𝐗𝐗𝐗
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Harry stand in absoluter Dunkelheit da. Es musste einer dieser Momente sein, in dem das Treppenhauslicht im entscheidenden Augenblick ausgegangen war. Hätte ich ihn nicht erwartet, und würde er im sekundären Schein meiner Deckenlampe nicht blass schimmern, hätte ich ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er sah fast angsteinflößend aus – Silhoutte mit der Dunkelheit verschmelzend, Haut milchig ohne warmes Licht, sein Kleid verheerendes Quecksilber. Alle Gedichte, die jemals über den Mond geschrieben worden waren; in diesem Moment hätten sie Harry beschreiben können. Der Mond, ein Geist, Wasserleiche Harry. Auf meiner Fußmatte.
Egal, wie sehr sein Aussehen einen Tim-Burton-Film heraufbeschwören wollte; ich war so erleichtert, dass mir übel wurde. Scharf benetzten verräterische Magensäuren das Ende meines Mundes. Ich schluckte hart und unangenehm. Harry war hier.
»Hey!«, begrüßte ich ihn schnell, und viel zu laut. »Hey, Harry.«, sagte ich leiser und immer noch zu laut. Es war 19 Uhr. Punkt. Was ich so genau wusste, weil ich die letzten zwei Stunden damit verbracht hatte, auf meinen kleinen Digitalwecker zu starren, den ich sonst nur für Prüfungen und überlebenswichtige Termine als zuverlässigen Alarm herausholte. Falls heute Abend wirklich überlebenswichtig war, hoffte ich, dass sich das auf mich bezog.
»Hallo Louis.«, sagte Harry und wahrscheinlich war es falsche Hoffnung oder Projektion, aber er klang nervös. Ein bisschen zumindest, vielleicht.
»Komm rein!«, fiel mir das Wichtigste ein und ich stolperte ein paar Schritte zurück. Harry folgte meiner Aufforderung. Es war ein längst gelernter Fakt, aber als er nichts hatte, das er an die Garderobe hängen oder zu meinen Schuhen hätte stellen können, war es dieses Mal wie ein Schlag vor die Brust. Wie hatte ich so lange nicht ersthaft hinterfragen können, dass Harry bis auf die stets gleiche Kleidung an seinem Körper keine Besitztümer zu haben schien? Wieder musste ich dem Bedürfnis nachkommen, trocken zu schlucken. Über Geld hatte ich natürlich schon nachgedacht, aber...besaß Harry so etwas wie Ausweisdokumente? Wieso trug er nichts bei sich? Es war eine der grausamsten Vorstellungen, die ich je in meinen Kopf gelassen hatte. Auf der Straße leben mit vielleicht einer Handvoll wichtiger Gegenstände, und dann bestohlen werden. Aber was wusste ich schon?
Ich quälte ein Lächeln auf mein Gesicht. Auf keinen Fall durfte ich mich von meinen Gedanken betäuben lassen. Es ging um ihn. Für ihn war das hier sicher schwierig, und ich sollte mich einfach an meinen vorläufigen Entschluss halten; ihn so gut zu unterstützen, wie ich konnte.
Stumm ermahnend hielt ich mich selbst davon ab, mich wieder bei ihm zu bedanken, dass er hier war. Heute Morgen hatte er nicht mit meinen Dankesaussprechungen umgehen können und es stimmte; wahrscheinlich sagte ich sie mehr für mich als für ihn. Aber ich war ihm dankbar. Ich war so dankbar, dass er meine Hilfe annahm.
Zayn war grauenhaft darin, Hilfe anzunehmen wenn er nicht das Gefühl hatte, dass es irgendeine Art von Symbiose geben konnte. Aber auch er war nicht schlimmer als meine Mum. Ich hatte meine Sturheit leider von ihr, egal, was sie sagte, und wenn meine Mum nicht bemitleidet werden wollte, dann wollte sie nicht bemitleidet werden. Kein Diskussionsspielraum. Meine Mum half sich selbst.
Wenn es nur jemals so einfach wäre.
