18) Brief und Papier
„Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig."
(2. Kor 3, 6)
~ ~ ~
Kendrik ist sicher und wohlbehalten zurückgekehrt und auch das, was du ihm anvertraut hast, ist gut hier angekommen.
„Nein, das ist nicht gut. Viel zu offensichtlich." Annabelle und Deina überlegten fieberhaft, wie sie Silvan von ihrer Ankunft in Nordstadt in Kenntnis setzen konnten, ohne sich zu verraten, sollte der Brief abgefangen werden.
„Warte! Ich habe eine Idee", warf Annabelle ein. „Vielleicht geht das?"
Die Neuigkeiten, die Kendrik aus Waldhafen mitgebracht hat, sind bereits zu mir durchgedrungen. Sie wurden hier mit Wohlwollen aufgenommen.
Deina dachte einen Moment nach. „Könnte gehen."
„Was hältst du davon, Rik?" Kendrik hatte die Tiere versorgt, während sich die beiden Frauen um den Brief kümmerten, und war gerade erst hereingekommen. Nur allzu gerne drückte er sich vor der Schreibarbeit, denn trotz der ausdauernden Bemühungen seiner Mutter war er nie Herr über die Buchstaben geworden und Lesen fiel ihm bis zum heutigen Tag schwer.
„Finde ich gut. Nicht zu offensichtlich, aber Silvan wird es verstehen."
„Wir müssen ihn nach Neuigkeiten fragen?", forderte das Mädchen. „Ich muss wissen, wie es meinen Eltern geht, und wann ich nach Hause kommen kann."
„Nur Geduld!" Deinas verständnisvoller Blick streifte ihren jungen Hausgast. „Ich glaube, das müssen wir ihm nicht schreiben. Mein Bruder wird es uns mitteilen. Hab Geduld."
Ihrem mütterlichen Instinkt war nicht entgangen, in welchem inneren Zwiespalt sich das Mädchen befand. Sie vermisste ihre Eltern und ihr Zuhause. Und so sehr sie sich auch bemühen würde, sie konnte ihr keines der beiden ersetzen. Sie durfte das Mädchen nicht zu sehr liebgewinnen, denn eines Tages würde sie wieder nach Hause zurückkehren und dann war es vermutlich das Letzte, was sie von ihr sah. Und dieser Tag kam vielleicht schon früher, als erwartet. Jedenfalls wusste sie, dass Annabelle in Nordstadt nicht glücklich war und es nie werden würde, trotz all ihrer Bemühungen, ihr den Aufenthalt so heimelig und bequem wie möglich zu gestalten.
Sie durfte sich nicht zu viele Hoffnungen machen.
„Gut. Dann lass es uns so aufschreiben." Sie griff nach dem Stückchen gerolltem Pergament, das Kendrik am Morgen von einem der Händler besorgt hatte und tauchte die Spitze des Federkiels in das Tintenfass.
Lieber Silvan,
ich schreibe dir mit großer Erleichterung darüber, dass mein Sohn auch dieses Mal wohlbehalten zu mir zurückgekehrt ist.
Ein Mutterherz macht sich ständig Sorgen, wenn ihre Liebsten nicht in der Nähe weilen.
Die Neuigkeiten, die Kendrik aus Waldhafen mitgebracht hat, sind bereits zu mir durchgedrungen. Sie wurden hier mit Wohlwollen aufgenommen.
Lass ihn wissen, wenn du erneut seine Dienste benötigst oder etwas brauchst, das wir dir besorgen können.
Uns geht es gut und wir vermissen dich.
Mit der Hoffnung auf eine baldige Antwort
Deine Schwester Deina und dein Neffe Kendrik
Annabelle schaute ihr beim Schreiben über die Schultern und nickte bei jedem Satz. So würde es gehen. Unverdächtig und nichtssagend für fremde Augen.
Silvan würde aus den Zeilen herauslesen können, was er wissen musste.
Deina streute ein wenig Sand auf das Geschriebene, um zu verhindern, dass die überflüssige Tinte kleckste. Sorgfältig ließ sie den Sand anschließend wieder in den dafür vorgesehenen Behälter gleiten, ehe sie den Brief zusammenrollte und versiegelte.
Sie reichte ihn ihrem Sohn. „Hier. Geht am besten gleich los und findet jemand, der ihn mit nach Waldhafen nehmen kann."
