Freitag - 31.1 - zwei Schritt vor, einer zurück
Don't forget - it's fiction!
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Es ist Freitag in der Frühe, und der Radiowecker ist gnadenlos pünktlich. Ich kann mich nochmal kuuuurz rumdrehen, aber Markus will immer früh anfangen mit seiner Arbeit, damit er anschließend noch was vom Tag für sich hat. Also schleicht er kurz nach 6:00 nach nebenan, wo er ja seinen Arbeitsbereich hat, und fährt den PC hoch. Diesmal liegt Jimin zu meiner großen Freude noch in den Federn und schläft tief und fest. Auch das Licht vom PC stört ihn offensichtlich nicht.
Als ich wieder hochkomme, nachdem ich Simon Richtung Schule „geschubst" habe, klappt Jimin grade das erste Auge auf, reckt sich ausführlich und kriegt dann irgendwann auch ein begrüßendes Lächeln zustande. Nach dem üblichen Gang ins Bad verrät uns die Waage, dass Jimin in den drei Tagen hier mehr als ein Kilo wieder drauf gemümmelt hat. Neu motiviert treffen wir uns dann am Frühstückstisch, und Jimin tut alles, um seinem Wett-Ziel für London weiter näher zu kommen. Ich hatte ja geahnt, dass ihm das Essen in der entspannten Atmosphäre bei uns leicht fallen würde. Aber dass er innerhalb von zwei Tagen auf ganz normale Mahlzeiten mit ganz normal vollen Tellern schalten würde, hatte auch ich nicht erwartet. Wer ihn jetzt kennenlernen würde, käme nicht auf die Idee, dass dieser zierliche junge Mann grade gegen eine massive Essstörung ankämpft.
Im Laufe des Frühstücks spreche ich etwas an, was mir ein bisschen auf der Seele liegt.
„Jimin, ich vermute, dass du dich sehr auf die Gesangsstunde heute freust und auf ganz viele neue Fortschritte. Ich hoffe, ich frustriere dich nicht, wenn ich da ein bisschen bremse. Da du mit Heike nur vier Unterrichtseinheiten Zeit hast, wird es ihr vermutlich wichtiger sein, das Gelernte von gestern immer zu wiederholen, um es zu festigen, statt jedes Mal möglichst viel Neues drauf zu packen."
Zu meiner Erleichterung nimmt Jimin das nicht schwer.
„Ich weiß. Unser Ausgangspunkt war ja das Automatisieren. Ich habe mir die Playbacks von ein paar Songs von BigHit schicken lassen, dann kann ich an verschiedenen Stücken üben, falls Heike das recht ist. Aber ich glaube, für mich ist ALLES ein Gewinn. Wenn ich nur lernen kann, SO zu singen."
Ich atme auf. Ich war mir nicht sicher, ob Jimin das gut aufnehmen würde. Aber das klingt ja echt ganz gelassen.
„Das ist prima. Ich denke auch, dass du mehr mitnimmst, wenn du wenige Techniken gründlich lernst, als wenn du alles mal anreißt, ohne es wirklich zu verinnerlichen."
Da wir den Vormittag haben gemütlich angehen lassen, müssen wir nun auch schon bald los zu Heike. Diesmal kann es Jimin gar nicht schnell genug gehen mit dem Parken und Aussteigen. Als Heike die Tür öffnet, begrüßt er sie freudestrahlend und flitzt dann an ihr vorbei zu Mauri ins Klavierzimmer. Wir grinsen uns an. Der Unterschied zu gestern ist so lustig.
„Na, da haben Mauri und ich unsere Sache gestern ja gut gemacht!"
Heike schaut schmunzelnd hinter ihm her. Das kann ich nur bestätigen. Während Jimin und Mauri auf dem Fußboden rumtollen, erzähle ich ein bisschen, wie Jimin mit dem Gelernten im Laufe des Tages weiter umgegangen ist, dass er ein paar Playbacks dabei hat. Und dass die Gruppe in Russland völlig abgegangen ist, nachdem sie die dritte Aufnahme von "Lie" gehört haben.
„Mach dich auf was gefasst. Wenn das weiter so gut läuft, werden sie dich beknien, mit ihnen allen zu arbeiten."
Heike schüttelt wie erwartet entsetzt den Kopf.
