𝐗𝐗𝐗𝐕𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Der Wecker dröhnte von meinem Kopf bis in die Zehenspitzen. Bevor mir irgendetwas anderes bewusst wurde, wusste ich, dass ich zu müde war. Was mir als nächstes einfiel, war Harry. Als ich blind mein Handy zum Schweigen brachte und mit enormer Kontrolle und Qual auf den Boden meiner Zimmermitte hinunter blinzelte, stellte ich überrascht fest, dass Harry dort nicht lag. Zuerst war es die Illusion eines Traums – auch wenn ich nicht klar sagen konnte, was genau der Traum war; dass Harry nicht dort lag oder dass er je dort gelegen hatte.
Aber die Matratze und das Bettzeug mit Harrys Abdrücken verriet mir auch das. Harry war schon aufgestanden. Zum ersten Mal, seit er hier war, hatte er sich getraut, vor mir aufzustehen. Ich war nicht aufgewacht. Er musste schon im Bad sein. Das alles war ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte das Gespräch letzte Nacht wirklich etwas bewirkt. Einen Vorhang zwischen uns gelüftet. Ich drehte mich zurück auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Bis Harry aus dem Bad kam, konnte ich noch ein bisschen schlummern.
Mit geschlossenen Augen und gespitzten Ohren döste ich eine Weile vor mich hin. Zu spät realisierte ich meine Naivität. Sofort schlüpfte ich aus dem Bett, auch wenn meine Muskeln protestierten. Meine Füße waren schwach und weich und zu warm für den kalten Boden, die Küche war verlassen. Als ich vor der geschlossenen Badtür stand, zögerte ich doch. Aber es war albern. Sanft klopfte ich gegen das helle Holz der Tür. »Harry?«
Keine Antwort. Trotzdem klopfte ich zur Sicherheit nochmal, bevor ich meine Hand behutsam auf die Klinke legte. »Achtung, Harry, ich komme rein!« Es war nur fair, immerhin schloss er die Tür nie ab. War ja klar, dass uns das früher oder später zum Verhängnis wurde.
Die Klinke gab sanft nach und ich wünschte, ich wäre überrascht gewesen, als das Bad gähnend leer vor mir ruhte. Harry war nicht mehr hier. Er war nicht mehr hier gewesen, als ich aufgewacht war. Das Gespräch von gestern hatte einen Vorhang gelüftet. Aber so hatten wir das Geheimnis gelüftet, das wir jetzt nicht mehr verbergen konnten. Es gab nichts mehr, das uns verband. Harry hatte mich aus Vorsicht angelogen und ich hatte ihm nicht den Raum gegeben, sich am
selbstgewählten Zeitpunkt zu erklären. Der Kreislauf unserer Beziehung. Wir näherten uns an, bis ich alles wieder kaputt machte. War ich ein unausweichlich schlechter Mensch? Auch mit größter Mühe egoistisch und ignorant? Niemals aus meinen Fehlern lernend?
Was auch immer ich war; ich war müde. Von zu wenig Schlaf und der Gnadenlosigkeit meiner Fähigkeit, Harry wieder und wieder und wieder von mir zu stoßen. Meine Augen klebten noch ein bisschen und kein Muskel in meinem Körper wollte sich bewegen. Ich konnte mich nochmal hinlegen, ein bisschen länger schlafen, meinen Kurs schwänzen und damit meinen einzigen Fehltermin wahrnehmen. Zayn im Stich lassen.
Ich durfte nicht. Zayns Tag würde anstrengend genug werden und er musste selbst die letzten Veranstaltungen wegen seiner Arbeit ausfallen lassen. Ich konnte ihn nicht alleine den hitzigen Diskussionen über unser ›Angels in America‹ Projekt ausliefern. Ich hatte keine Wahl.
Frustriert rieb ich meine sturen Augen mit den Handballen. Dann marschierte ich direkt ins Bad. Es gab ja kein Problem mehr mit dem Umziehen. Ich war alleine in der Wohnung.
✩
»Schau mal, Louis. Da vorne. Zwischen den Birken. Da hat es heute Morgen gestanden. Ganz ruhig, mit großen, runden Augen.« Sie streckte den Arm aus, als könnten ihre Finger sich lösen und davonfliegen, zu dem grauenden Ort, der in den Morgenstunden in der Sonne gelegen haben musste. Ein Reh war irgendwo durch den Zaun geschlüpft. Ich war mir ziemlich sicher, dass es mittlerweile kein einziges Tier gab, das unbemerkt das Grundstück betrat. Die Vögel, Säugetiere klein bis groß; meine Mum sah sie alle. Zu ihrem vorletzten Geburtstag hatte ich ihr ein Vogelbestimmungsbuch geschenkt – schnell war sie zur Expertin geworden.