»Du hattest lange Uni.«, bemerkte ich, nur, um mir direkt auf die Zunge zu beißen. Woher wollte ich wissen, dass er bis jetzt Uni gehabt hatte? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer von Harrys Leben.
Aber Harry nickte – glaubhaft oder nicht, ich war mir nicht sicher. »Ja.«
»Wenigstens regnet es nicht mehr.«, lächelte ich. Dämlich. So schnell war ich abgerutscht, über das Wetter zu reden.
»Die Erde braucht den Regen.«
Ich nickte. Und wieder war er der unfreiwillige Vergleich mit meiner Mum. ›Louis, verzieh nicht so das Gesicht. Die Pflanzen freuen sich!‹
Änderte nichts daran, dass Harry den Regen vorhin mit größter Ehrfurcht angestarrt und mich allein in das Unwetter hinausgeschickt hatte.
Aber wieder; was wusste ich schon über sein Leben? Wenn ich das Gesicht verzog oder einen kurzen Weg durch den Regen laufen musste, was bedeutete das schon? Ich hatte keine Ahnung, wie abhängig Harry von Nässe war. Vielleicht war er weniger wie ich und mehr wie die Pflanzen. Wie mein letzter Philodendron bewiesen hatte, konnten auch die ertrinken.
Ich musste uns dringend von der angespannten Stille befreien. »Ich freue mich, dass du hier bist, Harry.« Kein Danke. Willensstärke.
»Ich auch. Auch wenn ich erschöpft bin.«
So sah er auch aus. Ich wusste nicht, woran ich es festmachen könnte; er hatte keine Augenringe, keine schlaffen Muskeln, eine wunderschöne Haltung und fing den sandig-goldenen Schein meiner Lampen auf. Aber ich wusste es. Er war erschöpft.
Und wie erschöpft er sein musste. War er jemals wirklich ausgeruht?
Außerdem...in diesem Moment vielleicht wichtiger; konnte ich ihm das bieten? Erholung? Ruhe? Sicherheit?
Vermutlich sollte ich gleich zur Sache kommen. Mittlerweile sollte mir bewusst sein, dass Harry kein Fan von Smalltalk war, oder zumindest kein Talent darin. Wir wussten beide, wieso ich ihn hergebeten hatte. Und wieso er gekommen war.
Zumindest hoffte ich, dass seine Anwesenheit bedeutete, dass er die Entscheidung des Vertrauens schon getroffen hatte. Dass er die Nacht hier verbringen würde.
Ich war mir nicht sicher gewesen. Ich war mir sogar so unsicher gewesen, dass ich noch fast keine Vorbereitungen getroffen hatte, außer ein bisschen aufzuräumen. Nicht mal die alte Luftmatratze hatte ich ausgerollt. Die Angst davor, nur Druck für Harry aufzubauen, war zu groß gewesen. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte ich verhindern, dass er panisch aus der Wohnungstür lief – und nie wieder kommen würde.
Nur war das Problem jetzt, dass ich seiner Anwesenheit als Indikator vertrauen musste. Oder konnte ich mich irgendwie anders versichern? Unmöglich würde ich es schaffen, die Worte ›Bist du hier, um über Nacht zu bleiben?‹ auszusprechen. Nicht einfach so. Aber irgendwie musste ich doch Klarheit schaffen, oder nicht? War es besser, zu fragen oder ihn sogar zu bitten, zu bleiben? Vielleicht würde er dann sicherer sein können, dass er wirklich nicht unerwünscht war. Gott, war das schwierig.
»Möchtest du etwas trinken, Harry?« Ein sanfter Einstieg. Die gleiche Frage wie immer, und ich erhielt die gleiche Antwort.
