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𝐗𝐗𝐗𝐕𝐈𝐈𝐈

Länger wird die römische Zahl fürs Erste nicht. Die Kapitel wahrscheinlich auch nicht. Mehr habe ich jetzt erstmal nicht zu sagen. Nicht fehlinterpretieren.

☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Zayns Gesicht war das erste, was den brennenden Abgrund zerriss. Meine Brust sprengte die Knochen, verätzte die Haut, alles war zu dunkel, Nacht, und ich hörte mich atmen, es war Stimme mehr als Luft. Quellen in meinen Ohren, Blut?, Eiter? Meine Hände griffen nach der Decke, doch sie war weich und Zayns Augen ließen mich nicht los. Er sagte meinen Namen, aber meine Ohren waren nass und meine Stimme war schrill und schriller und erst nach endlosen Sekunden schaffte ich den ersten richtigen Atemzug. Plötzlich saß ich im Bett, ohne mich aufgesetzt zu haben. Feuchtigkeit musste sich der Schwerkraft beugen und als mein Kinn tropfte, wusste ich, dass die Nässe in meinen Ohren Tränen waren.

Es war ein Albtraum. Es war ein Albtraum gewesen und es war vorbei. Der Albtraum war vorbei und ich war hier in Zayns Zimmer, in Zayns Bett, und ich hatte Arme und Beine und eine Lunge, die brannte, aber funktionierte. Ich war wach.

»Louis«, sagte Zayn, und »Oh mein Gott« und »Hey« und »Shhhh« und »Louis«, wieder und wieder. Er kniete neben mir, Schienbeine verloren in der Matratze, fast nicht erleuchtet von der kleinen Lampe in seinem Rücken, seine Haare ein intimes Chaos. Als ich es schaffte, schloss ich ihn in meine Arme wie ein Schraubstock, wie einen Menschen, der mir so viel bedeutete wie die Sonne dem Mond und es war die Wahrheit. Zayn umarmte mich und ich umarmte ihn und ich atmete und wollte weinen, aber die Tränen waren im Schlaf versiegt. Ich weinte ein bisschen ohne Tränen und erst nach Minuten, nach Stille und Stille und Stille und Stille, wusste ich, dass es stimmte. Ein Albtraum und nicht nur das. Ein Albtraum in Zayns Gegenwart. Und mehr. Ein Albtraum in zweiter Nacht in Folge. Nicht mehr, seit ich ein Kind gewesen war, war das vorgekommen. Was machte ich hier?

Auch Zayn hatte seit Jahren keinen meiner Albträume mehr erlebt und es war sichtbar. Seine Muskeln zitterten, sein Gesicht war weiß, als ich ihn losließ, oder vielleicht war es das Licht. Sicher hatte er für einen Moment zusehen müssen. Es war nicht klug, mich zu wecken – was ich nie verstanden, aber mein erster Kinderarzt meinen Eltern ans Herz gelegt hatte. Nicht wecken, es ist ein Pavor nocturnus. Ich hatte keinen Pavor nocturnus, ich war nicht mehr fünf, es war etwas anderes, aber Zayn wusste, was die Regel gewesen war. Louis nicht während einem seiner Träume wecken, er wacht von alleine auf, Licht an und warten. Schwachsinn. Mein Herz hämmerte.

»Lou«, sagte Zayn und versuchte, gesammelter auszusehen, als er war. Seine Stirn verriet ihn.

»Alles okay.«, log ich, halb, es war auch die Wahrheit. Schweiß war auf meinem Rücken, Arme bis zu den Handgelenken, Brust und Bauch. Ich wollte duschen, aber damit würde ich bis morgens warten müssen. Ich zwang meinen Körper, sich langsam zu beruhigen. Wenigstens für Zayn.

»Ich wusste nicht... Gott, Louis, das habe ich ewig nicht... Es tut mir so leid.« Seine Hände lagen auf seinen Knien, fast auf meinen, es gab nichts für mich zu sagen und er sah es. »Möchtest du ein bisschen Wasser?«

Ich wollte nicht, aber nickte, um Zayn das Gefühl zu geben, etwas für mich tun zu können. Er spiegelte mein Nicken und schälte sich aus der Decke. Kurz traf die kühle Luft der Nacht mich und kollidierte mit meiner Wand aus Schweiß. Das Zittern schüttelte meinen ganzen Körper, lief jeden Wirbel meiner Wirbelsäule hinunter. Ekel saugte sich in die Poren meiner Haut, aber das Schütteln hatte geholfen. Wenn auch nicht aus meinen Gedanken, hatte es den Albtraum wenigstens aus meinen Knochen geschüttelt.

In der Küche summte Zayns Stimme, dann auch eine andere. Kurz starrte ich verstört auf meine Finger, die das Muster der Bettdecke verzerrten, dann wurde mir klar, dass er mit einem seiner Mitbewohner redete. Hatte ich die ganze Wohnung aufgeweckt? Ich wollte, dass die Nacht vorbei war. Ich wollte Zayns Gesicht ausgeschlafen sehen, selbst schnell duschen und schneller nach Hause gehen. Aber es war erst- Ich wusste nicht, wie spät es war.

Mit müden und feuchten Augen suchte ich nach Zayns Handy, fand es. 2:56 Uhr. Die Nacht war noch lang. Die Nacht war noch ewig. Ich konnte nicht einfach wachbleiben und die Decke anstarren. Ich musste schlafen, ob ich wollte oder nicht.

»Hier.«, Zayn war zurück und schloss die Tür leise hinter sich. Ich wollte nicht über das nachdenken, was er gerade seinem Mitbewohner erzählt hatte. ›Ja, Louis, er hat das manchmal. Der Arme. Gruselig, aber jetzt ist es vorbei. Schlaf weiter.‹

Ich trank erst vorsichtig und dann wurde mir klar, dass ich das Wasser wirklich brauchte. Ich trank mit vollen Wangen und zwang mich dann, das Glas abzusetzen, um Mittel- und Ringfinger meiner rechten Hand einzutauchen und das Salz auf meinem Gesicht zu verdünnen. Zayn ließ mich nicht aus den Augen, er kniete aufmerksam vor mir. Dabei wusste er auch vom Glück im Unglück. Meine Albträume brachen auch das letzte Vertrauen in meinen Schlaf, aber sie verloren ihre Wirkung in der Realität fast sofort. Vielleicht war ich nach so vielen Jahren ein Meister der Verdrängung geworden, es wurde mit jeder verstreichenden Minute schwerer, wiederzuerwecken, was mich eben noch gebrochen hatte. Wenn ich mich konzentrierte, wusste ich, was ich gesehen und gehört hatte, aber niemals konnte ich das tötende Gefühl, das meinen Körper korrumpiert hatte, neu beleben. Zum Glück. Denn allein die hypothetische Erinnerung an dieses Gefühl ließ mich nie wieder ein Auge zumachen wollen. Aber der wirkliche Horror war erstickt. Für den Moment.

Zwei Albträume in zwei aufeinander folgenden Nächten. Was das prophezeite, wollte ich wirklich nicht wissen. Eigentlich hatte ich Zayn von letzter Nacht erzählen wollen. Aber das war jetzt keine Option mehr. Die Frequenz würde tiefe Sorge in ihm pflanzen. Nicht, solange ich bestimmte.

»Ist es besser?«, fragte Zayn und ich beschränkte mich auf ein Nicken, Misstrauen in meine Stimme. »Noch mehr Wasser?«,

Ich schüttelte den Kopf, leerte das Glas und beugte mich an Zayn vorbei, um es auf dem Boden abzustellen, aber er pflückte es mir aus den Fingern und ersparte mir den Rest. Ich wollte nicht reden, nichts auswerten. Also sank ich zurück ins Kissen, wickelte mich in meine Hälfte der Decke gegen den kühlenden Angstschweiß. Um Zayns Bettwäsche auszusparen, war es sowieso zu spät.

»Weiter schlafen?«, fragte Zayn, behutsam, ein bisschen bedenklich, unglaublich mitleidig.

»Ja.«, hauchte ich bittend.