»Denkst du, du könntest an einer Kamera Freude haben?« Eine nicht unriskante Frage. »Zum Fotos machen? Von den Tieren? Oder allem anderen?«
»Allem anderen?«, fragte sie und klang nüchtern, aber nicht verbittert. Noch nicht. Vielleicht hatte ich mich doch verschätzt.
Ich durchforstete meinen Kopf. »Vom Himmel, du hast dein Ostfenster. Von deinen Kursen..? Von uns.« Es war Jahre her, seit ich mich wirklich sorglos gerne fotografieren lassen hatte. Wenn ich nicht verkleidet war. Oder betrunken.
Meine Mum seufzte und ich konnte nach Erleichterung greifen. Gefahr vorüber. »Ich kann nicht fotografieren, Lou.«
»Du kannst lernen!«
»Fotografieren ist komplex. Blende, Belichtungszeit...Fokus...es ist eine Wissenschaft. Ich kenne mich nicht aus damit.«
»Du musst keine Kameramagierin sein, Mum. Du kannst einfach Fotos machen. Von schönen Sachen. Von Vögeln.«
Sie fuhr sich mit der Hand durch die offenen Haare. Eigentlich trug sie ihre Haare in einer lose hochgeknoteten Frisur, aber draußen befreite sie sich von allen Gummis und Spangen. Sie hoffte ewig auf Wind, gefangen in den Grenzen der Atmosphäre, als wären es die Böen einer unzubändigenden Freiheit, verflochten in ihrem Haar, das sie mittlerweile mehr liebte, als sie es je getan hatte. »Ich weiß nicht...«, zweifelte sie weiter und ich wusste, dass ein Themenwechsel stattfinden musste.
»Nan hat mich angerufen. Vorhin. Auf dem Weg hierher.«, berichtete ich beliebig und zupfte an dem Handschuh in meiner Jackentasche herum. Der linke hatte neuerdings ein Loch im Zeigefinger.
»Ja? Schön! Was hat sie gesagt?«, erkundigte sie sich seicht und hatte den Blick noch zwischen die Birken gerichtet, als könnte das Reh jederzeit wieder auftauchen. Es war ungewöhnlich. Meistens saugte sie mein Gesicht auf, wann immer sie es zu sehen bekam. Vielleicht routinierte sich die Besuchfrequenz von zweimal pro Woche langsam bei ihr.
Ich konnte es mir also leisten, eine entschuldigende Grimasse zu ziehen. »Gar nichts.«, gestand ich. »Sie hat im Bus angerufen. Da habe ich gelesen. Ich konnte nicht aufhören. Du hast keine Ahnung, wie viel ich noch lesen muss. Ich habe sie weggedrückt.«
»Lou.«, meine Mum sah mich doch noch an, vorwurfsvoll.
»Du weißt, wie viel sie reden kann! Ich rufe sie nachher zurück, auf dem Weg vom Busbahnhof nach Hause. Ich muss nur wirklich aufpassen, dass ich mit der Pflichtlektüre hinkomme.«
»Lou, Baby«, sagte sie wieder, nur dieses Mal sanft und meine freie Hand drückend. »Das schaffst du. Du hast es immer geschafft. Und bis Weihnachten ist doch auch noch ein bisschen Zeit.«
Bis Weihnachten war viel zu wenig Zeit. Nicht nur wegen der Deadlines; viel mehr wegen Weihnachten selbst. Und natürlich kam die gefürchtete Frage direkt im Anschluss. Toller Themenwechsel.
»Weißt du mittlerweile, wann deine Ferien beginnen?«
Es hatte keinen Sinn mehr, aufzuschieben. Ich hatte die Daten gecheckt, als ich mein Lesepensum berechnet hatte. Die Ferien würden kommen. Es gab nur eine einzige Handlungsmöglichkeit; warten und hoffen, dass die Zeit nicht zu schnell vergehen würde. »Am 23.«, bestätigte ich, was nicht erst durch meine Zunge wahr wurde. Das hier war nicht einer der Fälle, in denen Worte Fakten erst erschufen. Die Fakten existierten so oder so und hatten es vorher getan und würden es tun, egal, was ich sagte. Ich musste mich nur daran erinnern. 23. Dezember; Ferienanfang.