»Nein.«
Heute würde ich nicht diskutieren. Harry steckte die Grenzen ab. Er machte sich verletzlich. Ich würde nicht weiter gehen, als er mich ließ. »Okay. Hast du schon etwas gegessen?«, fragte ich vorsichtig weiter. »Oder anders; möchtest du etwas essen?«
Auf das energische Kopfschütteln musste ich nicht lange warten. »Ich möchte nichts essen.« Er blinzelte, wie ein ruheloser Fächer. Vielleicht würde ich ihn noch dazu kriegen, dass er Essen von mir annahm. Oder vielleicht ging es darum nicht. Bekam er Essen möglicherweise von außerhalb? Es gab mehrere städtische Essensausgaben, ich hatte gecheckt. Ein möglicher Grund, wieso er jetzt erst hier war. Oder auch nicht. Ich sollte aufhören mit der Spekulation.
Erstmal war es sowieso nicht schlimm. Ich hatte damit gerechnet, dass Harry schon gegessen hatte, oder zumindest nichts mehr wollte, und in bester Kalkulation selbst bereits einige Reste vom Wochenende verschlungen. Wirklich verschlungen, in ziemlicher Eile, weil ich nicht gewusst hatte, wann Harry vor der Tür stehen würde.
»Alles klar.« Ich gab mir allergrößte Mühe, ganz entspannt zu klingen. Als wäre das hier etwas, das ich regelmäßig tat. Halbbekannte in meine Wohnung einladen, weil sie selbst keine hatten. »Wenn du noch hungrig wirst, sag einfach Bescheid bitte. Ich habe Sachen da. Auch Obst. Kleine Dinge. Egal. Wenn du Hunger hast, halt dich bitte nicht zurück.«
»Ich werde mich nicht zurückhalten.«, bestätigte er. »Wenn ich Hunger kriege.«
»Danke.« Zu spät realisierte ich, dass ich ein anderes Wort hätte wählen sollen. Ich sah mich um. Der Wohnungsflur betäubte mich. Hier war nichts, nur wie beide, den engen Wänden ausgeliefert. »Wollen wir in...mein Zimmer gehen?«
Es gab nicht so etwas wie ›mein Zimmer‹, es war meine Wohnung, aber es war kein Wohnzimmer und ich konnte es jetzt nicht als mein Schlafzimmer bezeichnen. Ich durfte Harry einfach nicht verschrecken.
»Willst du?«, hakte er nach. Das schien sein Ding zu sein.
Ich machte kurzen Prozess. »Ja. Komm mit.«
Die zwei Türen, die wir unbeachtet passierten, standen offen. Ich hatte sie extra geöffnet. Der Übergang von Flur zu Hauptwohnfläche hatte keine Tür. Als der Raum sich um uns öffnete, fiel zumindest von mir etwas Anspannung ab. Auf meinem Schreibtisch brannten zwei Kerzen und der Geruch von flüssigem Wachs streichelte meine Schläfen. Das Licht war sanft. Harry sah sich um wie beim ersten Mal.
»Feuer innerhalb von Häusern ist gefährlich.«, verkündete er mit Blick zu den Kerzen, aber es klang nicht verängstigt. Also nahm ich es nicht als direkte Aufforderung.
»Ich bin nicht gut in Schreibtischarbeit.«, erklärte ich – vor allem, um zu sprechen. »Wir müssen eigentlich immer alles am Laptop machen, also setze ich mich aufs Bett, aber sobald ich auf dem Bett sitze, war es das mit der Arbeit. Wenn ich nicht am Schreibtisch sitze, habe ich nach 5 Minuten mein Handy in der Hand. Oder das nächstbeste Buch.« Ich deutete auf die Bücher, die sich unter meinem Bett aufreihten. »Aber ich hasse den Schreibtisch. Ich muss mich zwingen. Mit den Kerzen fühle ich mich wenigstens wie, ich weiß nicht, Melville oder so.«
Harry hatte mir gebannt zugehört. »Müsstest du jetzt am Schreibtisch sitzen und arbeiten?«
Ich schüttelte den Kopf, was nur halb stimmte. Ich war immer hinterher mit allen Aufgaben. Aber heute hatte ich schon ein überfälliges 1800-Wörter-Essay beendet und musste es nur noch abschicken. Eine E-mail schreiben; das schaffte ich sogar auf dem Bett sitzend. »Mit dem Schreiben geht es morgen weiter.«
»Dann kannst du doch die Kerzen ausmachen, oder?« Harry trat zwei Schritte dichter an den Schreibtisch. Seine Nasenspitze schien rot, orange, rot zu tanzen.
