Kapitel 4
Als Mara am nächsten Morgen aufwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Weder an meinen Ausritt auf einem gigantischen Wolf, noch ihr Beerendilemma mitten im Wald. Ich war wirklich erleichtert darüber, denn ich hatte keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn sie mich danach gefragt hätte.
Während unsere Eltern den ganzen Tag unten im Dorf verbrachten, blieben wir oben bei Alma und bastelten lange Dekoketten aus Blättern, Tannenzapfen und Beeren. Sie erzählte uns, wie ihr Vater einmal dem Geist des Waldes begegnet war. Als junger Mann war er mit seinen Freunden in den Wald gegangen, um Wild zu jagen. Statt eines ausgewachsenen Hirsches hatten sie allerdings ein kleines Rehkitz erwischt. In dem Moment, in dem das Herz des Kitzes aufgehört hatte zu schlagen, erschien ein gigantisches Monster vor ihnen, mit leuchtend roten Augen und einem Atem, der nach Schwefel stank. Sie alle waren geflüchtet, ohne ihre Beute mitzunehmen und waren seither kein einziges Mal mehr im Wald auf die Jagd gegangen.
Zwar hatte ich Silvan bisher nie wütend erlebt, aber ich zweifelte nicht daran, dass er den Wald durchaus zu verteidigen wusste. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was die Menschen über die Jahre schon alles getan hatten, ohne daran zu denken, wie sehr sie dem Wald und seinen Bewohnern dadurch schadeten. Mein Vater mit seinem Projekt für den Neubau des Wasserdammes war da vermutlich gleich vorne mit dabei. Diesmal sollte er größer und höher werden und dafür sollte natürlich das Gebiet in einem Umkreis von einem Kilometer gerodet werden.
Natürlich war mir klar, dass die Menschen hier den Staudamm brauchten, aber gleichzeitig fürchtete ich mich auch ein wenig vor Silvans Reaktion, sollte er herausfinden, was mein eigener Vater hier trieb.
Alma beugte sich dichter zu uns und flüsterte verschwörerisch: „Solltet ihr ihm jemals begegnen, dann nehmt euch etwas aus Kunststoff zur Hand. Er verträgt solche unnatürlichen Materialien nicht, sie können ihm sogar kurzzeitig ernsthaft schaden." Sie klopfte leicht auf den Beutel, den sie immer um die Hüfte trug. „Zur Sicherheit habe ich immer ein wenig zermahlenes Plastik bei mir. Ein bisschen in die Augen und er ist für einige Stunden blind."
Ich starrte sie entsetzt an. „Was?"
„Der Waldgeist ist gefährlich, Ylvie. Jedem, der ihn auf irgendeine Weise verärgert, wird es schlecht ergehen. Unsere Jäger waren schon immer erschreckend anfällig für fast-tödliche Unfälle. Dieser Geist ist eine reine Plage."
Ich sprang auf. „Das ist doch nicht wahr! Der Waldgeist schützt den Wald! Wie könnt ihr glauben, dass er nicht wütend ist, wenn ihr gewissenlos Tiere jagt und ganze Flächen rodet?"
Alma hob die Augenbrauen und musterte mich düster. „Du redest, als wärst du ihm bereits begegnet."
Ich starrte sie einen Moment lang an und setzte mich dann langsam wieder auf meinen Stuhl. „Unsinn. So etwas wie Waldgeister gibt es nicht", erklärte ich wesentlich ruhiger als zuvor.
Almas Blick brannte auf mir und ich wagte es nicht, noch einmal von meiner Kette aus Beeren und Blättern aufzusehen.
„Ich glaube an den Waldgeist!" Fröhlich spießte Mara eine Beere auf.
Lächelnd tätschelte Alma ihren Kopf, doch nur wenige Sekunden später beobachtete sie mich wieder. Ich nahm mir vor, in Zukunft Alma gegenüber sehr vorsichtig zu sein. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so wirkte, konnte sie sehr angsteinflößend sein. Ich würde auch Silvan heute Abend vor ihr warnen müssen. Sicher ist sicher.
Der Marktplatz war gefüllt mit Menschen. Gefühlt jeder Einwohner des kleinen Dorfes und die wenigen Touristen waren hergekommen, um das Sonnwendfeuer zu entfachen und gemeinsam bis tief in die Nacht zu feiern. Nun ja, alle bis auf einen.
Die Feier war schon seit Stunden in vollem Gange, doch von Silvan fehlte jede Spur. Ob ihm etwas dazwischengekommen war?
Ich sah mich um. Alma war noch hier und unterhielt sich angeregt mit einer Gruppe älterer Damen, mein Vater und die meisten seiner Arbeitskollegen waren ebenfalls hier. Was konnte ihn nur aufgehalten haben?