Mit etwas Glück fand man Händler und Reisende, die aus irgendeinem Grund zwischen den beiden Städtchen unterwegs waren. Nordstadt war ein Ort der Durchreise, Waldhafen ein wichtiger Handelsort und Hafen. Wer die Reise auf sich nahm, konnte mit guten Gewinnen rechnen, trotz aller Gefahren, die ihm im Großen Wald begegnen konnten.
Kendrik wusste, auf wen er sich verlassen konnte und fand meist schnell einen Boten, der seine Briefe zuverlässig und sicher für ein paar Münzen auslieferte. Er selbst lieferte fast jedes Mal, wenn er loszog, mindestens ein halbes Dutzend solcher Briefe aus. Das Prinzip beruhte auf Gegenseitigkeit, Geben und Nehmen. Heute du, morgen ich.
Für Abby war es gut, aus dem engen Haus von Kendriks Mutter herauszukommen, auch wenn Nordstadt ihr seltsam fremd und unvertraut vorkam. Mit Kendrik durch die belebten Straßen zu huschen, gab ihr das Gefühl wenigstens etwas Sinnvolles tun zu können.
„Deine Mutter ist eine tolle Frau", bemerkte Annabelle, nachdem sie sich bereits eine Weile schweigend ihren Weg durch den Trubel der Gassen gekämpft hatten. Frauen und Männer jedes Alters, sogar Kinder, boten lautstark ihre Waren feil. Händler mit ihren Karren und Fuhrwerken bahnten sich einen Weg durch das Gedränge. Dazwischen huschten Fußgänger, wie Kendrik und Annabelle, durch jede sich bietende Lücke. Es erinnerte sie an das unübersichtliche Gewusel eines Ameisenstaates. Auf den ersten Blick war es ein heilloses Durcheinander, aber wenn man genauer hinsah und länger beobachtete, stellte sich heraus, dass jeder ein Ziel verfolgte, mehr oder weniger gemächlich.
Ihres war der große Marktplatz im Zentrum der weitläufigen Stadt, wo man alle möglichen Waren und Dienstleistungen erhalten konnte. Dort wollte Kendrik jemanden finden, dem er den Brief anvertrauen konnte und anschließend noch ein paar Besorgungen erledigen.
„Das habe ich dir doch schon gesagt", erwiderte Kendrik.
„Du bist wirklich zu beneiden. Sie liebt dich. Und auch Nilla vergöttert dich. Kein Wunder, dass du so eingebildet bist, Rik." Sie grinste. Ihre Worte waren nicht böse gemeint und der Kosename seiner Mutter klang seltsam fremd aus ihrem Mund. „Bei meiner Mutter bin ich mir kein bisschen sicher, dass sie überhaupt Gefühle für mich hat. Abgesehen von einer ständigen Enttäuschung darüber, dass ich nicht so bin, wie sie mich gerne hätte." Das Mädchen seufzte.
„Selbst mein Vater hat mir nie gezeigt, dass er mich liebhat." Je länger sie über ihre Eltern nachdachte, desto mehr wurden ihr die Unterschiede bewusst. Nichtsdestotrotz fehlten sie ihr und sie vermisste sogar die strengen, stets nörgelnden Worte ihrer Mutter.
Schlechte Eltern zu haben, kam ihr allemal besser vor, als gar keine zu haben und noch mehr galt diese Weisheit für eine Heimat. Nordstadt würde ihr immer fremd bleiben und sie sich verloren darin vorkommen, egal wie viel Zeit sie dort verbrachte, aber es war besser einen sicheren Ort in der Fremde zu haben, als nirgends auf der Welt in Sicherheit zu sein.
Mit Kendrik und Deina hätte sie es in der Tat schlimmer erwischen können. Trotzdem trieb sie eine innere Unruhe, die sie sich nur dadurch erklären konnte, dass sie nicht wusste, wie es um ihre Familie in Waldhafen stand. Selbst um Silvan machte sie sich Sorgen.
„Ach, Abel", tröstend legte Kendrik seine Hand auf ihren Arm, zog sie aber schnell wieder zurück als ihm bewusst wurde, dass sie mitten auf einer belebten Straße standen.
„Es wird alles gut werden", versicherte er ihr abermals.
Sie folgte ihm zu einem jungen Händler, der gerade dabei war, seinen Pferdekarren zu beladen. „Grüß dich, Pollo! Fährst du nach Waldhafen?"
