5. Cernunnos
„Cernunnos!", schallte es über den Platz. Der Hirsch blickte auf, ortete die Quelle des Geräusches aus den Bäumen des Waldes.
Calia folgte seinem Blick und schlug erschrocken die Hände vor den Mund. „Nein!", machte sie ungläubig. Auf einem Ast stand, sich mit einer Hand am Baum festhaltend, Löschi. Breitbeinig stand er da, seine Haare flogen in einem leichten Windstoß hinter ihm. Doch war er es wirklich? Sie sah genauer hin. Sein Haar war nicht mehr braun, viel mehr dunkelgrün und schien mit den Nadeln der Kiefer, auf der er stand regelrecht zu verschmelzen. Und seine Haut hatte einen dunkelblauen Ton bekommen, der sowohl sehr ungesund als auch übernatürlich aussah. Er grinste.
„Cernunnos", rief er erneut, „Hallo, alter Freund. Jetzt kannst du dich endlich mal deinem Widersacher stellen", forderte er auf und sprang in einer eleganten Bewegung von dem Baum. Er landete weich wie eine Katze auf allen Vieren, richtete sich aber zugleich auf, um erhaben auf sie hinzu zu stolzieren. Der Hirsch scharrte mit den Hufen, kam auf ihn zu und umrundete ihn langsam.
Leshy ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Und ja, das war nicht mehr Löschi, der dort stand, es war Leshy. Leshy, der Waldgeist.
„Die ganze Zeit seid ihr dem Pfad gefolgt, den ich euch vorbereitet habe. Blind habt ihr der menschlichen Gestalt vertraut, die ihr kanntet. Dabei ist das nur eine Hülle. Eine Hülle für eine mächtige Kreatur wie mich", Leshy lachte auf, verlor dabei aber nicht den Blickkontakt zu dem Hirsch, der weiter um ihn herum ging, ihn abzuschätzen schien und sich vorbereitete.
„Du hast kein Recht, dich in meinem Wald auf unschuldige Menschen zu stürzen", erklang plötzlich eine Stimme, die einen Doppelklang in sich trug und so tief und klingend klang, dass keiner bezweifelte, dass es der Hirsch war, der sprach.
„Warum nicht, Cernunnos? Was ist dein Recht, diese Menschen zu schützen?", fragte er zurück. „Es ist das Recht, leben zu dürfen. Ein Teil des Ganzen zu sein und die Magie der Existenz in sich zu tragen", antwortete das mächtige Tier.
„Aber wo bleibt da der Spaß? Komm schon, alter Junge! Wie lange war hier schon nicht mehr so richtig was los?" Leshy grinste immer noch.
Der Rest der Band wagte kaum einzuschreiten, zu gefährlich war der Eindruck, der beide Wesen auf sie machten. Der Hirsch, dessen Muskeln angespannt waren und deutlich unter seinem Fell hervorstachen, Leshy, der so selbstsicher und hinterlistig erschien. Stattdessen zogen sie sich langsam zurück, kauerten sich alle zusammen, um sich selbst zu schützen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis einer der beiden Beteiligten explodieren würde.
„Verschwinde!", donnerte Cernunnos plötzlich sichtlich aufgebracht, „Verschwinde und komme nicht wieder zurück!" Der angesprochene Waldgeist hob entschuldigend die Hände. „Hey, ich mache doch gar nichts!", verteidigte er sich, ging jedoch bereits etwas in die Knie, um sich zur Not dem Tier entgegen zu stellen.
„Du hast diese unschuldigen Menschen weit fort von ihrer Heimat gebracht, hast sie leiden lassen und den Feen zum Fraße vorgeworfen. Du verdienst es nicht, länger hier zu bleiben!" Der Hirsch erhob sich, richtete sich wieder auf und stellte sich auf die Hinterbeine, um wie in der vergangenen Nacht beide Vorderbeine wieder in den Boden zu rammen. Doch im Gegensatz zu gestern erbebte die Erde nun tatsächlich. Die Stoßwelle, die von seinen Hufen ausging breitete sich über das Gras aus und erweckte dieses zum Leben. Während sich einerseits eine Mauer um die verwirrte und verängstigte Menschengruppe flocht, vereinigten sich die Grashalme rund um den Waldgeist zu tödlich peitschenden Schlingen, die immer wieder nach diesem ausschlugen ohne ihn zu treffen. Denn Leshy war geschickt. Flink wich er den Naturgewalten aus und rannte seinerseits auf den Hirsch zu, um ihn an dessen Geweih unter Kontrolle zu bringen. Er ergriff es, um den Kopf des Tieres zu sich zu ziehen.