Ich mochte die Kerzen. Aber vor allem jetzt ging es um Harry. »Wenn es dir lieber ist, kannst du sie gerne ausmachen.«
Harry trat endgültig an den Schreibtisch heran. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich davon halten sollte. Harry in meiner Wohnung, Zentimeter entfernt von meinem Leben. An diesem Tisch saß ich, wenn ich mir die Fingerspitzen taub tippte, aß ich, wenn ich die Abgabefristen so lange ignorierte, bis die Sekunden der Zeit einen verbitterten Kampf mit meinen Gehirnzellen führten. Ich hatte dort gesessen, in so vielen Winterstunden, und hatte mein eigenes Spiegelbild im Fenster angestarrt, bis mein Gesicht mehr einem Picasso als den reflektierten Lichtstrahlen eines echten Menschen glich.
Und jetzt war es Harry, dessen Gesicht in der schwarzen Scheibe schwamm. Augen groß und feurig wie die Bilder von verlorenen Sonnen im All, als hätte er noch nie Feuer gesehen.
Ich nahm ihn auf. Er würde meine Kerzen löschen und sich in meinen Fenstern spiegeln. Vielleicht musste das Leben so laufen.
»Hast du Wasser?«, fragte Harry, und ich zuckte zusammen, weil ich die Bewegung seiner Lippen nur in der Scheibe sah. Eine weitere Angst also; Harry in meiner Wohnung zu haben, könnte bedeuten, dass ich den Bezug zur Realität mit dem zu surreal marmornen Gesicht ersetzte. Wer war schon immun gegenüber Schönheit?
»Still? Ja.«, riss ich mich zusammen. »Ich kann dir auch gleich zeigen, wo die Gläser sind. Dann kannst du dich einfach bedienen, wenn du durstig wirst.«
Seine Locken waren ein Meer aus Wellenbergen von Glut und Schatten. »Ich bin nicht durstig, Louis. Ich möchte das Feuer löschen.«
Das Feuer löschen. Ich stellte mich zu ihm. »Du kannst sie einfach auspusten.« Mir war nicht mal bewusst gewesen, dass es Menschen gab, die Kerzen mit Wasser ausmachten. »Ich bin wirklich einfach nicht so ängstlich, was Feuer angeht. Fast alle meiner Kerzen sind Stumpenkerzen, sie stehen stabil, und ich behalte sie im Auge. Es ist vielleicht wahrscheinlicher, dass irgendwo in diesem Haus ein spontaner Kabelbrand passiert und deswegen mache ich mir auch keine Sorgen. Das ist meine Genuss-Risiko-Abwägung in dem Fall. Kerzen bedeuten Gemütlichkeit für mich.« Für wen redete ich hier?
Harry atmete ein, beugte sich vor und blies mit geblähten Wangen die Kerzen beim ersten Versuch aus. Rauch stieg in anmutigen Säulen an die Decke. Meine Schreibtisch- und Nachttischlampen waren die verbleibenden Lichtquellen, aber in Harrys Haaren war die Sonne untergegangen.
»Okay, Harry, also«, überwand ich mich, »Du... Ich freue mich, dass du hier bist. Und ich würde mich freuen, wenn...wenn du bleibst. Möchtest du?«
Er sah auf und blinzelte, langsam. Es war so langsam, dass ich versucht war, es zu imitieren – nur, um zu probieren, ob ich auch so langsam blinzeln konnte. Er atmete. Ich war ihm zu nah. Oder er mir? Ich schluckte. Harry roch nach nichts, und irgendwie wusste ich nicht, was das bedeutete. Vielleicht verwirrten mich die Kontraste. Aber meine Nase detektierte so wenig wie meine Augen, die immer wieder vergeblich Harrys schneeweißes Kleid nach Flecken absuchten. Es mussten die erloschenen Kerzen sein.