Er verstand. Zayn würde immer alles verstehen. Er war zu gut für mich. Er war alles, was ich immer gebraucht, aber niemals verdient hatte. Und jetzt schaltete er das Licht aus. Er wartete auf Worte von mir – ›Gute Nacht‹ oder ›Schlaf gut‹ oder ›Ich kann das nicht mehr, Zayn.‹ – das wusste ich, aber ich schwieg und so schwieg er auch. Dieses Mal wartete ich vergeblich, seinen ruhigen Atem zu hören. Nach vielen Minuten, als die Müdigkeit meine geschlossenen Augen und dann auch meine Ohren besiegte, herrschte immer noch seine Stille.

Es war November und langsam war es auch für mich nicht mehr zu leugnen. Der Herbst war in voller Blüte seines eigenen Endes und nicht nur der Herbst, auch das Jahr neigte sich dem Ende zu. Ein Blatt fallen zu sehen, wurde zu seltener Freude verzögerter Kahlheit, Äste durchschnitten nackt den kalten Stadthimmel, Regen wurde nur durch schweren Nebel abgelöst und die Sonne ertrank, bevor ich sie auch nur zu Gesicht bekommen hatte. Nacht nach 16 Uhr, feuchte, verräterische Kälte.

Gemütliche Herbsttage im Warmen hinter nassgeregneten Fenstern mit Buch auf dem Schoß gehörten den Kindern und den Reichen. Mein Lesetempo kaum einen Monat vor Weihnachten hatte nicht mehr viel mit Gemütlichkeit zu tun. Ich schleppte mich zur Uni, in die Bibliothek, nach Leeds, und schließlich nach Hause, in meine kalte Wohnung, weiße Wände, auf dem Boden eine verlassene Matratze mit Kissen und Decke, verräterisch und grausam, unberührt und behutsam umrundet, obwohl Harry schon drei volle Nächte verschwunden war.

Konfrontation; niemals.

Süchtig nach der Wärme des Spülwassers schrubbte ich den Teller meines Abendessens sehr viel gründlicher als nötig. Es hatte nichts als Butterbrot und rohe Karotten gegeben, weil ich mich beim Einkaufen etwas verschätzt hatte. Oder es war der Schatteneffekt vom gestrigen Samstag, den ich komplett alleine in meiner Wohnung verbracht hatte – zumindest, nachdem ich morgens das Wohnheim verlassen hatte. Auch heute hatten meine Füße es nicht bis in den Hausflur geschafft. Träge rotierte ich seit weit über 24 Stunden zwischen Schreibtisch, Toilette, Bett und Küche für die gelegentliche Mahlzeit. Alle paar Stunden öffnete ich ein Fenster ein Stück – naiv und verschwenderisch, weil Ewigkeiten vergingen, bis das erträgliche Wärmelevel wieder hergestellt war, aber ich brauchte den Sauerstoff. Und die Treppen hinunter bis nach draußen schaffte ich es nicht. Abgesehen davon, dass es fast pausenlos regnete. Vielleicht wäre es – mit Blick auf die Prüfungsphasen – auf lange Sicht gesünder, wenn ich auch anfing, zu rauchen. Nur, um ein bisschen Bewegung zu bekommen. Obwohl, vielleicht wäre es am klügsten, hier oben in meiner Wohnung zu rauchen. Dann könnte ich hundertprozentig früher oder später Bukowski channeln und Kreatives Schreiben würde eine Leichtigkeit werden.

Ich war eigentlich jetzt schon ein leidender Dichter. Nur eben leider ohne den Dichter-Teil.

Den Großteil der Zeit las ich noch, aber ich war auch schon fast fertig mit dem Romantik-Essay und ansonsten kämpfte ich den hoffnungslosen Kampf des Lyrikschaffens. Ich hatte zwar immer noch Zeit, aber Inspiration war nicht linear und woher konnte ich wissen, dass ich nicht vielleicht gerade auf dem höchsten Berg von Dichtkunst war, den ich vor der Deadline erreichen würde? Auch wenn der nicht besonders hoch zu sein schien. Aber darüber war ich lange nicht mehr überrascht.

Ich trocknete widerwillig meine Hände ab, den Teller und das benutzte Besteck ließ ich an der Luft trocknen. Routiniert füllte ich mein Wasser am Schreibtisch wieder auf, lief dreimal den Flur auf und ab, umrundete die verlassene Matratze und kehrte schließlich an den verfluchten Arbeitsplatz zurück.

Gnädig mit mir selbst öffnete ich das Dokument, über dem die fette Überschrift klaffte: Wie das Zeitalter der Aufklärung den Weg für die Romantische Psychose ebnete – eine Charakterstudie. Mit 75% des Geschriebenen war ich durch. Wenn alles gut lief, würde ich morgen fertig werden und übermorgen überarbeiten können. Das wäre dann der erste Haken auf einer langen Liste. Ich legte die Finger auf die Tastatur und tippte, was ich mir während des Essens überlegt hatte.

Die Kraft der Mahlzeit begleitete mich eine Weile, ein kurzer, stetiger Ritt auf den Wellen der Konzentration. Bis mein Handydisplay aufleuchtete – und ich wegsehen wollte, aber nicht konnte, als ich die drei Buchstaben sah.

𝗦𝗼𝗦

Zayn. Sofort griff ich nach dem Handy. Zayn tippte und mein Verstand hüpfte schon jetzt vor bloßer Aufregung darüber, dass auch nur die geringste Sache passierte, die nichts mit Uni zu tun hatte. Er nahm sich Zeit oder es war eine lange Nachricht. Mein rechtes Bein wippte auf und ab. Endlich kam die Nachricht an.

𝗔 𝗽𝗲𝗿𝗳𝗲𝗰𝘁 𝗱𝗮𝘆 𝗯𝗲𝗴𝗶𝗻𝘀 𝗶𝗻 𝗱𝗲𝗮𝘁𝗵, 𝗶𝗻 𝘁𝗵𝗲 𝘀𝗲𝗺𝗯𝗹𝗮𝗻𝗰𝗲 𝗼𝗳 𝗱𝗲𝗮𝘁𝗵, 𝗶𝗻 𝗱𝗲𝗲𝗽 𝘀𝘂𝗿𝗿𝗲𝗻𝗱𝗲𝗿. 𝗧𝗵𝗲 𝗯𝗼𝗱𝘆 𝗶𝘀 𝘀𝗼𝗳𝘁, 𝘁𝗵𝗲 𝘀𝗼𝘂𝗹 𝗵𝗮𝘀 𝗴𝗼𝗻𝗲 𝗳𝗼𝘂𝗿𝘁𝗵, 𝗮𝗹𝗹 𝘀𝘁𝗿𝗲𝗻𝗴𝘁𝗵, 𝗲𝘃𝗲𝗻 𝗯𝗿𝗲𝗮𝘁𝗵. 𝗧𝗵𝗲𝗿𝗲 𝗶𝘀 𝗻𝗼 𝗽𝗼𝘄𝗲𝗿 𝗳𝗼𝗿 𝗴𝗼𝗼𝗱 𝗼𝗿 𝗲𝘃𝗶𝗹, 𝘁𝗵𝗲 𝗹𝘂𝗺𝗶𝗻𝗼𝘂𝘀 𝘀𝘂𝗿𝗳𝗮𝗰𝗲 𝗼𝗳 𝗮𝗻𝗼𝘁𝗵𝗲𝗿 𝘄𝗼𝗿𝗹𝗱 𝗶𝘀 𝗻𝗲𝗮𝗿, 𝗲𝗻𝗳𝗼𝗹𝗱𝗶𝗻𝗴, 𝘁𝗵𝗲 𝗯𝗿𝗮𝗻𝗰𝗵𝗲𝘀 𝗼𝗳 𝘁𝗵𝗲 𝘁𝗿𝗲𝗲𝘀 𝘁𝗿𝗲𝗺𝗯𝗹𝗲 𝗼𝘂𝘁𝘀𝗶𝗱𝗲."

