Kapitel 2
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, befand ich mich nicht mehr auf dem Felsen und auch nicht in meinem Bett. Stattdessen lag ich am Rande des Waldes im Gras, eine leichte Stoffdecke über mir. Verwirrt richtete ich mich auf und sah mich um. Silvan war wieder nirgendwo zu sehen und auch der Schimmel und die Wölfin waren nicht da. Nur wenige hundert Meter entfernt stand das Bauernhaus, in dem wir wohnten.
Kaum war ich in die Küche getreten, kam mir Mara schon entgegengelaufen, blieb dann aber wenige Meter vor mir stehen. „Wie siehst du denn aus? Hast du dich im Wald gewälzt?"
Erschrocken fasste ich mir an den Kopf und zog prompt ein Ästchen heraus. „Ich glaube, ich bin schlafgewandelt."
Mara kicherte. „Na, besser als dass du mitten in der Nacht von einem Waldgeist entführt wirst."
Schon auf dem halben Weg ins Bad drehte ich mich zu ihr um. „Was hast du gesagt?"
„Alma hat eben davon erzählt. Sie meint, im Wald lebt ein Waldgeist, der junge Mädchen in der Nacht entführt."
Mit großen Augen starrte ich sie an. „Was hat sie noch gesagt?"
„Dass er unglaublich gut aussieht, damit die jungen Mädchen mit ihm kommen." Sie zwinkerte mir zu.
„Aber was macht er mit den Mädchen?"
„Er nimmt sie mit in seine Höhle, stopft sie voll und frisst sie dann gut gebraten." Ihre Augen nahmen einen irren Ausdruck an, bevor sie in Gelächter ausbrach. „Du müsstest mal deinen Gesichtsausdruck sehen!"
Ich schluckte und zwang mich zu einem Lächeln. „Ha. Ha. Sehr witzig, Mara."
Bevor sie mir weitere Geschichten auftischen konnte, verschwand ich ins Bad um bei einer ausgiebigen Dusche den Wald aus meinen Haaren zu entfernen. Beim Abtrocknen fiel mein Blick auf die Stoffdecke, unter der ich aufgewacht war. Nachdenklich nahm ich sie in die Hand und drückte mein Gesicht hinein. Sie roch so stark nach Wald und Silvan, dass ich für einige Sekunden nichts anderes tun konnte, als den Duft zu inhalieren. Eindrücke von letzter Nacht stürmten auf mich ein. Die Wölfin im dunklen Wald, das Dorf am Fuß des Berges, unser Ritt durch die Nacht und der Sternenhimmel über der Göttersäule. Silvans Hand in meiner, mein Kopf auf seiner Schulter, seine Wärme, die mich vor der Kälte schützte. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich erinnerte mich weder daran, wie wir von der Göttersäule heruntergekommen waren, noch wie ich an den Waldrand gekommen war.
Ich musste wieder an Maras Worte denken. Ein Waldgeist, der nachts Mädchen entführte. Der Sprung zur Göttersäule war meiner Meinung nach für ein Pferd mit zwei Reitern nicht möglich. Und zurück erst recht nicht. Wo sollte der Schimmel Anlauf genommen haben? Vielleicht war da tatsächlich Magie im Spiel.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich ließ die Decke hastig hinter meinem Rücken verschwinden. Meine Mutter starrte mir entgegen, die Augen leuchtender als üblich.
„Ylvie, da bist du ja. Euer Vater und ich werden heute eine kleine Tour unternehmen, nur wir beide. Alma hat sich einverstanden erklärt, euch ein wenig im Auge zu behalten. Ist das okay für dich?"
Ich nickte eilig. Alles, was meiner Mutter half, sich wieder besser zu fühlen, war mehr als okay für mich. Sie lächelte erleichtert und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Danke, mein Schatz. Wir sehen uns heute Abend."
Alma, unsere Wirtin, wartete unten bereits mit ein paar Arbeitsaufträgen auf uns, bei denen wir ihr gerne zur Hand gingen. Während Mara im Haus bleiben würde, hatte sie mir eine Liste mit Sachen überreicht, die sie aus dem Wald brauchte. Pilze, Reisig und bestimmte Kräuter. Für alles hatte sie ein passendes Bild dazugelegt, damit ich die Pflanzen ohne Zweifel identifizieren konnte.