»Ja.«, sagte Harry, und ich musste mich fangen, um mich an die Frage zu erinnern. »Ich möchte bleiben.«
Meine Mundwinkel wurden leichter und ich lächelte nicht nur für ihn. Und dieses Mal konnte ich mich nicht beherrschen. »Danke, Harry.« Inständig hoffte ich, dass er die Ehrlichkeit und vielleicht sogar die Erleichterung in meinen Augen lesen konnte.
Vielleicht übertrieb ich es, denn Verwirrung erblühte wie im Zeitraffer auf Harrys Gesicht. »Wieso dankst du mir, Louis?«
Die Frage konnte ich nicht beantworten, ohne zu viel zu sagen. Ich war froh, dass er Hilfe annahm, das war alles. Dass er diese Nacht in der Wärme und Sicherheit einer, meiner, Wohnung verbringen würde. Dass er seine Angst vor Verletzlichkeit nicht groß genug werden ließ, um sich selbst zu sabotieren. »Ich bin einfach froh...«, improvisierte ich stattdessen, »dich hier zu haben.« Ich verflocht die Finger meiner Hände miteinander. »Okay, Harry, dann sage ich ein paar Sachen. Ich habe keine gute zweite Matratze, aber sie wird funktionieren. So wird es wahrscheinlich mit allem sein. Das hier ist leider kein gewohnter Haushalt für zwei Personen. Wir kriegen es trotzdem hin. Wenn du Fragen hast, bitte frag. Ich zeige dir das Bad, ja? Nein, warte. Erst noch eine Frage.« Es war brutal; ich kannte die Antwort, aber brauchte sie trotzdem aus seinem Mund. Die Zeit der gefährlichen Falschannahmen war vorüber. »Harry, du hast nichts dabei, oder? Keine anderen...Habseligkeiten?« Ich bemühte mich um Sanftheit, als hätte es keine Bedeutung, nichts zu besitzen.
»Nein.«, sagte er, munterer, als ich es geschafft hätte. »Ich habe nichts dabei.«
Ich nickte. »Gut. Also nicht gut. Also...«, ich kniff die Augen zusammen. »Ich zeige dir das Bad, ja?«
»Ja.« Er nickte brav. Harry würde bei mir übernachten. Harry Harry, der Fremde, über den ich nichts wusste, außer seinen kuriosen Namen und sein größtes Geheimnis. Alles, was er mir je verschwiegen hatte, versteckt in abstrakten Formulierungen; es verbarg sich in dem Fakt, dass wir in einer Gesellschaft lebten, die lehrte, ihn zu entfremden, verstoßen und zu hassen. Er würde bei mir übernachten. Mit seinen dunklen Lippen, dem schimmernden Kleid und all den Mysterien, die ihm wie ein Schatten folgten; er würde die Nacht in meiner Wohnung verbringen. Ich musste aufpassen, dass ich ihn nicht für eine Illusion hielt.
Im Bad erwartete uns Dunkelheit. Ich knipste das Licht an und aus dem Augenwinkel sah ich Harrys Blick zur Decke schießen. »Ja, okay; das Bad. Es gibt warmes Wasser, was das wichtigste ist. Du möchtest bestimmt duschen gehen, oder..? Ich habe, warte...«, ich öffnete die kleine Badkommode und zog zwei Handtücher heraus, »Für dich. Du kannst sie dann darüber hängen. Und, ja, das war- oh verdammt. Ich habe keine Zahnbürste für dich. Tut mir leid, Harry.« Sollte ich ihm mitteilen, dass er ja mit dem Finger putzen konnte? Wahrscheinlich nicht. Darauf würde er auch von alleine kommen. Auch wenn er den Becher auf dem Waschbeckenrand anstarrte, als wären es die seltsamsten Zahnbürsten, die er jemals gesehen hatte. Verständlich. Es musste verwirrend sein, zwei Zahnbürsten in dem offiziell als Ein-Personen-Haushalt verkündeten Badezimmer zu sehen. Aber die orange war Zayns. Und mit den originalverpackten Ersatzzahnbürsten war mit Ardie offiziell Schluss gewesen. Ich wollte eigentlich kein Typ für One-Night-Stands sein und selbst bei Ausnahmen wie Danny wollte ich mich nicht fühlen, als hätte ich damit gerechnet. Nicht, dass Harry ein One-Night-Stand war – eher das Gegenteil, mehr oder weniger.