Ihre Finger schlossen sich direkt wieder fester um meine. Ich hatte vergessen, dass sie meine Hand noch hielt. »Das ist doch wunderbar! Dann musst du dir an deinem Geburtstag keine Gedanken mehr ums Studium machen. Wir machen uns einen schönen Tag! Und dann hast du erstmal zwei Wochen frei. Richtig?«
Richtig – aber was ich alles tun würde, um das zu ändern... Ohne Wimpernzucken würde ich die Ferien streichen, mich unter der stressigen Arbeit begraben, der ich jetzt entfliehen wollte. Prüfung am 24., Kreativarbeit am 25., Projektvorstellung am 26., Essayfrist über Neujahr, die mich bis in die hellen Morgenstunden in den Wahnsinn treiben würde. Musterstudent? Nein. Aber Meister der Verdrängung.
»Richtig.«, sagte ich trotzdem. Sie musste spüren, dass meine Hand ihrer liebevollen Geste weniger nachgab als zuvor. Wie unverantwortlich war es, die folgenden Worte zu sagen? »Ich habe noch nicht...ich weiß noch nicht, wo... Ich habe noch keine genauen Pläne, zwei Wochen...« Ich sah sie nicht an, aber jetzt hörte ich an ihrem Atem, dass sie verstanden hatte. Nur einen Bruchteil der heuchlerischen Wahrheit, aber sie hatte verstanden.
»Lou, natürlich!« Sie sagte die reifen Worte, aber Überforderung schnürte die charakteristische Weichheit aus ihrer Stimme. »Du kannst natürlich...alles gestalten, wie du willst. Möchtest du mit Zayn noch ein bisschen...wegfahren vielleicht? Das wäre doch schön. Ihr wolltet doch immer noch mal nach-«
»Mum, ich muss schauen. Ich habe noch keine genauen Pläne. Aber ich werde hier sein.« ›Hier‹. Verrat an meiner Zunge und ihren Träumen. »Bei dir.«
»Vielleicht, Lou«, setzte sie an und beim Klang der Tränen in ihrer Stimme riss ich den Kopf hoch. Es war längst zum Reflex geworden, mir sofort auf die Innenseiten der Wangen zu beißen. »Vielleicht ist bis dahin Manchester...vielleicht kriegen sie alles durch.«
Ich nahm ein paar tiefe, zittrige Atemzüge. Ihre Augen waren rotgezeichnet wie ein Abendhimmel um das Iris-Braun ihrer untergehenden Sonne. Sie musste wissen, dass es nicht stimmen konnte. Manchester noch in diesem Jahr war außerhalb aller Möglichkeiten. »Vielleicht.«, erwiderte ich trotzdem mit Überwindung und überraschend stabilem Ton.
Sie zog mich in eine Umarmung. Es war okay. Vielleicht hatte mein falscher Optimismus geholfen oder ich hatte den Klang der Tränen überschätzt. Die Umarmung war sanft genug, Liebe in ihren Armen, kaum Schlimmeres. Als ich sie nach einer Weile vorsichtig von mir drückte, war es wegen Harry. Ich hatte ihn umarmt, Gewissensbisse im Moment der Berührung und bis zur jetzigen Stunde. Aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl
gehabt, ein körperlicher Kontakt zwischen uns wäre wirklich auch von ihm erwünscht gewesen. Er hatte mich an sich gedrückt und erst losgelassen, nachdem ich es tat. Seine Augen schienen in der warmen Dunkelheit fast aus den Augenhöhlen über seine Wangen zu kullern. Es hatte ihn überrascht. Und ihm vielleicht gefallen. Aber ob ich in der Position gewesen war, ihn überhaupt um diese Umarmung zu bitten, wusste ich ganz und gar nicht.
»Ich habe ein Gedankenexperiment.«, erklärte ich schnell und so final wie möglich. Es war eigentlich kein gutes Thema mit meiner Mum, aber gerade war ich dankbar für alles, was nichts mit den Weihnachtsferien zu tun hatte. »Ich brauche deine Meinung.«
Ihre Wangen waren rot, aber es war auch kalt hier draußen, und keine Träne hatte es gewagt, ihre Augen zu verlassen. Sie nickte, tapfer. Ich wünschte, ich hätte es ihr sagen können. »Ich höre zu.«
Ich zog meine Mütze tiefer über die Ohren. »Okay. Danke. Also, stell dir vor: zwei Menschen. Einer lebt – den gesellschaftlich etablierten Strukturen nach – priviligierter.« Die Wolken am Horizont wurden mit jeder Minute höher und dunkler. Und nicht nur die Wolken. Bald wäre alles hier draußen stockdunkel. Wie sehr würde ich die Ausführung dieses Gedankenexperimentes bereuen?