Die Aufregung, erneut in den Wald zu gehen, ließ mein Herz sofort schneller schlagen.
Alma lachte, als sie meine Freude sah und tätschelte mir liebevoll den Kopf, wie bei einem kleinen Kind. „Verärgere nur nicht den Waldgeist, nimm nur das, was du wirklich brauchst."
Ich nickte lachend und verließ eilig das Haus. Die selbstgezeichnete Karte zeigte mir genau, wo ich den Wald betreten sollte und wo die jeweiligen Pflanzen zu finden waren und so lief ich eine Weile am Waldrand entlang, bis ich schließlich die richtige Stelle erreichte.
Kaum hatte ich einen Fuß über den Waldrand gesetzt, fuhr ein Windstoß durch meine Haare und riss mir die Blätter aus der Hand. Eilig versuchte ich sie wieder einzufangen, aber der Wind trieb sie weiter und weiter in den Wald hinein. Während ich hinterher hechtete, bemerkte ich, dass alle Blätter zusammenblieben. Kein einziges flatterte von der Gruppe weg. Es war wie...
„Magie", flüsterte ich und rannte schneller. Ein Lachen entwich mir und mit jedem Meter, den ich zurücklegte, wurde mir leichter ums Herz.
Mit einem letzten Ruck flogen die Blätter vorwärts und blieben dann in der Mitte einer Lichtung liegen. Direkt vor seinen Füßen. Lachend lief ich auf ihn zu und warf mich in seine Arme.
Sofort schlangen sich seine Arme um mich und sein Lachen hallte durch den Wald. Wir drehten uns ein paar Mal im Kreis, bevor er meine Beine wieder auf den Boden stellte und mich ein wenig von sich schob. Im Sonnenlicht waren seine Haare nicht so tiefschwarz wie letzte Nacht, sondern mehr dunkelbraun, wie die Eulenfeder, die immer noch auf meinem Nachtschrank lag.
„Hallo, Ylvie." Silvans Augen glitzerten so hell, dass ich ein paar Sekunden lang gebannt hineinstarrte.
„Woher wusstest du, dass ich da bin? Stalkst du mich?"
Lächelnd schob er mir das Haar hinters Ohr. „Ich spüre es, wenn jemand meinen Wald betritt."
„Deinen Wald", wiederholte ich langsam. „Also bist du tatsächlich der Waldgeist, der nachts Mädchen entführt und sie in seiner Höhle frisst?"
Er zog die Augenbrauen zusammen. „Wer erzählt denn so etwas?"
Ich lächelte über seinen Gesichtsausdruck. „Meine kleine Schwester. Unsere Wirtin hat ihr von den Waldgeistern erzählt."
„Dem Waldgeist", verbesserte er. „Es gibt nur mich in diesem Wald."
Meine Hand glitt zu seiner Wange, als der schmerzliche Ausdruck erneut in seine Augen trat. „Du bist einsam", stellte ich fest.
Er schloss die Augen und schmiegte sein Gesicht in meine Hand. „Manchmal, ja. Ich habe all die Tiere und Pflanzen, die mir Gesellschaft leisten, aber von Zeit zu Zeit wünsche ich mir..."
„Nähe", ergänzte ich leise.
Seine Stirn zog sich schmerzlich zusammen und ich konnte seine Einsamkeit deutlich spüren. Erneut schlang ich meine Arme um ihn und drückte ihn fest an mich. Eine Weile blieben wir so stehen, bis Silvan sich langsam von mir löste und auf mich herabblickte.
„Willst du mir erzählen, warum du hergekommen bist?"
Ich sah zu den Blättern am Boden, die ich achtlos zertrampelt hatte und sammelte sie eilig ein. „Unsere Wirtin schickt mich um Pilze und Kräuter zu suchen." Ich hielt ihm die Liste hin und er las aufmerksam.
„Die haben wir schnell zusammen. Willst du vorher noch einen kleinen Ausflug machen?"
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. „Spätestens um zwölf muss ich wieder zurück sein."
„Kein Problem." Sein Arm schlang sich um meinen Bauch. „Ich hoffe, du hast keine Höhenangst."
Vorwurfsvoll musterte ich ihn. „Das fragst du mich nach letzter Nacht?"