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen und ich las die Zeilen einmal, zweimal, dreimal, viermal. SoS – ›Sleep or Sex‹. Ein albernes Spiel, das vor einigen Jahren zwischen mir und Zayn entstanden war. Zitate, die es verdächtig schwierig machten, herauszulesen, ob Schlaf oder Sex beschrieben wurde. Allein dafür lohnte es sich, ein viel-lesender Mensch zu sein. Es gab nichts Besseres als die Beschreibung eines rauschhaften Schlafes oder eines dumpfen Orgasmus – und sich nicht sicher zu sein, welches von beidem vorlag.

Ich las nochmal.

𝗦𝗲𝘅

Mein Tipp nach einiger Überlegung. Ich schrieb weiter.

𝗗𝗮𝘀 𝗺𝗶𝘁 𝗱𝗲𝗺 𝗦𝘁𝗮𝗿𝘁 𝗶𝗻 𝗱𝗲𝗻 𝗧𝗮𝗴 𝘀𝗼𝗹𝗹 𝗶𝗻 𝗱𝗶𝗲 𝗜𝗿𝗿𝗲 𝗳ü𝗵𝗿𝗲𝗻

𝗴𝘂𝘁𝗲𝗿, 𝘁𝗿ä𝗴𝗲𝗿 𝗠𝗼𝗿𝗴𝗲𝗻𝘀𝗲𝘅

𝗮𝗹𝘀𝗼 𝗢𝗿𝗴𝗮𝘀𝗺𝘂𝘀

𝗽𝗼𝘀𝘁-𝗢𝗿𝗴𝗮𝘀𝗺𝘂𝘀 𝗲𝗵𝗲𝗿

𝗜𝘀𝘁 𝗲𝘀 𝗣𝗼𝘄𝗲𝗿𝘀?

Dieses Mal brauchte Zayn nicht lange mit der Antwort.

𝗦𝗰𝗵𝗹𝗮𝗳!

𝗵𝗮𝗵𝗮 𝘃𝗲𝗿𝗹𝗼𝗿𝗲𝗻

𝗽𝗼𝘀𝘁-𝗦𝗰𝗵𝗹𝗮𝗳

𝗮𝗸𝗮 𝗔𝘂𝗳𝘄𝗮𝗰𝗵𝗲𝗻

𝗪𝗮𝗿 𝗮𝗯𝗲𝗿 𝘀𝗰𝗵𝘄𝗶𝗲𝗿𝗶𝗴, 𝗴𝗲𝗯𝗲 𝗶𝗰𝗵 𝘇𝘂

𝗦𝗮𝗹𝘁𝗲𝗿

Ich wollte Zayn zur Rede stellen, wie er Zeit hatte, Salter zu lesen, der ganz und gar nicht in die Epoche der Romantik fiel, aber ich wollte ihm kein schlechtes Gewissen machen. Zayn tippte noch immer.

𝗦𝗮𝗹𝘁𝗲𝗿 𝘀𝗰𝗵𝗿𝗲𝗶𝗯𝘁 𝗮𝗯𝗲𝗿 𝘄𝗶𝗿𝗸𝗹𝗶𝗰𝗵 𝗲𝗶𝗻 𝗯𝗶𝘀𝘀𝗰𝗵𝗲𝗻 𝘄𝗶𝗲 𝗣𝗼𝘄𝗲𝗿𝘀!

Ä𝗵𝗻𝗹𝗶𝗰𝗵 𝗹𝘆𝗿𝗶𝘀𝗰𝗵, 𝘄𝗲𝗻𝗶𝗴𝗲𝗿 𝗠𝗲𝘁𝗮𝗽𝗵𝗲𝗿𝗻, 𝗮𝗯𝗲𝗿 𝘀𝗲𝗵𝗿 𝘀𝗰𝗵ö𝗻. 𝗪𝗲𝗻𝗶𝗴𝗲𝗿 𝗯𝗲𝘀𝗲𝘀𝘀𝗲𝗻 𝗺𝗶𝘁 𝘀𝗽𝗲𝘇𝗶𝗳𝗶𝘀𝗰𝗵𝗲𝗻, 𝘂𝗺𝗸𝗿𝗲𝗶𝘀𝗲𝗻𝗱𝗲𝗻 𝗧𝗵𝗲𝗺𝗲𝗻.

Dazu konnte ich nichts sagen, ich hatte noch nie einen James-Salter-Roman gelesen. Amerikaner hatten seit dem Studium ein bisschen an Priorität verloren. Powers war allerdings eine Leidenschaft von Zayn. Wir führten einen ewigen Streit, wer besser singend-intellektuelle Romane schrieb; Richard Powers oder Donna Tartt. Zayn hielt an Powers fest und lag falsch.

Ich wollte ihm antworten und mich entschuldigen, dass ich weiter schreiben musste, als ich in der Bewegung innehielt und das Geräusch atmen ließ, das die Stille zerschnitten hatte. Meinen Ohren nicht trauend wartete ich unbewegt. Sekunden verstrichen und dann kehrte es zurück; ein sanftes Klopfen, Finger auf Holz.

Ich sprang so hektisch auf, dass mein Stuhl fast nach hinten umgefallen wäre. Ich fing ihn rechtzeitig, Blut kochte trotzdem in meinen Wangen. »Ja!«, rief ich lauter, als die Sonntagsnachtruhe es erlaubt hätte, und mit schriller Stimme, die nicht nur mehr als einen Tag lang nicht benutzt worden war, sondern vor Panik fast brechen wollte. Meine Socken hatten nicht vorausgesehen, wie schnell ich auf ihnen den Flur durchqueren konnte. Ich riss die Wohnungstür auf.

Wovor auch immer ich Angst gehabt hatte – dass Harry sich wieder in Luft aufgelöst hätte, wenn ich nicht innerhalb von zwei Sekunden an der Tür war, oder dass es vielleicht doch ein verirrter, nächtlicher Fremder war – die Szenarien traten nicht ein.

Es war Harry.

Harry schöner als in meinen traurigsten Erinnerungen, Harry, als wäre er nie fort gewesen, Harry mit lebendigen Augen, immun gegen jeden einzelnen meiner Verrate.

Ich war so erleichtert und verzweifelt, dass ich ihn fast wieder umarmt hätte. Über die Türschwelle gestolpert und ihn fest, warm, fester in meine Arme geschlossen. Aber sogar ich war lernfähig.

»Harry«, sagte ich, weil sich Worte noch nicht von alleine hatten formen wollen. »Hi.«

»Hallo Louis.«

Hallo Louis. Womit hatte ich das verdient? War es nicht das, was er mir vor seinem Verschwinden genauso gesagt hatte? Ich würde mich gedulden müssen. Vertrauen in Harry zu haben, bedeutete, wirklich zu vertrauen.

Den Punkt hatte ich anscheinend noch lange nicht erreicht.

»Komm rein!«, sagte ich, idiotisch, bevor er es sich doch noch anders überlegen konnte. Mit bitterem Lächeln den Kopf schütteln und mir erklären würde, dass er nur hier war, um sich endgültig von mir zu verabschieden. Einen vernünftigen Schlussstrich ziehen. Mich darüber aufklären, wie ich sein Vertrauen missbraucht hatte; ihn in verletzlicher Position bei mir aufgenommen und dann aus meiner Machtposition heraus hinter seinem Rücken ausspioniert und meine Versprechen gebrochen hatte.

Aber er nickte blinzelnd. Und trat wirklich auf Füßen so nackt wie eh und je auf mein altes Linoleum. Noch immer beging ich den kurzen Fehler der dämlich-schauendenden Skepsis, als ich wartete, dass er die Garderobe auf irgendeine Weise nutzte. Wozu er natürlich keinerlei Grund hatte. Ich schloss die Tür hinter ihm. Harry in meiner Wohnung. Harry war zurück in meiner Wohnung!

Er brach meine Skepsis schnell, als er ohne weitere Anleitung durch den Flur marschierte, an Bad und Küche vorbei, hinein in den einzig übrigen Raum. Ich folgte ohne Zögern und musste erst verarbeiten, dass Harry zielsicher das ganze Zimmer durchquert hatte und jetzt direkt vor meinem Schreibtisch stand.

