1) Ungewöhnliche Maßnahmen
„Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen:
Das Leben ist mein außergewöhnlichster Umstand." *
Stefan Rogal (Autor, *1965)
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„Annabelle", die Stimme ihrer Mutter schnitt scharf durch den Raum. Die stechenden, blauen Augen der Herrin von Waldhafen musterten sie von oben bis unten. „Wo bist du gewesen?"
Sie schwieg und machte ihre Mutter damit noch wütender.
„Nun sprich schon Kind." Die Stimme wurde lauter und fordernder.
Schweigen war sinnlos und würde sie nicht weiter bringen, das wusste sie aus Erfahrung. Zerknirscht antwortete sie auf die Frage ihrer Mutter und bereitete sich innerlich darauf vor, dass das Gewitter über sie hereinbrach. „Im Wald."
„Annabelle!" Die schrille Stimme der Gräfin überschlug sich. „Eine junge Herrin von Waldhafen kann nicht alleine in den Wald schleichen. Warum siehst du das nicht ein? Was willst du dort? Du hast hier alles was du brauchst. Du kannst nicht einfach alleine durch den Wald stromern, ohne dass jemand weiß, wo du bist. Du könntest dich verirren. Dir könnte sonst etwas passieren und niemand würde dich finden. Es geht nicht! Du kannst nicht!" Sie rang nach Worten. Fassungslos, ob der Widerspenstigkeit und Sturheit ihrer einzigen Tochter. Ihres einzigen lebenden Kindes. Frustriert wandte sie sich an ihren Gemahl, der das Gespräch bisher stillschweigend, aber mit ernster, sorgenvoller Miene verfolgt hatte.
„Sag doch was, Adelmuth", forderte sie ihn auf.
Aldemuth, Herr von Waldhafen, sprach nicht viel, aber wenn er etwas sagte, hatte es für gewöhnlich Gewicht. „Belle", seine Stimme klang sanftmütig, als der den Kosenamen seiner Tochter aussprach. Er seufzte. „Deine Mutter hat Recht. Du kannst nicht einfach alleine in den Wald schleichen. Es ist kein Ort für dich."
Bisher hatte sie es stur und still über sich ergehen lassen. Es endete jedes Mal auf die gleiche Weise. Sie versprach ihren Eltern, sich nicht mehr in den Wald zu schleichen, und diese erlegten ihr eine Strafe auf und beließen es dabei. Bis der Drang, der Enge ihres eintönigen, wohlbehüteten Lebens zu entkommen, erneut übermächtig wurde und sie ihm nicht mehr widerstehen konnte. Die Gelegenheiten boten sich ihr einfach immer und überall. In Form eines zu nahe an ein Fenster gewachsenen Baumes, durch eine unverhofft offen stehende Tür, Hauslehrer, die sich all zu leicht an der Nase herumführen ließen. Für Annabelle war es ein interessantes und viel zu reizvolles Spiel, in dem sie unschlagbar gut war.
Doch die unbarmherzigen Worte ihres Vaters trieben ihr die Tränen in die Augen. Krampfhaft versuchte sie dagegen anzublinzeln, aber es gelang ihr nicht. Eine kleine, salzige Träne lief ihr über die Wange. Sie spürte einen Kloß in ihrem Hals und schluckte tapfer dagegen an. Es war einfach so ungerecht. Sie wollte nichts weiter, als ihre eigenen Entscheidungen treffen und die Freiheit des Waldes auskosten. Sie, die ihr ganzes bisheriges Leben eingesperrt hinter Mauern verbracht hatte und ihr restliches Leben ebenso würde verbringen müssen, ob sie es wollte oder nicht, keiner hatte sie jemals nach ihrer Meinung gefragt.
„Versprich, dass du dich nie wieder alleine in den Wald begibst, wenn ich dir erlaube mit Begleitung dorthin zu gehen."