Mit einem geheimnisvollen Lächeln ging er in die Knie, sprang in die Höhe und zog mich mit sich, geradewegs gen Himmel. Erschrocken klammerte ich mich an seinen Arm, während wir höher und höher schossen, um Felsen herum, über weite Wiesen, bis hinauf zu dem See, den wir gestern Nacht schon gesehen hatten. Doch auch hier hielt er nicht an. Er flog mit mir höher und höher, bis wir die tiefliegenden Wolken durchstießen. Schließlich bremste er unseren Flug und wir verharrten auf der Stelle, unter uns ein Meer aus schneeweißen Wolken.
Seine Hand um meine Taille festigte sich, doch ich spürte keine Schwerkraft. Ich schwebte, wir schwebten im Himmel. Langsam drehte ich mich in seinen Armen und griff nach seinen Händen, bevor ich mich ein Stück von ihm wegschob. Ich flog tatsächlich. Nur durch seine Berührung konnte ich mich in der Luft halten, wie ein Vogel, nein, besser als ein Vogel. Ich musste nichts weiter tun, als seine Hand zu halten.
Er beobachtete mich mit einem leichten Lächeln. Plötzlich ließ er eine meiner Hände los und schoss mit mir Kopf voran wieder in die Tiefe. Ich jauchzte aufgeregt, als wir auf die Bäume unter uns zustürzten und kurz davor wieder in die Horizontale wechselten. Schnell wie der Wind schossen wir über den Wald hinweg, hinunter ins Dorf und auch dort einfach über die Köpfe der Menschen hinweg. Niemand nahm Notiz von uns. Meine Eltern küssten sich an einem Wasserfall ein Stück weiter unten im Tal, doch bevor ich Silvan darauf hinweisen konnte, waren wir schon wieder zwischen den Bäumen verschwunden. Schließlich landeten wir wieder auf der Lichtung, wo ich den Korb und die Blätter zurückgelassen hatte.
Sanft ließ Silvan mich zu Boden gleiten. Die plötzliche Schwerkraft ließ mich kurz wanken, doch schon im nächsten Moment wandte ich mich mit erhitzten Wangen und zerzausten Haaren zu ihm um. „Das war unglaublich! Danke, Silvan."
Er lächelte. „Es freut mich, dass es dir gefallen hat. Aber jetzt sollten wir uns ein wenig beeilen, damit du rechtzeitig zurück bist." Er nickte in Richtung Berg. „Komm, ich zeige dir, wo du alles finden kannst."
Um kurz vor zwölf stand ich vor dem Bauernhaus. Silvan neben mir hielt den Korb mit den Pilzen und Kräutern in der Hand. Gleich würde er gehen und wer weiß wann wieder zurückkehren.
Stumm starrte ich das Haus an, dann drehte ich mich ruckartig zu ihm um. „Willst du nicht mit uns essen?"
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich muss zurück. Der Wald darf nicht zu lange alleingelassen werden."
„Was soll denn schon passieren?" Ich griff nach seiner Hand und zog leicht daran.
„Wenn du wüsstest...", murmelte er und ließ meine Hand los, um meine Haare ein wenig zu ordnen.
Ich genoss seine Berührung einen Moment mit geschlossenen Augen, bevor ich wieder aufsah. „Wann kann ich dich wiedersehen?"
Seine Augen funkelten mich erwartungsvoll an. „Bald."
Ich lächelte erleichtert.
Schritte waren auf dem Kies vor dem Haus zu hören und schon im nächsten Moment hatte Silvan sich aufgelöst. Nur der Korb stand noch vor mir auf dem Boden. Langsam hob ich ihn hoch und sah noch einmal zum Wald zurück.
„Da bist du ja." Alma musterte mich eingehend. „Was hast du denn gemacht?", fragte sie dann mit einem Blick auf meine Haare.
„Die Zeit ist im Wald wie im Flug vergangen." Zwinkernd ging ich an ihr vorbei. Sollte sie davon denken, was sie wollte.
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Hach, ich liebe Happy Ends ♥
Nach einem 7-stündigen Ku'damm Marathon, dachte ich, ich schenke euch zur Feier des Tages noch ein Kapitel. Ob es hier allerdings ein Happy End gibt, wird sich noch zeigen ;)
Liebe Grüße ♥
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