Wütend brüllte Cernunnos auf und schüttelte ihn weg. Im hohen Bogen flog das Wesen davon, landete aber wieder wie eine Katze auf allen Vieren und zischte. Die dadurch gewonnenen Sekunden nutzte der Hirsch, um immer und immer wieder auf die Hinterbeine zu gehen, um mit den Hufen auf eine Stelle in der Luft zu schlagen. Dort begann die Luft zu flimmern und zerriss schließlich. Ein goldener Schein ergoss sich aus dieser Öffnung und blendete die Menschen. Cernunnos dagegen musste sich jedoch wieder auf Leshy konzentrieren, der erneut auf ihn zu rannte und dieses Mal dessen Beine anvisierte. Wieder konnte der Hirsch mit seinem wohl mächtigsten Instrument, seinem Geweih, den Waldgeist abwehren. Dabei ertönte jedoch ein scheußliches Knacken und kurz darauf zersplitterte der obere Teil desselbigen. Einige der Stücke flogen in alle Richtungen und eines blieb kurz darauf vor Calia liegen. Sie hob es auf und fühlte sofort einen Teil der alten Magie, welches es ausstrahlte. Mit beiden Händen umfasste sie es und hielt es wie einen Talisman fest, betete, dass dieser Kampf gut ausgehen würde.
Leshy startete erneut einen Angriff und griff wieder nach dem restlichen Geweih des Hirsches, in dem Willen, es endgültig abzureißen. Doch Cernunnos nutzte die Gelegenheit, um mit dem Geist auf seinem Kopf zu dem Riss in der Luft zu galoppieren.
Als Leshy bemerkte, was das Tier vorhatte, schrie er auf. „Das machst du nicht!", konnte er sich nur noch empören und wurde im selben Moment von dem Riss erfasst, der ihn in sich einzog und verschluckte. Dann war er verschwunden und übrig blieb ein schwer atmender Cernunnos, der sich nun sorgenvoll zu den Menschen umdrehte.
Doch er hatte nicht die Rechnung mit Nornea gemacht. Verzweifelt war sie aufgesprungen und rannte nun auf den Riss zu. „Löschi!", rief sie entgeistert, doch dieser war verschwunden. „Was hast du mit ihm gemacht?", fuhr sie jetzt den Hirsch an. Cernunnos drehte sich zu ihr um, hielt sie sanft, aber bestimmt davon ab, in die Nähe des immer noch Gold leuchtenden Risses zu kommen. „Nicht", sagte er beruhigend, „Ich habe ich dorthin zurück gebracht, wo er herkam". „Aber... Aber Löschi?", brachte sie hervor.
Das Schweigen des Hirsches war ihr genug.
„Du hast ihn umgebracht! Mörder!", rief sie mit Tränen in den Augen und begann auf die muskulöse Brust des Tieres einzutrommeln. Er ließ es geschehen. „Wo ist er jetzt?", mischte sich Pan ein, der wie immer, einen kühlen Kopf behalten hatte.
„Zuhause", antwortete Cernunnos ruhig und blickte nun zu Nornea, die kraftlos und weinend auf dem Boden zusammen gebrochen war und sich selbst umarmte. Ihre blonden Dreadlocks umrahmten dabei auf eine grotesk schöne Art und Weise ihren Kopf und machten Norneas Namen alle Ehre. Dieser leitete sich von den Nornen ab, den Schicksalsgöttinnen der nordischen Mythologie. Doch jetzt konnte sie kein Schicksal mehr beeinflussen, sie war in dem Moment nur noch ein Häufchen Elend.