»Darf ich das Feuer löschen?«, fragte er ohne Umschweife und mich überkam das überwältigende Gefühl, noch nie so viel Eigeninitiative von Harry erlebt zu haben. Natürlich erlaubte ich es ihm. Anders als beim letzten Mal beugte er sich direkt hinab und blas die fünf brennenden Kerzen mit fünf unfehlbaren Blähungen seiner Wangen aus. Sein weißes Kleid fiel vorne tiefer als hinten und er richtete sich wieder auf. »Darf ich die Fenster öffnen? Das schafft bessere Atemluft.«

Idealszenario: für einen Moment die Zeit und Harry mit seinem entschiedenen Gesicht anzuhalten, um zu realisieren, was hier passierte. Ich bezweifelte, dass die Luft der Bloom Street besser für meine Lungen war als die dünnen Rauchschwaden und Schatten geschmolzenen Wachses hier drin, aber auch hier gewährte ich schnell seinen Wunsch. Er musterte das spiegelnde Fensterglas. Erst als ich die träge laufenden Wasserrinnsale darauf sah, fiel mein Mund sanft auf. Harry war staubtrocken, obwohl es draußen seit Stunden durchregnete. Es war kein ungezügelter Sturm, aber er hätte definitiv nasser sein müssen. Dass er keinen Regenschirm besaß, wusste ich. Wie lange war er in meinem Hausflur gewesen?

Auch wenn die Vorstellung von was auch immer die Erklärung dafür war, mich verstörte, würde ich es ruhen lassen müssen. Harry wegen einer vergleichsweise so trivialen Sache zur Rede stellen zu wollen, schien gerade mehr als dumm. Erst als ich mich mit dieser Tatsache abgefunden hatte, wusste mein Blick wieder, was er außerdem sah, hinter Harrys springenden Locken und trockenen Fußsohlen. Noch immer starrte er das Fenster an. Ein paar Sekunden mehr brauchte ich noch, dann verstand ich. Vielleicht wusste er nicht, wie meine Fenster funktionierten. Vielleicht war er andere gewohnt.

»Warte.«, sagte ich und trat zu ihm an den Schreibtisch. Ich beugte mich vor, wie er es für die Kerzen getan hatte, und öffnete die Metallschlösser mit sanftem Drehen. Ohne Erklärung, um ihm kein Gefühl von Dummheit zu geben. Langsam, demonstrativ schob ich das Fenster nach oben auf. Das war dann wohl das Ende meiner warmen Luft.

Harry schien meine Demonstration zu akzeptieren, denn er ging direkt zum zweiten meiner drei Fenster. Vorsichtig machte er sich an die Arbeit.

»Das rechte klemmt.«, teilte ich ihm mit, als er das rechte Schloss nicht aufbekam. »Du musst es ein bisschen runterdrücken«

Eine halbe Minute später war das Fenster offen und er wandte sich zufrieden zu mir um. Gespannt wartete ich auf seinen nächsten Plan für meine Wohnung, aber keiner folgte. Stattdessen setzte er sich auf die Matratze, die ich um keinen Zentimeter bewegt hatte. Ich blieb stehen.

»Louis.«, sagte er. Ich hatte meinen Namen auf seiner Zunge vermisst. »Ich war weg.«

Eine so unnötige Feststellung, dass ich vor Erleichterung und Frustration fast gelacht hätte. Stattdessen ergriff ich meine Chance. »Ja. Und es tut mir leid, Harry. Ich hatte kein Recht darauf, dich irgendwie zu konfrontieren mit den Dingen, die ich gegen deinen Willen über dich-« Sein Blick schnitt mir die Worte ab. Was war mit ihm passiert? Woher all die plötzliche Entschiedenheit? »Ich sollte nicht stehen.«, stellte ich laut fest, weil es nur ein Beweis unserer Hierarchie zu sein schien. Ich kniete mich auf den Boden vor ihm hin, in sicherer Entfernung.

»Louis.«, sagte er wieder. Mein Name in seiner Macht. »Ich bin zurück. Und wenn du willst, kann ich bleiben.«

»Ich will! Also- oh nein, tut mir leid. Nur, wenn du möchtest natürlich, und wenn du das Gefühl hast, dass es das Richtige für dich ist; dass ich helfen kann und dass du dich wohl fühlst.« Mit heraufbeschworenem Willen hinderte ich mich daran, weiter zu reden. Keine Monologe mehr.

»Es gibt Regeln.«, fuhr er fort.

Regeln? Nach einer Sekunde Initial-Schock waberte Dankbarkeit in meinem Brustkorb. Regeln waren gut; sie bedeuteten, dass Harry Grenzen ziehen konnte. »Okay.«, stimmte ich also zu.

Als er den Mund öffnete, konnte ich noch immer nicht glauben, dass er wirklich hier war. »Ich studiere nicht mit dir.«, sagte er, als hätte ich es vielleicht vergessen. »Bitte stell mir dazu keine Fragen. Das ist eine Regel. Keine Fragen von dir an mich zu mir.«

Mein Herz wollte brechen, weil es so viel Sinn ergab. Natürlich hatte er nicht das Gefühl, mir in der Hinsicht vertrauen zu können, ohne offen heraus zu fordern. Hätte es schlimmer sein können? Er forderte ein Verhalten, das ich ihm eigentlich längst versichert – nur nicht eingehalten – hatte. »Keine Fragen. Ich werde keine stellen.«, versicherte ich schnell.

Entgegen meiner Erwartungen fiel sein fester Blick jetzt hinunter auf seine Hände. So kannte ich Harry. Was war es, das ihn bewegte? »Ich weiß, dass das eine seltsame Bitte ist. Aber du musst mir glauben, Louis; es ist zu deinem Besten.«

Ich war mir ungefähr zweihundertprozentig sicher, dass er sich da irrte, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Besser oder schlechter für mich; es ging um Harry. »Okay.«, stimmte ich zu.

»Bitte mach dir keine Gedanken über mich, Louis.«, fuhr er fort. Die kalte Abendluft erreichte jetzt meine halbnackten Fußknöchel. »Menschen verhalten sich manchmal unergründlich, unverständlich. Das wirst du wissen. Erlaube mir meine Unergründlichkeit.«

Er klang wie ein Priester, oder ein Sektenführer. Aber ich wusste, was er sagte, und ich wusste, was er meinte, und ich wusste, wie viel Mut und Willen ihn das hier gerade wahrscheinlich kostete. Für eine Sekunde glaubten meine Augen, sie würden weinen wollen. Ich ließ ihnen die Wahl nicht, sondern nickte entschlossen. »Natürlich.«

»Bitte biete mir nichts zu essen oder zu trinken an. Meine Grundbedürfnisse sind von mir selbst gestillt.«

Das war die erste Regel, die mir ganz und gar nicht gefiel. Überhaupt nicht. So sehr ich Verständnis für seine Zurückhaltung hatte, auch nur irgendwelche Nahrungsmittel von mir anzunehmen; ich hatte immer angenommen, dass er sich früher oder später doch dazu überwinden würde. Nichts zu trinken anbieten! Er wollte nicht das Gefühl haben, mich in irgendeiner Weise – finanziell – zu belasten, aber er belastete mich mehr, wenn ich ihm nicht mal ein Glas Wasser anbieten durfte.

Aber auch hier war ich nicht in einer Position, ihm seinen Wunsch zu verwehren. Ich war nicht stark genug für Worte, also nickte ich dieses Mal stumm.

»Eine Sache noch.« Seine Augenbrauen zuckten. Mehr als das. Ohne wirkliche Bewegungen schien sein Gesicht zu beben. Oder meine Wahrnehmung spielte verrückt, weil ich mich zu sehr danach gesehnt hatte, ihn wiederzusehen, und jetzt war er wirklich hier. »Keine Berührungen, Louis.«

Alles war stiller, aber lauter, wie Unterwasser. Ich absoluter Idiot. Harry hätte mich ohrfeigen können und der Schlag wäre auf seiner eigenen Wange gelandet. Ich schluckte, verzweifelt nach Druckausgleich, einem Knacken in meinen Ohren, aber die Welt blieb dumpf.