»Die weniger privilegierte Person«, fuhr ich fort und kam mir schon jetzt dämlich vor. Ich sprach hier mit meiner Mum. »Sagen wir Person 1, dann wird es einfacher. Person 1 ist in der Hinsicht in unserem System benachteiligt, dass sie weniger materielles Eigentum besitzt. Im Vergleich zu Person 2 und zum Durchschnitt. In England zum Beispiel.«
»Ist das aus einem deiner Bücher?«, fiel mir meine Mum interessiert zwischen die Sätze.
Ich starrte weiter in die Ferne. Meine Zunge war schwer geworden. Eine Lüge wäre so scheinheilig. Aber alles andere war unmöglich. »Ja.«, log ich schließlich und versteckte mich hinter der Vergangenheit.
»Okay. Weiter. Person 2 besitzt mehr als Person 1.«, fasste sie zusammen.
Schon jetzt wollte ich mich an meiner Reue verschlucken. Aber es war eh zu spät. »Ja. Person 1 verbirgt die Umstände ein bisschen. Aber Person 2- wird das langsam zu verwirrend?«
»Nein.« Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen und erstickte meine Reue. Endlich Ablenkung, die ihren Zweck erfüllte. Die Kälte lag rot auf der Nase meiner Mum, blass auf ihren Wangen. Ich traute mich nicht, zu pausieren.
»Gut.«, fuhr ich fort und konnte mich gerade so daran hindern, das selbstverständliche ›Ich‹ in meinem Rachen zu bauen. »Person 2 findet trotzdem etwas heraus. Aus Versehen und willentlich von Person 1. Es ist nur ein Bruchteil. Mehr die Symptome, weniger die Ursache. Er kann-«
»Du kannst auch die Namen sagen, Louis.«, unterbrach sie mich wieder. »Auch wenn ich das Buch nicht gelesen habe; zwei Namen werde ich wohl noch hinkriegen. Oder kommen noch viele andere Personen dazu? Naja, auch dann erst recht, nicht wahr?«
Irgendwas in meinem Kopf wurde langsamer. Namen? Ganz sicher nicht. »Es bleiben nur die zwei. Und es ist ein Gedankenexperiment. Namen könnten zu Voreingenommenheiten führen. Verzerrungseffekte.«, legte ich mir einen Ausweg zurecht. Nonsens natürlich.
Sie wollte eine Augenbraue heben – einer ihrer großen Lebensträume – aber es gelang ihr nie, ohne mit der anderen auch in die Höhe zu schießen. Es war in ihrem Blick. Sie glaubte mir. ›Du lernst also doch wissenschaftliche Konzepte und fantasierst nicht nur über Seiten und Seiten zwanzigfach ausgelegter Bücher?‹
Niemals würde sie es so aussprechen. Ich wusste, dass auch sie manchmal die berüchtigte Frage herunterschlucken musste: Englische Literatur – tolles Studium, aber wie soll das helfen, einen Job zu bekommen? Auf mich traf es nicht zu; erstens würde ich Lehrer werden und zweitens wusste sie, wie sehr ich das Studium wirklich genoss. Aber manchmal sah ich die Versuchung – wenn auch nur als Advocatus Diaboli.
Ich räusperte mich. »Ja, weiter. Wo war ich?«
»Person 2 findet es heraus.«, half sie.
»Genau, danke. Aber eben nicht ›Es‹, sondern nur einen kleinen Teil. Das Wichtichgste bleibt verschwiegen; vielleicht Traumata oder wahre Hintergründe oder Emotionen. Oder alles. Und weil Person 2 helfen möchte«, ich sah ihr in die Augen, die nie meine gewesen waren, und suchte schon jetzt nach der Reaktion, die sie noch nicht geben konnte, »bietet sie an, mit Person 1 ihre Wohnung zu teilen.« Ich versuchte, meine Wangen nicht fallen zu lassen. Ihr nicht zu zeigen, wovon ich eigentlich sprach und wie wichtig es mir war. »Das ist die Ausgangssituation.«
»Eine komplizierte Ausgangssituation.«, steuerte sie bei und ich war mir nicht sicher, ob sie das soziale Konstrukt oder die Zeit, die ich zum Beschreiben gebraucht hatte, meinte.