„Wie soll das denn gehen? Ich habe hier Jobs, einen voll arbeitenden Mann und zwei kleine Kinder! Ich werde bestimmt nicht nach Korea jetten dafür. Und wenn das Hand und Fuß haben sollte, müssten die für mehrere Wochen hierher kommen. Das ist doch alles Unsinn. Die müssen schon zu Hause jemand finden, der so mit ihnen arbeiten kann."
Die Reaktion war mir völlig klar. Es passt jetzt so für Jimin, weil Heike einfach ein paar andere Dinge dafür lässt und nächste Woche nachholt. Aber auf Dauer müssen die Jungs eine andere Lösung finden.
Ich wechsele das Thema.
„Ich habe Jimin übrigens darauf vorbereitet, dass es nicht in dem Tempo wie gestern weitergehen wird, weil er lieber weniges gründlich lernen sollte, als möglichst viel ein bisschen mitzunehmen. Er wird viel mitnehmen. Ich wollte ihm nur den Druck rausnehmen und Enttäuschung verhindern, weil du wahrscheinlich viel wiederholen wirst. Richtig?"
Heike bestätigt das.
„Wenns nach mir geht, tanzt er bis Montag gar nicht mehr dabei. Er soll sich auf die Stimme konzentrieren."
Ich denke nach.
„Naja. Seine eigentliche Frage ist ja: wie kann ich gleichzeitig singen und tanzen, ohne dass mir immerzu die Stimme abkackt? In meiner Vorstellung erreicht er das, indem er Stimmsitz, Atmung und Konsorten so automatisiert, dass er mit Deinen Bildern im Kopf den Klang erzeugen kann, obwohl seine Muskulatur eigentlich mit was ganz anderem beschäftigt ist. Und ansatzweise hat es am Mittwoch schon mal funktioniert. Er muss also natürlich vor allem singen, um das zu automatisieren. Aber er wünscht sich auch, dass du ihm beim 'Zusammensetzen' Hilfen gibst."
Heike überlegt.
„Es geht also darum, dass ich ihm zeige, wie er 'in den Flow' kommt, wie er aufhören kann, zu denken und sich dabei zu verkrampfen und irgendwas zu erzwingen. Verstehe. Das hat allerdings ganz viel mit Persönlichkeit zu tun, und die hängt bei ihm ja grade mehr oder weniger am seidenen Faden. Die Geborgenheit bei dir und die Euphorie bei mir wird sich nur bedingt transportieren lassen bis auf die Bühnen irgendwo in der Welt. Meine Hürde dabei ist ein bisschen, dass ich den Text nicht verstehe. Das bremst bei mir ein bisschen das intuitive Arbeiten aus."
Ich nicke.
„Das dürfte leicht zu machen sein. Er hat verschiedene Playbacks mitgebracht. Unter anderem ein englisches Cover, das er im Wechsel mit Jeongguk singt. Dazu gibt es keine Choreo. Aber Jimin hat den Song ganz gut drauf. Daran könntest du viel mit ihm arbeiten. Und du würdest auch verstehen, was er singt. Wie ich dich kenne, wirst du im Laufe der Zeit immer mehr am sprachlichen und inhaltlichen Ausdruck feilen wollen. Richtig gut Englisch bzw. Amerikanisch kann in der Gruppe eigentlich nur einer der anderen, Jimin ist eher langsam mit dem Sprachenlernen. Aber mit diesem Cover trefft ihr euch gut in der Mitte. Die Frage ist einfach: willst du das Kombinieren von Gesang und Tanz möglichst nach hinten schieben, dann machs erst Montag. Und sag ihm das auch so. Willst du dabei besonders fein verstehen und führen können - dann mach es morgen, wenn Kwon da ist."
Als Jimin und Mauri sich satt geknuddelt haben, fangen er und Heike an zu arbeiten. Wie gestern beginnen die beiden mit Atemübungen, Haltung, Stimmsitz. Sie arbeiten sich durch Möglichkeiten, verschiedene Klangfarben und Gefühlsausdrücke darzustellen und konzentrieren sich auf deutliche Sprache beim Singen. Das ist gar nicht so einfach. Am liebsten hätte Heike es, wenn der Gesang so deutlich zu verstehen ist wie bei einer gut gesungenen Bach-Kantate. Aber Jimin muss aufpassen, dass es trotzdem wie lässiger Popgesang klingt und eben nicht wie eine Bach-Kantate. Aber auch zu diesem Problem finden die beiden sich nach und nach.