»Keine Umarmungen. Keine Finger oder Hände, keine...kein physischer Kontakt.«

Mein Königreich für eine Zeitmaschine. Für eine Zwangsjacke, die meine Arme eher brechen würde, als Harry Angst zu machen. War das der Grund, wieso Harry mir nicht immer in die Augen sehen konnte? Wieso ich ihm kein Glas Wasser anbieten durfte und er jedes dritte Wort wiederholte, was ich jemals sagte? Weil er Angst hatte, dass ich ihn berühren könnte? Noch eine Berührung? Ich wollte mich aus dem nächsten Fenster stürzen und Harry meinen Mietvertrag überlassen. War ich offiziell der schlechteste Mensch in ganz Manchester? Sollte ich Harry die letzte Bitte verwehren und ihn lieber aus der Wohnung schmeißen, um ihm zu raten, sich am besten für immer von mir fern zu halten?

Wie die moralisch verzerrtesten Menschen hatte ich nicht mal ein Problem in meinen Handlungen gesehen. Mit pochendem Herzen hatte ich Harry umarmt, ihn aufgesaugt, und am schlimmsten; mir eingeredet, dass es ihm gefallen hatte. Menschen konnten nicht undifferenziert in gute und schlechte Kategorien klassifiziert werden, aber es musste mich zu der grausamsten Art einordnen, dass ich Harry mit meinen eigenen Händen zerbrochen hatte, ohne auch nur irgendetwas zu merken. Immer hatte ich mir bewusst gemacht, dass ich nichts über seine Vergangenheit oder Traumata wusste – und trotzdem die Zündschnur gezündet.

Und jetzt? Nachdem Harry mehr Mut zeigte, als ich wahrscheinlich in meinem ganzen Leben, wusste ich nicht auch nur ansatzweise, was ich sagen wollte. Wieso war Harry mir nicht ferngeblieben nach dem ersten geschummelten Versteckspiel auf dem Balkon in der Uni? Ich hätte Zayn erzählt, dass ich den schönsten Jungen der Welt getroffen hatte, recht gehabt, und Harry als ein nicht mal romantisiertes Bild seinerselbst mehr in einem ästhetischen als emotionalen Teil meines Gehirn abgespeichert. Und Harry wäre meinem Zerstörungswillen entkommen.

Vielleicht war es wirklich das Selbstloseste, Harry jetzt in hohem Bogen rauszuschmeißen.

Aber auch das war ein privilegierter und ignoranter Gedanke – emotionale Machtverhältnisse streng von materieller Not trennen zu können. Davon auszugehen, dass Harry ein Leid über das andere wählen konnte, um die Summe zu minimieren. Aber ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Seine Haare sahen so weich aus und ich war das Problem.

»Es tut mir leid, Harry.« Was war es wert? Nichts, und ich wusste es. Was tat mir leid? »Alles. Also...alles, aber jetzt meine ich alles, was ich getan habe. Kein physischer Kontakt. Natürlich nicht. Deine Regeln. Ich halte mich daran.«

»Danke Louis.« Und dann lächelte er. Es brauchte das Lächeln, um zu wissen, dass es fehlte. Zwei Grübchen für nur einen Abgrund. Keine Berührung, keine Fragen, kein Essen, kein Trinken, kein...Gedanke?

Unergründlichkeit traf es wohl ziemlich gut. Ich würde sie ihm lassen müssen.

»Wenn dir irgendetwas nicht gefällt, das ich tue«, ergriff ich die Chance des Momentes, »wenn ich etwas falsch mache; bitte sag es, Harry. Bitte sprich es aus. Das ist meine Bitte.«

»Ich gebe mein Bestes, Louis.« Kurz sah er so aus, als würde er meine Hand nehmen wollen, aber es konnte nur Illusion sein. »Ich gebe immer mein Bestes.«

Er war unmöglich. Er war eine Sternschnuppe in meiner Wohnung. Schön genug, dass ich mich an Luft verschluckte; traurig genug, dass ich es nur für ein paar Minuten aushielt, darüber nachzudenken, was er wirklich bedeutete. Er gab immer sein Bestes.

Also gut. Ich hatte meine Regeln. Das würde ich schaffen müssen. Und dann, mit ein bisschen Geduld und Respekt, würde vielleicht das mit dem Vertrauen gelingen und Harry würde mir von all den Dingen erzählen, die ich jetzt nicht mehr erfragen durfte. Harry war aus eigenen Stücken zurückgekommen. Er wollte hier sein. Das musste erstmal reichen. Würde es.

»Ich freue mich, dass du zurück bist.«, erklärte ich ehrlich, aber strich die Bemerkung, dass ich mir Sorgen um ihn gemacht hatte. Schritt für Schritt.

Und was auch immer ich erwartet hatte; es war nicht Harrys erleichtertes Lächeln gewesen, und das schwerelose: »Ich auch!«

Unmöglich, ja.

Harrys Kopf sprang zum Fenster wie der einer Marionette. »Ist dir kalt, Louis?«, fragte er dann mit sofortiger Schuld in der Stimme.

War ich es nicht, der ihn warmhalten sollte? »Nein«, log ich.

Er runzelte die Stirn, und atmete tief ein. Es war wie ein Lehrvideo zu kognitiver Dissonanz. Harry rappelte sich auf und schloss ein wenig unbeholfen beide Fenster – ohne sie zu verriegeln. Wie eben schon blieb er vor meinem Schreibtisch stehen. Für ein paar Sekunden hatte ich Angst, dass er mit seinem bloßen Atem die Kerzen wieder zum Brennen bringen würde und dann rückwärts durch den Flur aus meiner Wohnung marschierte, um die verdrehte Zeitschleife zu vervollständigen.

Dann setzte er sich auf meinen Schreibtischstuhl. Wieder musste ich ein ungläubiges Lachen stoppen. Was war hier los?

»Dein Tisch.«, sagte Harry und ich stand auf. »Du musst arbeiten.«, fuhr er fort und die Schuld hatte seine Stimme nicht verlassen. »Deine Bücher und Dinge. Wenn du hier sitzt, musst du wirklich arbeiten. Dann ist es schon fast zu spät.«

Ich erinnerte mich an das Gespräch – oder eher mal wieder einer meiner Monologe. Ich konnte nicht wirklich daran zurückdenken, ohne mich selbst ohrfeigen zu wollen. Alles, was ich jemals sagte, war unangenehm.

Aber Harry hatte gut zugehört. »Ja.«, gestand ich, bemüht lässig, beiläufig. »Ein bisschen Unistress.«, fuhr ich fort, aber wusste nicht, wie willkommen das Thema Uni war und ließ es fallen. Ich stand neben Harry, fast nicht hinter ihm. Hätte ich in das Fenster aufgeschaut, hätte ich uns gesehen. Harry und mich an meinem Schreibtisch. Als ich beinahe den Mut gesammelt hatte, unsere Spiegelung zu suchen, stand Harry auf.

»Arbeite, Louis. Wenn die Universität dir sonst Stress bereitet. Ich halte dich nicht auf.« Er gestikulierte zur jetzt freien Fläche meines hölzernen Stuhles.

»Ich muss nicht-«, begann ich zu protestieren, um mein Gastgeben nicht gleich wieder zu ruinieren, aber Harrys entschlossener Blick war seinen Worten noch voraus.

»Bitte, Louis. Es ist besser für dich.«, bestand er. Ich wollte nicht. Aber sein Blick war nicht nur bittend, fast flehend. Priorität Nummer 1: tun, worum Harry bat.
Aber ich konnte doch jetzt nicht einfach so tun, als wäre Harry nicht da und weiterarbeiten..?

»Ich kann weiterarbeiten... Aber was möchtest du tun?« , fragte ich vorsichtig. Seine Lippen verrieten ohne ein einziges Wort, dass er darüber noch nicht nachgedacht hatte. »Du kannst gerne eins meiner Bücher ausleihen.«, kramte ich eilig in meinem Kopf. »Oder falls du Stift und Papier möchtest...« – ich wusste, dass er kein Kunststudent war, aber vielleicht konnte er ja trotzdem etwas damit anfangen. »Oder vielleicht willst du dich einfach ausruhen, ich will dir nichts vorschreiben. Nur, wenn du irgendwas möchtest, sag Bescheid.« Ich versuchte mich an einem sorglosen Lächeln.