Aber wie recht sie hatte. »Ja.«, gab ich zu. Weiter. Ich war schon so weit gekommen. »Das eigentliche Dilemma, das Gedankenexperiment, die Konfliktfrage; Person 2 möchte weiter helfen. Tiefer. Wirksamer. Aber das ist nicht möglich mit den gegebenen Informationen. Auf emotionaler Ebene. Und praktischer! Aber Person 1 scheint nicht reden zu wollen. Person 2 glaubt an...Dinge wie physischen Beistand. Umarmungen vielleicht. Um Unterstützung zu zeigen. Oder andere Maßnahmen. Aber Person 2 ist offensichtlich in einer Machtposition. Was ist richtig? Was ist falsch? Gibt es hier Mittel, die den Zweck heiligen? Sollte Person 2 bestimmte Strategien ausprobieren, um vielleicht die richtige zu finden? Oder geht das auch schon zu weit?« Ich klang nicht mehr neutral und wusste es. Mein Mund zwang sich zu einem Strich.
Aber sie war schon in Gedanken. »Hmmm«, summte sie und erinnerte mich kurz an Zayn. Mit ihm konnte ich diese Masche nicht abziehen. Er würde mich niemals damit durchkommen lassen, nicht den Titel dieses angeblichen Buches zu nennen. Meine Mum war gutgläubig genug, mir ohne Nachfragen bei einem nicht-existenten Aufsatz helfen zu wollen. Und zu meiner Verteidigung; das alles hier war nicht ganz neu. Ich diskutierte mit ihr häufiger interessante Fragen aus meinen Kursen und der Pflichtliteratur. Sie hatte in meiner Kindheit immerhin den Grundstein dafür gelegt.
»Es ist schwierig«, begann sie langsam und redete fast, als säße sie in einem meiner Seminare und puzzelte sich die am wenigsten falschen Worte zurecht, »weil ich so wenig über...das Problem selbst weiß. Ist es wirklich eine Hilfe, dass Person 1 bei Person 2 wohnen kann? Wenn das nur eine unpassende Maßnahme wäre und widerrufen werden könnte...dann wäre das Machtverhältnis aufgelöst. Nicht aufgelöst, aber deutlich minimiert.« Ihre Augenbrauen zitterten wie in Erwartung, oder Angst vor dem Beginn der Angst. »Mit dem Machtverhältnis bist du übrigens ausgerutscht, Louis. Du hast alles schön sachlich beschrieben und dann, kurz vor Schluss; deine eigene Interpretation.«
»Hm.« Es war mehr ein Ausatmen mit Stimme als alles andere und mehr wollte ich ihr dazu auch nicht geben. »Das mit der Wohnung ist eine passende Maßnahme.«, ging ich auf die wichtigen Dinge ein. Erst jetzt wurden mir meine pochenden Unterarme bewusst. Was wenn das hier nicht nur dumm, sondern auch verräterisch war? Zu spät, noch einmal. »Er- Person 1 ist...hat keine Wohnung. Oder irgendeinen anderen Ort zum Leben.«
Sie nickte verständnisvoll. Ihre Stirn wäre garantiert nicht so glatt, wenn sie wüsste, dass ihr einziger Sohn eine der Schlüsselrollen in diesem wunderbaren, hypothetischen Szenario belegte. »Lässt du mich kurz nachdenken?«, fragte sie ruhig. »Ist das die Fragestellung für die Uni? Ob die Mittel den Zeck heiligen und all das?«
»So ungefähr«, log ich munter weiter. Unter der Haut meiner Wangen spürte ich die Abscheu mir selbst gegenüber. Dann stand ich auf. Die linke Hand meiner Mum rutschte zurück auf ihren eigenen Schoß. Die Rückseiten meiner Oberschenkel waren kalt, wo sie auf der spärlich lackierten Bank geklebt hatten. Farbe pellte sich wie meine Haut nach Sonnenbrand. Beim Aufstehen musste man Angst haben, die ganze Bank bis auf ihr Holz zu entblößen.
