter nach ihrer Meinung fragen, Abelle." Er zog die letzte Silbe ihres Namens betont lang. Schlagfertig war er, das musste man ihm lassen.
Gut gelaunt nahm er Annabelle an der Hand und zog sie mit sich zurück ins Haus.
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UND??? Zuviel des Guten oder zu wenig? Die Szene war so eigentlich gar nicht geplant. Aber sie gefällt mir und ein ordentlicher Haarschnitt für Krik war verdammt noch mal dringend nötig ;)
Und eine Retourkutsche sowieso!
Aber manchmal überrascht es mich schon, wo meine Geschichten mit mir hinwollen...
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