Er spiegelte es – so gestellt wie ich oder vielleicht sogar ehrlich? »Ich ruhe mich gerne aus. Danke Louis.«

Ich nickte. Die schlimmste der drei Möglichkeiten. Wenn er sich wenigstens mit etwas hätte beschäftigen können, wäre mir meine einsame Produktivität nicht so seltsam vorgekommen. Aber was hatte ich für eine Wahl? »Mach es dir gemütlich, Harry.«, verkündete ich und setzte mich wirklich an den Schreibtisch. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee. Hier sitzend war mein Rücken dem Zimmer zugewandt; ich konnte Harry ein bisschen Freiraum lassen.

Er trat von mir weg. Ich widerstand der Versuchung nicht, ihn in der Fensterreflexion so lange ich konnte zu beobachten, aber er setzte sich direkt zurück auf die Matratze, die er vor drei Nächten verlassen hatte. Es war so absurd wie nur irgendwie möglich, aber ich musste jetzt weiterarbeiten. Oder wenigstens so tun.

Mich auf mein Essay zu konzentrieren, wäre unmöglich, also versuchte ich einen der Vorschläge für unser ›Angels-in-America‹-Projekt zu lesen, aber vergeblich. Buchstaben blitzten auf meiner Netzhaut auf und schafften es kein Neuron weiter und irgendwo hinter mir, still und brav, saß Harry. Was machte er? Sitzen und denken? Sitzen und nicht denken? War er müde?

Ich musste ihm eine Weile Zeit lassen, bevor ich hier abbrach und für beide von uns beschloss, dass ich schlafen gehen würde. Darum hatte er gebeten. Aber ich konnte nicht wirklich lesen und auch nicht wirklich denken.

War die logische Schlussfolgerung, dass ich versuchen sollte, weiter an dem hoffnungslosen Gedicht zu schreiben? Wo kein rationaler Gedanke mehr funktionierte; lebte dort die Poesie? Einen Versuch war es wert. Ich kramte den Bleistift und das zerknitterte, lose Blatt wieder hervor, auf dem nur ein paar verlorene Verse und experimentelle Reime standen. Wo anfangen?

Weil Schaffung aus meiner Position heraus immer Imitation war, hatte ich mir schon ausführliche Gedanken über Inspirationen gemacht. Ich wollte nicht schreiben wie Keats oder Bukowksi oder Whitman, auch wenn ich viele Gedichte von ihnen genoss. Meine grobe Idealvorstellung war folgende: malerische Tiefe von Frank O'Hara, Mary Olivers schimmernde Details und Lord Arthur Douglas' Ausdauer und einschlagende Einzelverse. Aber – sowohl realistisch als auch optimistisch gesehen – keine Chance. Ich sollte mich wahrscheinlich an Emily Dickinson orientieren; Schönheit in Simplizität. Einfache Sprache, einfache Reime, einfache Aussagen. Aber auch das war wahrscheinlich außerhalb meiner Reichweite – und unfair gegenüber Emily Dickinson. Es war die schlimmste Uniaufgabe jemals.

Ich ließ mein Laptop zum Leben wiedererwecken und suchte nach ein paar Werken von Emily Dickinson. Von ihr hatte ich nichts Gebundenes. Ich las drei Gedichte und starrte dann wieder das Blatt an. Ich kritzelte ein paar krumme Sterne, klobige Federn, ein Gesicht, das nicht aussah wie Emily Dickinsons. Dann Locken, die noch viel weniger ihr gehörten. Wusste Harry, dass ich, wenn ich es könnte, Gedichte über seine Haare schreiben würde?

Mit suchendem Schulterblick wollte ich mich seiner Existenz versichern, aber er saß nicht mehr auf der Matratze. Ohne, dass ich es mitbekommen hatte, war er nicht nur aufgestanden, sondern hatte das Zimmer durchquert und stand jetzt auf Augenhöhe mit den obersten Blättern meines Gummibaumes. Als ich mich zu ihm umdrehte, fing er meinen Blick auf.

»Wieso ist er hier?«, fragte Harry und strich mit einem Finger über ein sicherlich staubiges Blatt.

Ich hatte Harry lange genug nicht gesehen, um wieder von Neuem überfordert von seiner Syntax zu sein. »Ich habe ihn von meinen Großeltern bekommen.«, gelang mir nach ein paar Sekunden zum Glück eine Antwort. »Vor vielen Jahren.«

Harry kippte den Kopf leicht nach links, dann zur Decke. »Findest du es nicht seltsam, dass dieser Baum hier in deiner Wohnung in England wachsen muss?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja. Hauspflanzen sind ein interessantes Konzept. Aber wenigstens kommt es nicht an Haustiere heran.«

Wieder fanden Harrys Fingerspitzen ein dickes, dunkelgrünes Blatt, das größer als seine ganze Hand war. »Haustiere?«

»Ja, naja, Bäume können sich wenigstens nicht bewegen. Sie wissen nicht, wo sie wachsen.«

Harrys Blick fand mich erneut, er musterte mein Gesicht, bis ich wegsehen musste. »Aber was tust du, wenn der Baum über die Decke hinaus wachsen will?«

Ich spürte das sanfte Lachen, noch bevor es meinen Lippen entfloh. »Gummibäume wachsen langsam.«

»Aber sie wachsen. Und du pflegst ihn? Hier drinnen regnet es nicht.«

Er sah verwundert aus, als könnten meine Wände womöglich eine geheime Sprinkleranlage verbergen. »Ja, ich gieße die Pflanzen.«

»Wenn er also lebt«, fuhr Harry fort, »Wenn er lebt und wächst, und irgendwann die Decke erreicht; was tust du dann?«

Was tat ich dann? Worauf wollte er hinaus? War es ein seriöses hypothetisches Szenario oder wollte er mich spezifisch steuern, um etwas Lustiges zu sagen? Oder etwas Kritisches? Wollte er mich locken? »Raufklettern.«, sagte ich schließlich. So oder so nicht die Antwort, die er erwartet hatte, und ich hoffte, dass es die Situation auflockerte. »Eine Hängematte zwischen den Ästen spannen und nicht mehr runterkommen.«

Seine Wangenmuskeln waren schockiert und fast hätte ich wieder gelacht. Dann fiel sein Schock. Ein paar Fragen auf seiner Stirn verblieben. Ich konnte sehen, wie er einen warmen Ball Luft ausatmete. »Hast du Klettern gelernt?«

Ich schüttelte verwirrt den Kopf und lächelte, bis, wie bei ihm, erst mein Lächeln fiel, dann das Nicken. Blut in meinen Ohren, als hätte mein Trommelfell sich umgedreht. Meine Zunge war schwer und Harrys Gesicht alt. Gealtert. Über 10 Jahre, vielleicht 12, 15. Mehr Knochen, Augen nicht mehr wie die einer Puppe, Hände so groß wie meine. Klettern, Harry, Frühling, ein Baum und, irgendwo, das Gurren einer Taube. Weiße Spitze, braune Locken, rote Wangen. Harry.