Zwei Augenpaare blickten Adelmuth von Waldhafen ungläubig an. Zwei Augenpaare, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Das eine Augenpaar war eisig blau und gehörte Zitta von Waldhafen, das andere war grünbraun und gehörte der kleinen, zwölfjährigen Annabelle von Waldhafen. Zittas Mund stand offen, aber sie starrte ihren Gemahl wortlos an. Unglaube stand ihr in das schmale, bleiche Gesicht geschrieben. Auch Annabelle schien ihren Ohren nicht zu trauen, aber der Vater wusste nur zu gut, dass seine Tochter die erste sich ihr bietende Gelegenheit nutzen würde, um erneut im Wald herumzustreifen. Sie hatte dieselbe sture Entschlossenheit geerbt wie er. Wenn sie etwas wirklich wollte - und aus einem für ihn unverständlichen Grund - wollte sie den Wald erkunden, würde sie ein Verbot oder ein Versprechen nicht davon abhalten. Selbst die Strafen, die sie ihr auferlegt hatten, waren wirkungslos geblieben. Er würde nur das Gegenteil von dem erreichen, was gut für sie war. Manchmal musste man ungewöhnliche Maßnahmen ergreifen. Insgeheim war er sogar ein wenig stolz auf seine einzige Tochter, obwohl er das weder gegenüber seiner Frau noch seiner Tochter zugeben würde.
„Du wirst artig deinen Unterricht besuchen und dich wie eine Dame benehmen", fuhr er mit strenger Stimme fort, ehe seine Gemahlin ihn irgendwie unterbrechen konnte. „Du wirst tun, was deine Lehrer dir sagen und solch eine Unverschämtheit wie heute, wirst du nicht wieder begehen. Dafür erhältst du ab heute auch Unterricht im Reiten und Jagen. Du wirst alles lernen, was es über den Wald zu lernen gibt, aber du wirst auch lernen, wie man tanzt, musiziert und sich benimmt. Verstanden?" Die grünen Augen ihres Vaters waren liebevoll, aber bestimmt auf sie gerichtet. Er duldete keinen Widerspruch. Keiner widersprach dem Herren von Waldhafen.
Annabelle nickte. Noch immer konnte sie nicht verstehen, wovon er sprach.
„Gut, dann wäre das ein für alle Mal geklärt." Er winkte einen Mann mittleren Alters zu sich heran, den Annabelle schon öfter bei Empfängen und Banketten gesehen hatte. Er hatte geschäftlich mit ihrem Vater zu tun, aber sie hatte sich nie weiter für ihn interessiert.
Er war groß und drahtig. Die ergrauten Haare ließen erahnen, dass sie in seiner Jugend irgendwann einmal dunkel gewesen waren. Sie schätze ihn auf ein ähnliches Alter wie ihren Vater. Seine Haut war von der Sonne gezeichnet und von vielen Falten durchzogen. Trotzdem wirkte er gesünder und kraftvoller als ihr Vater, dem die Jahre eine unübersehbare Feistigkeit beschert hatten.
Er trat mit großen, weit ausgreifenden Schritten auf sie zu und verbeugte sich vor der Herrin.
„Silvan wird dein Lehrer sein und dir beibringen, was du wissen willst", verkündete Adelmuth. „Er dient unserer Familie seit meiner Jugendzeit und ich schätze seine Fähigkeiten. Ich werde nicht dulden, dass mir Klagen zu Ohren kommen." Er schaute seine Tochter scharf an.
Annabelle nickte stumm. Das Staunen stand ihr ins Gesicht geschrieben, während sie abwechselnd ihren Vater und ihren neuen Lehrmeister musterte.
Sie konnte nicht glauben, dass sie ab sofort die Erlaubnis hatte, sich in den Wald zu begeben. Es war zu gut, um wahr zu sein und musste doch einen Haken haben, außer dass sie sich ihrem sonstigen Unterricht klaglos zu fügen hatte. Verstohlen blickte sie zu ihrer Mutter. Sie bebte vor Wut und Empörung. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Zitta von Waldhafen alles andere als begeistert von dem Beschluss ihres Mannes war.
Aber das Mädchen war entschlossen, das Beste aus der sich ihr unverhofft bietenden Gelegenheit zu machen. Wenn nötig, würde sie schon einen Weg finden, diesen Silvan loszuwerden.
Sie war wie der Junge, der ihrem Vater nie geboren wurde.
Sie war die Schande in den Augen ihrer Mutter.
Und wenn sie es schon keinem von beiden recht machen konnte, würde sie wenigstens für sich selbst einen Weg finden.
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Ich habe beschlossen, jedem Kapitel ein kurzes Zitat oder Sprichwort voranzustellen, das die Stimmung und Handlung unterstreichen soll.
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