»Wir sollten langsam wieder reingehen, oder?«, erklärte ich mich. Mein Blick sagte: ›Sieh dir die dunklen Wolken an.‹ Meine Kiefermuskeln sagten: ›Es ist schon viel zu dunkel geworden. Der Rest passiert in Minutenschnelle.‹ Was ich eigentlich verbotenerweise sagte: ›Mein Bus ist bald da.‹
Sie seufzte nicht, ich sah es trotzdem in der Trägheit ihrer Hände. »Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie nahm meine angebotene Hand, um sich aufzurichten. In Momenten wie diesem sah sie manchmal älter aus als ihre eigene Mutter. Alle meine Ängste und Wünsche in einem. Im Stehen versank ihr Gesicht weniger zwischen Schal und Mütze. Langsam machten wir uns auf den Rückweg auf die verlorenen Lichter des Hauses zu. Irgendwie graute es mir vor der Wärme, die uns entgegenschlagen und unter den Schichten unserer Kleidung Arme und Beine und Rücken hochlaufen würde. Süß wie faulendes Obst. Es war Herbst. In Manchester verpasste ich die Wunder der blutenden Monate.
»Ich glaube, es geht um Zeit.«, sagte meine Mum in ihrem langsamen Schritt. Die Kälte musste sich in ihre Beine gesogen haben.
Ich wollte nachfragen, Unverständnis, aber meine Zunge mussten dem Donner in der Ferne gewähren. Ehrfurcht vor der Natur, sie lebte auch in mir. Wir wechselten einen Blick, großäugig und erwartungsvoll und unausweichlich; der wahre Bote eines Gewitters. Ich wusste doch, was meine Mum meinte.
Zeit. Die Antwort hatte ich bereits selbst gefunden. Ich wollte sie nicht.
»Person 2«, fuhr sie fort. »Nein, Person 1, nein... Welche ist die Person, die Hilfe braucht? Mit den Geheimnissen?«
»Person...« Kurz musste ich mich selbst erinnern. »Person 1.« Ich hatte mich nicht selbst als Person 1 bezeichnen wollen. Das war irgendwie narzisstisch, oder?
»Ja, Person 1. Person 1 scheint...Vertrauenprobleme zu haben, oder...Hürden. Überwindung. Ängste davor, in die Wahrheit einzuweihen. Nicht, weil sie keine Hilfe von Person 2 will, sondern...ja, wieso, das ist der Schlüssel. Richtig?«
Ich zuckte mit den Schultern. Meine Jacke raschelte. Da war Wind in den Baumkronen. Junge Stämme neigten sich wie Ehrerbietende. Meine Mum brachte mich nicht weiter. Sie sagte, was ich immer gewusst hatte. Vertrauen.
»Aber Vertrauen gewinnt man nicht nur durch Zeit. Man muss sich beweisen, oder nicht?«, fragte ich trotzdem. »Wenn über lange Zeit nichts passiert, ist doch kein guter Wille gezeigt..? Spricht es nicht lauter, wenn...wenn Person 2 aktiv versucht, sich das Vertrauen zu gewinnen?«
Sie runzelte die Stirn. »Wie, Louis? Wie willst du Vertrauen aktiv beweisen?«
»Das ist ja eben die Frage.«
»Ich glaube nicht.«, widersprach sie. Schritt für Schritt kamen wir der gläsernen Tür näher. »Ich glaube nicht, dass es genau darum geht.«
»Worum dann?«
»Vertrauen kommt von innen, Lou. Von Person 1, nicht Person 2.«
Ich hätte mir etwas anderes ausdenken sollen. Das mit den Personen war verwirrend. »Aber Person 1 kann nicht vertrauen, wenn Person 2 sich nicht würdig zeigt. Umkehrschluss; Person 2 kann aktiv versuchen, sich würdig zu zeigen. Selbst handeln. Es ist doch alles zum guten Zweck! Damit Person 1 geholfen wird.«
»Person 2 kann sich beweisen, so viel sie will – wenn Person 1 nicht bereit für das Vertrauen ist, wird nichts passieren. Du hast ja recht; alles ist kompliziert, weil das Trauma, oder was auch immer, nicht bekannt ist. Aber deswegen gilt die Zeit.«
Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Unbewusst war ich schneller geworden und ließ mich jetzt wieder zu ihr zurückfallen. »Das heißt, du denkst, dass die beste Lösung ist, wenn Person 2 einfach herumsitzt und wartet, bis Person 1 irgendwann soweit ist, sich helfen zu lassen?«, fragte ich hörbar unzufrieden mit ihrem Resultat.
»Ich denke ja.«
Ich wollte zur nächstbesten Pfütze laufen und hineinstampfen, bis das Wasser meine Füße schwer machte wie Blei. Ich wollte den Himmel anschreien oder den Boden, bis Harry sich zeigte, mit all seinen Geheimnissen im Schlepptau. Wie im Bus nach Hemsworth. Er sollte hier stehen, auf dem Kiesweg vor meiner Mum und sich das anhören: ›Zeit heilt alle Wunden.‹ Was brachte es? Manche Wunden rissen weiter auf, wenn sie nicht schnellstmöglich behandelt wurden. Ich war mir ziemlich sicher, dass es kein medizinisches Fachpersonal auf der ganzen Welt gab, das der Meinung war, dass die Zeit alle Wunden heilte.