Der blonde Mann, den Annabelle auf Anfang dreißig schätze, drehte sich zu ihnen um und hielt beim Beladen inne. Sein sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem wohlwollenden Lächeln, als er erkannte, wer vor ihm stand. „Ach Kendrik, du bist es! Lange nicht gesehen. Ja, ich will noch heute losfahren."
„Das trifft sich gut. Gerade komme ich von meinem Onkel zurück. Mutter hat einen Brief für ihn. Kannst du ihn für mich bei Silvan vorbeibringen, wenn du in Waldhafen bist?"
Der Händler mit dem Namen Pollo nickte und streckte die Hand aus. „Sicher doch."
Kendrik ließ ein paar Münzen in seine Hand gleiten und bedankte sich. „Dann fahr vorsichtig! Und gute Geschäfte! Was hast du dieses Mal geladen?"
„Vor allem Getreide, aber auch ein wenig Obst und Gemüse. Waldhafen ist eine wahre Goldgrube für unsere Überernte." Er grinste. „Sie reißen uns selbst das fauligste Stückchen Obst noch aus den Händen."
„Da hast du wohl Recht." Eilig verabschiedete sich Kendrik, ehe der Händler neugierige Fragen stellen oder seinen Begleiter allzu genau mustern konnte und verschwand mit Abel in einer Seitengasse des Marktes. Es gab noch etwas, das er gerne erwerben wollte.
Eine Weile feilschte er mit einem Händler, während Abby durch seine Auslage stöberte. Die Sachen gefielen ihr und wenn sie zuhause in Waldhafen gewesen wäre, hätte sie vielleicht das eine oder andere Stück gekauft. Hier jedoch war sie auf Kendriks und Deinas Fürsorge angewiesen und sie wollte die wenigen Münzen, die sie bei ihrer Flucht mitgenommen hatte, nicht für unnötigen Luxus ausgeben. Und nichts anderes waren die Waren, die man hier erwerben konnte. Schön anzusehen und zu haben, aber nicht lebensnotwendig.
"Einverstanden, zehn Silberlinge." Endlich hatten sich Kendrik und der Händler geeinigt. Sie schlugen ein und Kendrik ließ erneut einige Münzen in fremde Hände gleiten. Der Gegenstand, den er dafür empfing, war zu groß, um ihn in einer Tasche verschwinden zu lassen und so trug Kendrik das kleine, in Leder gebundene Buch in seinen Händen nach Hause.
Annabelle wunderte sich, machte sich aber nicht die Mühe ihn danach zu fragen. Kendrik war ihr nicht wie der Typ Junge erschienen, der gerne las. Vermutlich war es eine Besorgung für seine Mutter.
Deina und Nilla saßen in der Küche als sie heimkamen und schälten Rüben für das Mittagessen. Deina blickte zu ihnen auf, als sie den engen Raum betraten. „Hattet ihr Erfolg?"
Kendrik nickte. „Ich habe Pollo den Brief mitgegeben. Er fährt noch heute los."
„Das ist gut." Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Annabelle wollte sich gerade dazusetzen und sich nützlich machen, als Kendrik sie zum zweiten Mal an diesem Vormittag am Arm fasste. „Komm mit. Ich habe etwas für dich." Sie folgte ihm in sein Zimmer, das sie zum Schlafen in Beschlag genommen hatte.
Die verschwörerischen Blicke, die Deina mit ihrer Magd tauschte, blieben den beiden verborgen.
Kendrik schloss die Türe und drückte Abby etwas in die Hand.
„Hier, das ist für dich." Verlegen schaute das Mädchen auf das kleine, in Leder gebundene Buch in ihrer Hand und wusste nicht was sie sagen sollte.
„Weil du doch so gerne schreibst, und ich dachte, es hilft dir vielleicht dabei, deinen Kummer zu bewältigen. Oder du schreibst weiterhin deine Lektionen hinein, so wie du es bei meinem Onkel gemacht hast. Wie so eine Art Reisebericht." Er stockte.
Sie war überrascht, dass er sich gemerkt hatte, was sie ihm im Wald erzählt hatte und noch mehr rührte sie seine fürsorgliche und gedankenvolle Geste.
Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die noch leeren Seiten durchblätterte. Eine Einladung all ihre Gedanken, Sorgen und Erfahrungen niederzuschreiben.
Und endlich fielen ihr die passenden Worte ein. „Danke!" Glücklicher als sie jemals gedacht hatte, in ihrer Lage sein zu können, fiel sie dem Jungen um den Hals. „Vielen Dank."
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