Als jemand dicht vor mir stehen blieb, hob ich den Kopf. Ein fremder junger Mann grinste mich an. „Hi!"
Ich lächelte unsicher.
„Ich bin Henry. Willst du tanzen?" Auffordernd hielt er mir seine Hand hin.
Was konnte es schon schaden? Wenn Silvan nicht kam, konnte ich mich ja wenigstens ein wenig amüsieren. Gerade, als ich seine Hand ergreifen wollte, legte sich eine andere hinein. Warm und weich schoben sich die Finger zwischen meine und zauberten ein Lächeln in mein Gesicht.
„Tut mir leid, ihre Tanzkarte ist schon voll", erklärte Silvans tiefe Stimme neben mir.
Henry zuckte nur mit den Schultern und ging in die andere Richtung davon. So dringend hatte er dann wohl doch nicht mit mir tanzen wollen.
„Guten Abend, schöne Wölfin." Waldgrüne Augen lachten mich an.
„Hallo, Waldgeist."
Ich trat einen Schritt zurück und musterte ihn mit großen Augen. Er war angezogen, wie die übrigen anwesenden Herren. Schlichtes Hemd und einfache Hose und trotzdem sah er darin so viel besser aus, als jeder andere hier. Vielleicht war er sogar der schönste Mann, den ich jemals gesehen hatte.
„Ich hoffe, ich habe das Zeitalter richtig getroffen."
Ich nickte langsam und musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Oh ja."
Ein wenig verlegen strich er sich das Hemd glatt und sah mich dann mit einem schiefen Lächeln an. „Möchtest du tanzen?"
Diesmal nickte ich ohne zu zögern.
Auf dem Weg zur Tanzfläche stolperte meine Schwester lachend in Silvan hinein. Er packte sie an den Schultern, bevor sie hinfallen konnte und einige Sekunden lang starrte sie ihn mit großen Augen an.
„Mara", riss ich sie eilig aus ihrem tranceartigen Zustand, bevor sie darüber nachdenken konnte, warum ihr der Mann an meiner Hand so bekannt vorkam. „Das ist Silvan."
Sie blinzelte kurz und winkte dann zu ihm hoch. „Ich bin Ylvies Schwester und auf der Suche nach dem besten Versteck."
Silvan beugte sich ein Stück vor und flüsterte ihr verschwörerisch etwas ins Ohr.
Sofort erhellte sich ihr Gesicht und schon war sie wieder verschwunden.
Lachend sah er ihr hinterher. „Ihr scheint es ja wieder gut zu gehen."
Ich nickte und umfasste seine Hand fester. „Dank dir."
Mit einem sanften Ruck wirbelte Silvan mich herum und begann uns zum Rhythmus der Musik hin und her zu wiegen. Nach einigen Sekunden, vermutlich genau dann, als er das Gefühl hatte, dass ich mit dem Rhythmus und den Schritten klarkam, führte er mich auch vorwärts und rückwärts, bis wir uns schließlich langsam durch die Menge bewegten.
„Tut mir leid", murmelte ich, als ich ihm zum wiederholten Mal auf den Fuß trat.
Er lachte auf mich herunter und zog mich an der Taille ein Stück näher. „Konzentrier dich weniger auf deine Füße. Vertrau einfach darauf, dass ich dich durch die Figuren führe."
Erschrocken sah ich auf. „Figuren? Ich kann nicht..."
Er ließ mir gar keine Zeit, meinen Satz zu Ende zu sprechen. Ein leichtes Heben seiner Hand, ein sachter Windstoß in meinem Rücken und schon hatte ich mich einmal um die eigene Achse gedreht und war wieder in seinen Armen gelandet.
„Das war gemogelt."
Sein Lächeln wurde breiter. „Ich weiß nicht, was du meinst."
Er ließ meine linke Hand los und der Wind schob mich ein Stück rückwärts, bis ich neben ihm stand. Seine Hand rutschte meinen Arm entlang, umfasste meine Finger und drehte mich noch einmal um mich selbst. Blinzelnd landete ich wieder vor ihm.
„Du bist ein Naturtalent", schmunzelte er.
„Du schummelst!"
Ein Windstoß fuhr mir durch die Haare und ich ließ mich in seinen Armen nach hinten fallen, bis er mich wieder zu sich zog. „Ich unterstütze dich."
„Es ist trotzdem geschummelt."
Ein Ruck an meinen Armen und der Wind drehte mich, einmal, zweimal. Dann waren seine Arme wieder da, um mich aufzufangen.
Er grinste. „Jetzt bist du dran." Seine Hand hob sich und wie von selbst drehte ich mich einmal um mich selbst. Kein Wind schob mich vorwärts, meine Füße wussten, was zu tun war.
Überrascht sah ich hoch in seine glänzenden Augen.