»Harry.«, disziplinierte ich meine Zunge gerade so, trocken und verloren. Oh Gott. »Ich kenne dich.«

Vielleicht brauchten die Worte eine lange Zeit, um durch den Raum zu fliegen. Vielleicht war etwas mit dem Schall kaputt oder mit mir oder es war ein Wurmloch, nein, ein Zeitportal. Wie viele Jahre zurück? Mein Alter zählbar an den Fingern einer Hand. Harrys Reaktion blieb aus. Dann doch nicht. Er nickte. »Ja. Wir haben uns einander vorgestellt.«

Ich schüttelte den Kopf und wollte vom Stuhl aufspringen, vielleicht irgendetwas umwerfen, nur für den Regelbruch – um die Realität zu brechen, wie sie sich gerade selbst gebrochen hatte. Ich lachte stattdessen, ungläubig und schrill. »Nein, Harry, nein, ich kenne dich! Du kennst mich! Wir sind, oh nein, ich weiß nicht, wann, ich weiß nicht- Ich erinnere mich nicht gut und- Aber... Wir sind uns begegnet. Vor Jahren, als Kinder, als kleine Kinder! Oder- doch. Du. Harry. In einem Baum. Du warst in einem Baum. Du warst es. In deinem...«, ich strich mir fahrig über die Brust, um sein Kleid anzudeuten. »Das warst du, Harry. Oder? Ich weiß, der Name war Harry, ich habe es erzählt und wie du geklettert bist. Auf diesen Baum. Barfuß!« Ich musste schlucken, konnte nicht mehr weiterreden. Die Worte stellten sich der Erinnerung in den Weg, die zurückkehren wollte, sie war irgendwo in mir, oder auch nicht, und ich saugte sie auf, zog an ihr, vor meinem inneren Auge: Harry, auf einem Baum. War da noch mehr? Wie weit konnte ich mein Gedächtnis bestechen?

Harrys Arm fiel vom Gummibaum zurück an seine Seite. Die Bewegung riss mich aus der heißen Blase der Erinnerung, die ich nicht hatte loslassen wollen. Harrys Mund war offen. »Du erinnerst dich.«

Aufregung und Unglauben befeuerten meinen Puls. »Erinnerst du dich?«

»Ja.«, bestätigte Harry und auch wenn er seine Überraschung anders als ich zeigte, war ich froh, dass sie da war, in seinen Augen, in seinen Nasenflügeln.

Wir hatten etwas gemeinsam. Der Punkt war gekommen. Wir teilten eine Emotion. Wir teilten eine Erinnerung. Wir hatten uns als Kinder kennengelernt!

»Ich kann es nicht fassen!«, sprach ich meine allgemeinste Emotion aus. »Ich war... Du warst... In meiner Erinnerung warst du ein deutliches Stück älter als ich. Du bist ja auch älter. Bestimmt erinnerst du dich besser als ich! Harry, wow, ich- ah, es tut mir leid, ich versuche mich an mehr zu erinnern. Es war...war es ein Farbenpicknick? Ich glaube ja, ich glaube, es war auf der Wiese und mit den anderen Kindern, haben wir gespielt? Ich sehe dich vor mir, auf dem Baum, ich war so beeindruckt! Vom Klettern. Aber den Rest...ich erinnere mich schlecht.« Frustration schüttelte meine Hände. Es war ein Wunder, dass ich mich überhaupt erinnern konnte, ich musste klein gewesen sein, aber mit jeder Sekunde wurde mir bewusster, wie ich hinterher von dem fremden Jungen mit den unvergleichlichen Kletterfähigkeiten erzählt hatte, meinen Freunden, meinen Eltern, allen, die es hören wollten. Oder vielleicht war das eine Übertreibung. Manipulierte ich mich selbst?

Was wusste Harry?

Ich wollte ihn mit Fragen bombardieren, aber ich biss mir auf die Zunge. Sicher musste er sich auch erstmal zurückerinnern. Als er sprach, wankten meine Hoffnungen.

»Farbenpicknick?«, war alles, was er fragte.

»Ja. So ein Ding, das es bei uns in der Nachbarschaft gab.«, erklärte ich, etwas ungeduldig. »Ein Picknick mit Familien und alles Essen und die Kleidung hatte die gleiche Farbe. Wir haben alle Farben des Regenbogens gemacht. Ich... Es ist lange her alles.«

»Rot.« Harry wandte sich endgültig vom Gummibaum ab und mir zu. »Ihr hattet Rot an.«

»Rot.«, wiederholte ich, in der Hoffnung, dass dieses Detail vielleicht noch andere zurückbrachte. Aber es war schwierig. Das Bild von Harry, der aufrecht und barfuß auf dem Ast eines Baumes stand, in einer kleineren Version seines Kleides, war hartnäckig und ich hielt verzweifelt daran fest, aber darüber hinaus waberte nur irrationaler Irrsinn von Nichts. Und auch das Bild konnte nicht akkurat sein. Harry hatte sicher nicht eine Kopie des Kleides getragen, das er immer noch trug, ich manipulierte die Vergangenheit wirklich mit der Gegenwart.

Trotzdem schaffte ich es nicht, mich zu beruhigen. Wie unendlich unwahrscheinlich! Harry und ich als Kinder auf einer Wiese und jetzt hier? Wie? War das wilde Gefühl in meinem Brustkorb das, was Menschen an Schicksal glauben ließ? »Warst du manchmal in Donny?«, fragte ich neugierig weiter.

Harry musterte mein Gesicht eine Weile und erst in dem genauen Moment, in dem er seinen Mund öffnete, realisierte ich meinen Fehler. »Keine Fragen, Louis.«, erinnerte er mit sanftem Druck, und, wenn ich hörte, was ich hören wollte, ein bisschen Reue.

Meine Reue war nicht nur ein bisschen, sondern groß und sauer in meinem Bauch. Genau das hier war, wieso Harry sich verpflichtet dazu fühlte, feste Regeln aufzustellen. Ich gab Versprechen, die ich nicht hielt. Wie konnte ich daran glauben, ihn schützen zu können, wenn er sich zuallererst vor mir schützen musste?

Zertifikat mit allen bestätigten Kriterien: Ich war ein schlechter Mensch.

Und schlimmer noch; dieses Bewusstsein wollte mich noch mehr zerreißen, als die Ungerechtigkeit gegenüber Harry selbst.
Zertifikat mit allen bestätigten Kriterien: Ich war ein noch schlechterer Mensch.

»Es tut mir leid, Harry.«, versicherte ich und hoffte, dass wenigstens ein Bruchteil der Ehrlichkeit mitschwang.

Er sah mich an und den Boden und wieder mich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«, gestand er dann. Ich wollte meine eigene Zunge herausschneiden. Es war unmöglich für mich, ihn anzusehen und nicht eine kleine Version von ihm zwischen Blättern und Sonnenschein zu sehen. Wie alt war er gewesen? Sechs, sieben, acht Jahre alt? Konnte er sich erinnern? Ich durfte nicht fragen.

So sehr meine Muskeln auch unter Strom standen; ich musste das Gespräch beenden, Harry entlasten. »Naja. Verrückter Zufall.«, leitete ich ganz und gar nicht elegant über und klappte meinen Computer zu. »Ich gehe ins Bad, Harry, ja?«

Er bestätigte mit Nicken und ich schob mich an ihm vorbei. Im Bad war es wärmer, aber es tröstete mich wenig. Hatte ich es wieder geschafft? Würde Harry morgen früh zum wiederholten Male verschwunden sein – und jetzt vielleicht endgültig? Wieso überschritt ich immer alle Grenzen? Ich überwand mich und starrte beim Zähneputzen grimmig mein eigenes Spiegelbild an. Vielleicht sollte ich meine Mum anrufen und ihr die nächste Misere ihres Sohnes als Diskussionsfrage der Literatur verkaufen. Ha. Ich unverzeihlicher Sadist.

Meine Augenringe waren tief und der Zahnpastaschaum aus meinem Mundwinkel rann langsam und kribbelnd über mein Kinn. Wie ähnlich sah ich mir selbst? Wenn ich Kinderfotos von mir sah, fühlte sich nichts falsch an, als könnte ich mich an diese weiche, runde Version meiner selbst aus Reflexionen zurückerinnern. Meine Mum behauptete, ich hätte mich kein bisschen verändert und Zayn sagte nur regelmäßig, dass ich schon immer jünger ausgesehen hatte, als ich eigentlich war. Aber sah ich meinem Kindheits-Ich wirklich ähnlich? Harry hatte nicht überrascht gewirkt über das Wiederauftauchen der fernen Erinnerung, aber es war unmöglich, dass ihm unser ursprüngliches Kennenlernen vorher bewusst gewesen war. Oder? Wieso hätte er es unerwähnt lassen sollen? Es war wirklich ein irrer Zufall! Wahrscheinlich konnte ich ihn einfach immer noch nicht ansatzweise lesen.