Aber es gab da noch eine Sache. »Und, Mum«, setzte ich vorsichtig wieder an, hatte die Frustration hinuntergeschluckt. Ich wollte nicht sagen, was ich sagen wollte, und wahrscheinlich noch viel weniger ihre Antwort hören. »Stell dir vor, Person 2 fragt Person 1 nach...einer Umarmung.« Das Wort war roh und schwer auf meiner Zunge. »Zum Trost oder...für Beistand. Für Nähe. Nähe als Beistand. Ist das dann...«, ein schwereres, roheres Wort, »Nötigung? Machtposition und so weiter?«
Ich traute mich nicht, sie anzusehen. Jede Sekunde ihrer Stille bohrte sich in meine Brust wie stumpfe Schrauben. Weiter und weiter und weiter.
»Ich weiß es nicht, Louis.«, bot sie schließlich an. »Da gibt es...ich glaube, da gibt es kein Schwarz und Weiß. Es kommt auf die Situation an. Die Antwort. Und ob beide Personen verstehen, was emotional verlangt und geboten wird.«
Hatte Harry verstanden, was ich emotional von ihm verlangt hatte? Was hatte ich emotional von ihm verlangt? Kurz glaubte ich an die Übelkeit in meinem Oberbauch, hinten in meinem Rachen. Falsch, mir war nicht übel, ich wünschte es mir nur. Es war, wie ›I Have No Mouth, and I Must Scream‹ zu lesen und nicht zu verstehen, wovor ich Angst hatte, wenn nichts an der Geschichte mich auch nur ansatzweise wirklich bedrohen konnte. Was hatte ich emotional von Harry verlangt? Berührung auf seine Kosten? Verrat seiner eigenen Bedürfnisse? Einwilligung? Befehlsbefolgung?
Meine Mum sagte, es hing davon ab, ob beide es wirklich wollten. Ich wusste nicht, ob Harry es gewollt hatte. Jede Erinnerung, die sich mir jetzt zeigen wollte, schien erlogen. Harrys Zweifel, seine Zustimmung. Aber was ich nicht überschreiben konnte, auf keine Weise retrospektiv verändern, war die Erinnerung, wie er sich an mich geklammert hatte. Sein flacher, stolpernder Atem gegen meinen, wie in einem Kampf. Seine Wärme auf meiner Haut, als wollte er sie verflüssigen und darin schwimmen gehen. Aber was bedeutete das schon?
Hatte Harry mich umarmen wollen? Was war die Umarmung für ihn gewesen? Hatte er Angst vor mir? Ich, als die Person, die seine direkte Sicherheit in seiner Hand hatte wie ein Marionettenspieler? Könnte er mir überhaupt jemals vertrauen? Konnte Vertrauen in hierarchischen Strukturen existieren?
Ich hatte keine Ahnung. Und meine Mum brauchte ich nicht weiter zu befragen. Was sollte sie auch sagen? Sie wusste nichts. Ich konnte ihr nichts geben.
»Tut mir leid, dass ich nicht besser helfen kann.«, entschuldigte sie sich ehrlich und ich wollte mich dafür schlagen. »Ist es ein gutes Buch? Vielleicht könnte ich es lesen und-«
»Nein.«, fiel ich müde ein, bevor sie sich steif redete. Ich war so ein Idiot. »Lohnt sich nicht.«
War es jemals eine Option gewesen, ihr von der wahren Situation und meiner wirklichen Rolle darin zu erzählen?
Ich wusste es nicht. Aber jetzt war die Chance sowieso vorüber. In ein paar Minuten würde ich sie verlassen müssen und den geheimen Sprint zur Bushaltestelle einlegen. Wenn sie von der Atemlosigkeit wüsste, mit der ich stets dort ankam, würde sie mir nie verzeihen.
Dieses Mal sahen wir den Blitz. Er hatte Äste wie ein Baum, voll, lebendig. Der Donner ließ auf sich warten. Es würde nicht lange so bleiben. Meine Mum hatte keine Kapuze. Ich hakte mich bei ihr unter, wir waren schneller in sanftem Gleichschritt. Der Himmel brach, als der Donner ihn zu zermalmen schien, und wir die Tür erreichten.