Am Anfang ist Jimin schnell frustriert, wenn er das Gefühl hat, alles von gestern verlernt zu haben. Obwohl er weiß, dass das Quatsch ist, erwartet er von sich selbst ein Tempo, das gar nicht konstruktiv ist.
Soviel dazu. Da hat der Kopf das Herz nicht mitgenommen ...
Aber Heike ist eine Meisterin darin, vorzumachen, wie etwas richtig oder eben falsch klingt. Und auch zu erklären, warum das so ist und wie man den richtigen Klang erzeugt. So kann sie Jimin zeigen, dass er sehr wohl immer weiter dazu lernt und die Wiederholungen von gestern vor allem dem Verfestigen dienen. Heute machen sie früher eine kleine Pause, als Heike merkt, dass Jimin dabei ist, sich selbst auszubremsen.
Sie bietet ihm stattdessen was zu trinken an und lässt ansonsten Mauri machen. Als Jimin bereit ist, weiterzumachen, erklärt sie ihm, dass Rückschritte richtig und wichtig sind und gut dazu taugen, das Gelernte immer wieder zu verankern und auszuprobieren. Wir versuchen einfach alles, um ihn aus der selbst gestellten Falle rauszulocken. Allmählich kann Jimin wieder vorwärts kucken.
Schließlich lernt Heike dann „We don't talk anymore" kennen, einmal im BTS-'Original' zusammen mit Jeongguk gesungen aus der Konserve, damit sie einen Eindruck vom Song bekommt. Dann singt Jimin ihr den Song komplett vor zum Playback. Mit ganz viel Fingerspitzengefühl korrigiert sie erst nur Atmung und Stimme, bis Jimin das Lied hörbar leichter und klarer singt. Dann spricht sie mit ihm über den Text, weckt sein Gefühl für den englischen Sprachfluss, macht ihm betonte und unbetonte Silben vor. Und schließlich arbeitet sie wieder an den Gefühlen hinter den Worten, die sie in diesem Falle ja selbst gut verstehen kann. Heute gibt es zwei Aufnahmen - eine vom ersten Vorsingen, eine von der letzten Version von „We don't talk anymore". Wieder ist der Unterschied beeindruckend. Und auch Jimin ist nun sehr zufrieden mit sich.
„Jimin, denke doch bitte bis morgen darüber nach, was Du mit mir besprechen möchtest, wenn dein Dolmetscher-Freund dabei ist. Je genauer du weißt, was du von mir willst, desto besser können wir seine Anwesenheit nutzen. Oder schick mir heute Abend eine Mail. Und hier habe ich dir meine Kontonummer aufgeschrieben. Wir notieren einfach immer die Zeit, und hinterher überweist du mir den entsprechenden Betrag. Ist das o.k. für dich?"
Jimin nickt eifrig und knuddelt zum Abschied noch einmal Mauri. Im Auto summt Jimin selbstvergessen vor sich hin. Auf der Heimfahrt muss ich noch kurz was einkaufen und nutze die Gelegenheit, Jimin ein bisschen am Speiseplan zu beteiligen. Im März war ja am Ende nicht viel Asiatisches übrig geblieben, und das hat er jetzt alles „vernichtet". Außerdem ist schon wieder der Milchreis alle ...
Zu Hause stürzt Jimin sich gleich wieder auf sein Büchlein und schreibt auf, was ihm dieser Vormittag bedeutet hat. Später erzählt er mir, wie ihm beim Schreiben allmählich bewusst geworden ist, dass er bei Heike nicht nur singen sondern auch Frustrationstoleranz lernt. Ihm ist neu bewusst geworden: das Klarkommen mit den eigenen Fehlern ist in Wahrheit seine allergrößte Herausforderung. Und dafür bietet ihm dieser Durchmarsch bei Heike reichlich Stoff. Aber es ist ihm so wichtig, dass er diese Herausforderung annehmen will.
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von wegen - Jimin kann nicht blinzeln ... (siehe das Bild ganz oben)
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28.1.2019 - 31.10.2019 - 9.4.2020
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