Lösung in so einer Situation normalerweise; Kommunikation. Einfach nachfragen. Aber das ging jetzt nicht. Wie funktionierte Kommunikation, wenn sie nur einseitig war?

Nein, das war unfair. Erstens war Kommunikation nie einseitig und zweitens hatte Harry kommuniziert. Er hatte zu sich selbst gestanden und seine Grenzen gezogen. Er hatte mich nicht eingeschränkt; er hatte sich befähigt.
Ich war nur ein Heuchler.

Nach ein paar Minuten schloss ich mich aus dem Bad aus und das Klicken der Tür gab Harry das Signal, auf das er anscheinend gewartet hatte. Er löste mich wortlos und lächelnd ab. Ich war wie eingehüllt in Moosgummi. Oder vielleicht war es Harry. Er war hier und ich war hier, aber irgendetwas trennte uns von der Realität, die auch noch existieren musste. Er befolgte keine einzige Regel der Gesellschaft, dafür brach ich alle, die er aufgestellt hatte. Wie lange konnte das noch funktionieren?

Ich zog mich schnell um, öffnete die Fenster, wie Harry es mochte und trank etwas Wasser. Es benötigte all meine Beherrschung, Harry nicht auch ein Glas hinzustellen. Wasser. Wieso, wieso, wieso konnte er kein Wasser von mir annehmen? Es ging nicht um Geld, sondern Prinzipien, schon klar, aber warum waren die Regeln unserer Sozialisierung stärker als was auch immer wir für eine Beziehung zueinander hatten? Wieso konnte ich ihn nicht davon überzeugen, dass er keine Last für mich war?

Ich verbannte die Gedanken semi-effektiv, angelte meine abgegriffene Ausgabe der ›Canterbury Tales‹ aus dem kleinen Bücherstapel am Rande meines Schreibtisches. Wenn ich mit dem Romantikessay durch war, würde ich mich Chaucer widmen müssen und ich hatte mich noch nicht entschieden, welche seiner Werke ich vergleichen wollte.

Als ich meine Decke um meinen Körper wickelte, und das Buch an einem Klebezettel aufschlug, lauerte die Müdigkeit hinter meinen Augen. Natürlich. Die letzten Nächte hatte ich nicht gut geschlafen und gestern war ich auf Zayns Bett kollabiert und-

Ich setzte mich so abrupt auf, dass mein Kopfkissen aus dem Bett fiel. Hilfe. Mein Albtraum. Zwei Albträume innerhalb von zwei Nächten und jetzt; Harry. Alleine einen Albtraum zu haben war schlimm genug, mit Zayn war es doppelte Folter, aber in Gegenwart von Harry..?! Oh Gott. Das durfte nicht passieren. Unter keinen Umständen jemals. Und da ging es ausnahmsweise mal um mich.

Mit falscher Beherrschung zwang ich mich, das Kissen wieder aufzuheben, ein bisschen aufzuschütteln und langsam wieder ins Liegen zu rutschen. Es war absurd, ich war wie eine Leiche, ich war wie Harry. Ich setzte mich wieder auf, holte mir Kissen und Wand in den Rücken, blätterte in dem Buch auf meinem Schoß. Lange, ewig starrte ich mit einem Kopf aus Novemberluft auf die schwarzen Wörter, bis irgendwann Harry zurück war.

»Harry« Dankbar sah ich auf. Er blieb in der Tür stehen, zum Glück. »Könntest du vielleicht das Licht im Flur ausmachen bitte?« Ich war mir nicht sicher, ob meine Füße mich nochmal bis dorthin tragen würden. Vielleicht wartete ein Albtraum direkt hinter dem Türrahmen, vielleicht kroch er in mein Ohr und wartete dort zitternd, bis ich die Augen geschlossen hatte, um mich dann in den Tiefen meines Unterbewusstseins zu verbrennen.

Harrys Augenbrauen zögerten, über die Schulter warf er der Flurlampe einen Blick zu.

»Der Lichtschalter ist links, direkt neben dir.«, half ich und langsam, als könnte es eine Falle sein, erfüllte Harry meinen Wunsch. War es die erste explizite, materielle Bitte, die ich je an ihn gerichtet hatte? Vielleicht. Hoffentlich würde sie nicht alles zum Einsturz bringen. »Danke Harry.«

»Bitte Louis.« Er lächelte wieder, es hatte eine Weile gebraucht, war er vielleicht wirklich froh, hier zu sein? Trotz allem? Trotz mir? Seine Mimik war so sanft, dass das Grübchen in seiner rechten Wange nur durch den winzigen Schatten verraten wurde. Vielleicht konnte seine Ruhe auf mich abfärben. Vielleicht konnte er seine Matratze ein bisschen näher zu mir schieben, meine Hand nehmen und seinen Herzschlag durch meine zitternden Fingerspitzen schicken.

Nein. Vielleicht sollte ich mich einer spontanen Autolobotomie unterziehen.

Wie immer konnte ich mich glücklich schätzen, dass Harry meine Gedanken nicht lesen konnte. Er schlüpfte unter seine Decke, als wäre er nicht drei Tage lang verschwunden gewesen. Es war irgendwie brutal, wie die zarten, weißen Wellen seines Kleides unter dem schweren Gesicht begraben wurden. Mir wurde erst klar, wie schamlos ich Harry beobachtete, als er meinen Namen sagte.

»Louis.« Die Vokale hatte nie mehr wie das Klingeln einer kleinen Glocke geklungen. Aber er sah mich nicht an. »Kannst du etwas daraus lesen?« Er streckte seine Finger in meine Richtung aus. »Laut?«

Ich starrte auf die Seiten von Buchstaben, die ich nicht mehr lesen konnte. Ich wollte Harry Wünsche erfüllen, jeden einzelnen, aber vorlesen..? Nicht jetzt, nicht Chaucer, nicht...jetzt. Er konnte nicht einfach in meine Wohnung spazieren, ein paar Regeln aufstellen, Lächeln wie ein seltenes Renaissancegemälde und dann erwarten, dass ich sorglos ein paar Seiten vorlas.

»Ich bin zu müde.«, log ich, oder auch nicht. Ich war müde, aber ich hatte auch Angst. »Tut mir leid.«

»Nein!« Harry stützte sich ein bisschen auf den Ellenbogen hoch. Es war ein seltsames Bild. Harry auf seiner Matratze, nicht starr wie ein Brett. »Du bist müde. Du solltest schlafen. Mir tut es leid. Ich hätte nicht fragen sollen.«

Ich wollte den Kopf schütteln und widersprechen, aber...wozu? Ich schlug das Buch zu und schüttelte mein Kissen nochmal auf. »Vielleicht irgendwann anders.«, versuchte ich es mit einem Kompromiss und Betonung auf dem ›Vielleicht‹. Ich legte mich hin. »Kann ich das Licht ausmachen, Harry?«, versicherte ich mich leiser, als wäre das Licht schon aus.

»Ja.«, gab er seine großäugige Zustimmung, folgte mit seinem Blick meiner Bewegung, bis ich mit dem Knipsen des kleines Plastikschalters und dem schwindenden Licht meiner Leselampe sein Gesicht verlor. Die erste Dunkelheit war immer die dunkelste. Harry fiel zurück in sein Kissen. Ich drehte ihm den Rücken zu. »Gute Nacht, Louis.«

»Nacht, Harry.«, hauchte ich, auch wenn mich in dem Moment die Zweifel überkamen, ob ich überhaupt Schlaf finden würde.

Aber als hätte ich das Universum herausgefordert, fand mich die Müdigkeit und zog mich wie ein Anker an allen Gelenken mit sich. Krampfhaft versuchte ich, alle Assoziationen mit Albträumen zu vertreiben, zählte sie auf, nur um sie zu verbannen und vielleicht hatte ich auch damit das Universum herausgefordert. Bevor ich alle Rationalität verlor, war da Harry. Große, grüne Augen zwischen vollen, grünen Knospen und frisch entfalteten Blättern. Nackte Zehen, helle Stimme, ein Wunder in der Sonne. Gold in seinem Haar.

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