„Wenn Zuhause ein Ort ist, an dem wir leben können, dann bringe uns auch dorthin", sagte Pan, während er sich hinkniete, um Nornea zu trösten. Er nahm sie in den Arm und sie ließ es geschehen.
„Bitte", untermauerte nun auch Calia diese Forderung, „Wir sind eine Band, wir sind eine Familie, wenn Löschi nicht mehr dabei ist, dann können wir uns gleich aufgeben", erklärte sie. Cernunnos blickte von einem zum Anderen, nachdenklich. „Ja, bring uns hin", sprach sich nun selbst Elrond, der die meiste Zeit ihres Ausflugs eher schweigend ertragen hatte, dafür aus.
„Wollt ihr das wirklich?", bohrte Cernunnos noch einmal nach und tat etwas, womit keiner in der Sekunde gerechnet hatte. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen, löste sich auf und formte sich neu. Und es war kein Geringerer als Fred, der vor ihnen stand. Unversehrt, ruhig, genauso wie sie ihn schon am Morgen auf dem Friedhof kennengelernt hatten.
„Bitte denkt daran, was ich euch heute Morgen lehrte", gab er schließlich nach, als er nur in bittende Gesichter sah, und reichte Nornea die Hand, welche sich nur mühsam aufrappelte und sie ergriff. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln und sah dann entschlossen zu dem goldenen Licht, welches nach wie vor in der Luft flimmerte. „Spring", forderte Fred auf und ließ sie ebenfalls durch das Portal fliegen.
Einer nach dem Anderen half er nun durch den Riss nach Hause zu kommen, wie er es nannte. Zuletzt folgte Calia. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie ebenfalls sprang und drehte sich noch einmal zu Fred um. „Danke", sagte sie leise und neigte den Kopf respektvoll. Fred lachte leise. „Trage die Erinnerung hieran immer in dir und lebe es Zuhause fort", bat er und deutete auf das Stück Geweih, welches sie immer noch in der Hand hielt. Automatisch schloss sich ihre Hand fester um das Stück. „Das werde ich", versprach sie, dann ergriff sie seine Hand und ließ sich von ihm durch den Riss helfen.
Sie wurde eingezogen von einem Strudel aus goldenem Licht, der sie umher wirbelte und sie schwindelig machte. Sie musste die Augen schließen und es wurde für einen Moment schwarz. Dann wurde es plötzlich ganz ruhig und als sie die Augen wieder öffnete befand sie sich auf weichem Waldboden direkt neben dem Weg, der ihr seltsam vertraut vorkam.
Es war der Weg, den sie gestern entlang gegangen waren, unweit entfernt von der Stelle, an der sie auf die Katze trafen. Auch die anderen waren da, saßen um sie herum, schüttelten verwirrt die Köpfe und blickten sich dann ratlos an. Erleichtert stellte Calia fest, dass auch Löschi wieder dabei war und vollkommen normal aussah.
„Ist das wirklich passiert?", ergriff dieser auch als Erstes das Wort. Die Anderen zuckten ratlos mit den Schultern. Da spürte Calia auf einmal etwas Hartes neben sich und als sie danach tastete und es ergriff, erkannte sie das Stück Geweih wieder. Bei genauerem Hinsehen durchzogen es pulsierende, blaue Adern, doch man musste es schon wissen, um es zu sehen. Selig lächelnd nahm sie es an sich und steckte es in ihre Tasche. Dann sprang sie auf.
„Na los, Leute, der Tag ist noch jung und wie es scheint, haben wir wohl jede Menge Inspiration. Lasst uns weiter proben!", lachte sie motiviert und half Elrond, der am nächsten stand, auf. Und plötzlich war es, als würde die gesamte Last der letzten Stunden von ihnen abfallen und sie begannen glücklich zu lachen und sich auf den Rückweg zu machen.
Unbemerkt von ihnen zog ein gewaltiger Hirsch seine Bahnen lautlos durch das Unterholz. Er beobachtete sie und schien zufrieden. Als er wusste, dass sie auf dem Heimweg waren, drehte er sich um und sprang davon, um wieder eins mit dem Wald zu werden.
ENDE
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