„Übung beendet", flüsterte er bedeutungsschwer und führte mich gleich darauf durch die nächste Figur.
Tanzen mit Silvan war einfach und atemberaubend. Zu jeder neuen Figur rief er den Wind und zeigte mir, was zu tun war und auch jedes Mal, wenn er spürte, dass ich unsicher wurde, war seine leitende Magie wieder da.
So glitten wir durch die Menschen, um das große Feuer herum, immer und immer wieder. Seine Augen lachten mit seinem Mund um die Wette. Meine Wangen glühten vor Aufregung und Freude. Die Menschen um uns herum verblassten. Nichts war mehr wichtig, außer der Musik, dem Tanz und uns beiden.
Als Silvan nach einer gefühlten Ewigkeit anhielt, stolperte ich fast über meine Füße, so ungewohnt kam mir das einfache Stehen vor. Mit einem breiten Lächeln fasste er mich an den Schultern, bis ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, das ohne seine Führung leicht aus der Waage gekommen war.
„Alles in Ordnung?"
Ich nickte und konnte ihn nur sprachlos anstarren. Kein Mensch konnte so unglaublich schön aussehen. Aber er war ja schließlich auch kein Mensch.
„Ylvie?"
Ich blinzelte leicht und erwiderte sein Lächeln. „Ja?"
Seine Finger strichen hauchzart über meine heiße Wange. „Du bist..."
„Ylvie!"
Wir zuckten zusammen und starrten beide Alma an, die mit zwei Bechern in der Hand vor uns stand.
„Hier, trinkt aus. Nach dem ganzen Herumgetanze seid ihr doch sicher durstig."
Sie drückte mir einen der Becher in die Hand. Plastik.
Sofort erwachte ich aus meinem Halbtraumzustand und zog Silvan an der Hand zurück, bevor er den Becher anfassen konnte. „Wir wollten uns gerade etwas abkühlen gehen."
Schnell nahm ich ihr den zweiten Becher aus der Hand und stieß Silvan mit dem Ellenbogen an, damit er mir folgte. Als wir am Brunnen ankamen, warf ich einen Blick zurück zu Alma, die uns aufmerksam beobachtete.
Mit einem falschen breiten Grinsen drehte ich mich zu Silvan um. „Fass die Becher nicht an. Sie sind aus Plastik." Ich stellte beide auf den Brunnenrand steckte meine Hände ins Wasser und wusch sie gründlich, bevor ich mir auch Wasser ins warme Gesicht spritzte.
Silvan starrte mich mit großen Augen an. „Woher wusstest du...?"
„Alma hat es uns heute Morgen erzählt. Ich wollte dich früher warnen, aber ich war... etwas abgelenkt." Ein weiterer Blick zu Alma zeigte mir, dass sie uns immer noch beobachtete. „Ich fürchte, sie weiß, wer du bist."
„Ist das ein Problem?"
Jetzt war ich es, die ihn groß anstarrte. „Sie wollte dir gerade absichtlich Plastik in die Hand drücken und trägt rund um die Uhr Plastikpulver an sich. Seit du ihren Vater so erschreckt hast, wartet sie nur darauf, dich unschädlich zu machen. Ich glaube, das ist die Definition eines Problems!"
Seine Finger umschlossen mein Gesicht und er sah mir ernst in die Augen. „Du musst dir um mich keine Sorgen machen, Ylvie. Ich bin schon mit ganz anderen Dingen klargekommen."
„Ich mache mir aber Sorgen. Und ich werde alles tun, damit sie nicht in deine Nähe kommt."
Sein Gesicht wurde weich. Sanft zogen seine Finger kleine Kreise auf meiner Haut. „Meine schöne, mutige Wölfin."
Er war mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Leicht strich sein Daumen über meine Lippen und mein Atem stockte. Ich hob den Kopf ein Stück, hielt ihm voller Erwartung mein Gesicht entgegen und dann geschah es. Seine Lippen berührten meine und wie von selbst fielen meine Augen zu.
Unser Kuss war sanft und leicht, wie eine Brise Sommerwind. Warm, wie die Sonne, die durch das Blätterdach des Waldes fällt. Weich, wie das Fell seiner Wolfgestalt. Ich verlor mich regelrecht in diesem Kuss, eingehüllt in seinen Duft nach Wald und Sonne driftete mein Verstand davon.
Als er sich zurückzog, öffnete ich blinzelnd die Augen. So hell, wie seine Augen in diesem Moment leuchteten, erschienen sie mir beinahe weiß.
„Tanzen?", fragte er leise.
Ich nickte atemlos. „Tanzen."
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Hihihi :)
Naaa, seid ihr gespannt, wie es weitergeht? Wir sind jetzt übrigens ungefähr in der Hälfte, das heißt, ab jetzt wird es (hoffentlich) immer spannender :)
Liebe Grüße ♥
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