✩
Der Regen wollte den Bus unter sich begraben, ich genoss meinen Fensterplatz. Dem Gewitter waren wir längst entflohen. Ich hatte mich einmal umsetzen müssen, als die kleine, orange Lampe in der Plastikverkleidung über meinem Kopf nicht funktionierte. So romantisch es auch war, an einem schwarzen Novemberabend in Dunkelheit an einem stumpfen Fenster zu sitzen, Zentimeter von dem wütenden Regen entfernt, der in Böen peitschte; ich konnte es mir nicht leisten. Ich brauchte Licht. Ich musste arbeiten.
Lesen konnte ich mir selbst nicht gewähren. Zayn hatte recht gehabt mit Kreatives Schreiben. Es zwang mich in die Knie. Und die Zeit lief mir davon. Ich hatte keine Wahl mehr. Ich musste mich zwingen. Zeilen schreiben. Irgendwas. Immer, wenn wir bei den letzten paar Kursterminen irgendeine Art von Zwischenstand hatten vorzeigen müssen, war ich mit Bescheidenheit und ungeschickt aus dem Französischen übersetzten Fremdergebnissen davongekommen. Aber das würde allerspätestens bis zum finalen Abgabetermin funktionieren – der näher und näher rückte.
Leeds und der weltendende Regen schienen die größte aller Fragen zu beantworten; Gedicht schreiben: worüber? Aber wie? Wo in mir sollten die Worte herkommen? Ich hatte nicht mal Stift und Papier – nur mein Buch, Kritzelbleistift und Textmarker. Wäre das hier irgendetwas anderes, würde ich ohne weitere Überlegungen versuchsweise Verse auf die letzten freien Seiten von ›Prometheus Unbound‹ schreiben, suchend, vielleicht findend. Aber dieses noch nicht existente Gedicht war zu Tragischem verurteilt, seit ich mich in den gnadenlosen Kurs eingeschrieben hatte. Auf meinem Handy zu schreiben war unästhetisch und brutaler als die Aufgabe ohnehin schon war, aber es gab keine Alternativen.
Es brauchte Kilometer und schwellende Wasserfälle vor meinem Fenster und unselektierte Chopin-Etüden, bis meine Finger sich bewegten. Meine Gedanken folgten nicht jedem Wort. Das Resultat war zu kurz, sprengte Regeln und ich konnte es nicht nochmal ansehen. Ich ließ den Bildschirm erlöschen, die kleine Uhrzeit als letztes vor mein inneres Auge gebrannt. Es war bald sechs und meine Reise würde ihr Ende finden. Wenn der Regen bis Manchester anhielt, wäre meine Jacke schnell durchgeweicht. Wenigstens konnte ich zuhause warm duschen gehen – besser, als wäre ich auf der Hinfahrt durchnässt worden. Dann musste ich nur aufpassen, dass-
Harry. Er sprengte mein Gewissen wie ein fallender Baum. Mit all der Verdrängung und dem Fokus auf die Umarmung hatte ich ganz vergessen, dass er heute Morgen verschwunden gewesen war. Er hatte nicht gewusst, dass ich den Nachmittag in Leeds verbringen und wann ich zurückkehren würde. Und viel schlimmer; ich hatte keine Ahnung, ob er wiederkommen würde. Ich hatte ihn enttarnt, in meine Arme geschlossen und letztendlich...verscheucht? Meine Hände kribbelten. Würde sich die Relevanz des Gedankenexperimentes mit meiner Mum in Luft auflösen, weil ich ihn sowieso nie wieder sehen würde? Hatte Danny mir das Streichholz geliefert, um die Zündschnur von Harrys und meiner Beziehung in die Luft zu jagen?
Es war zu viel. Alle meine Taten waren Fehler und all mein Wissen nichts als Fragen. Ich durchwühlte meinen Rucksack, bis das dünne Buch mir in die Hände fiel. Meine Hände kämpften mit den Seiten und mein Kopf schließlich noch mehr. Ich hätte sie ausreißen können. Meine Nan würde warten müssen.
Ich wusste, was passieren würde. Das Treppenhaus wäre dunkel und das Licht auf der zweiten Etage würde immer noch flackern, kaltes Wasser in meinem Nacken und zwischen meinen Schulterblättern, jede Stufe schwerere Gewissheit. Harry würde nicht mit süßer Geduld und ausgestreckten Beinen auf mich warten. Der Flur war leer und würde es auch bleiben.
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