Ich riss den Blick endlich vom Waschbecken los und entschied mich endgültig dagegen, Harry zumindest den Teil mit Zayns Zahnbürste zu erklären. Es war erstmal nicht wichtig, was Harry dachte. Den Fakt, dass ich ihn unbestreitbar attraktiv fand, würde ich fürs Erste in eine abgelegenere Schublade meines Gehirn verbannen müssen. Für solche Gedanken und Gefühle gab es vorläufig keinen Platz.
»Ja, gut. Möchtest du direkt duschen gehen? Ich überlasse dir das Bad.« Vorsichtig zog ich mich in den Türrahmen zurück. Harry hielt die beiden Handtücher überfordert gegen seine Brust gepresst. Wahrscheinlich würde ihn alles erstmal eine Weile überfordern – zumindest wäre das meine Reaktion. Deswegen wollte ich ihm wenigstens ein bisschen das Gefühl geben, unbeobachtet zu sein. Wände zwischen uns bringen. Denn wenn ich ehrlich war, konnte ich mir einfach eingestehen, dass er mit mir im selben Raum wahrscheinlich nie wirklich unbeobachtet wäre. Also zog ich mit ermutigendem Lächeln die Tür hinter mir zu. Ohne ihm zu sagen, dass er sich beeilen sollte, um Wasser zu sparen. Das wollte ich mir jetzt leisten können. Eine längere Dusche, damit Harry sich warm und wohl und willkommen fühlte.
Mit der geschlossenen Tür war es noch seltsamer. Ohne ihn zu sehen, musste ich meinem Verstand trauen, wenn er mir sagte, dass Harry sich in meinem Badezimmer befand. Ich hörte ihn nicht die Tür abschließen. Bis ich realisierte, dass Harry wahrscheinlich so gespannt meinen Bewegungen lauschte wie ich seinen, und ich trat zurück, mit lauterem Fersengang als notwendig. So beiläufig wie möglich machte ich mich auf den Weg in die Küche. Vor dem Herd kam ich zum Stehen. Ich hatte gar keinen Grund hier zu sein.
Vielleicht funktionierte es in beide Richtungen; solange Harry in meiner Wohnung war, würde auch ich mich nicht unbeobachtet fühlen können.
Ich schüttelte Kopf, Hals und Schultern. Ich musste mich entspannen. Dieses Mal vorsetzlicher verließ ich die Küche. Neben meinem Bett fand ich meinen Rucksack und zog Laptop samt Tasche heraus. Ich kippte ein Fenster an, um den wabernden Rauchgeruch zu vertreiben. Dann klappte ich meinen Laptop auf, setzte mich an den Schreibtisch und kämpfte gegen das Kribbeln der schleichenden Gänsehaut an.
𝗦𝗲𝗵𝗿 𝗴𝗲𝗲𝗵𝗿𝘁𝗲 𝗠𝗶𝘀𝘀 𝗠𝗰𝗖𝘂𝗹𝗹𝗲𝗻,
𝗜𝗺 𝗔𝗻𝗵𝗮𝗻𝗴 𝗳𝗶𝗻𝗱𝗲𝗻 𝗦𝗶𝗲 𝗺𝗲𝗶𝗻 𝗘𝘀𝘀𝗮𝘆 𝘇𝘂𝗺 𝗧𝗵𝗲𝗺𝗮 „𝗗𝗮𝘀 𝗜𝗰𝗵 𝗶𝗻 𝗱𝗲𝗿 𝗠𝗼𝗱𝗲𝗿𝗻𝗲 – 𝗝𝗮𝗺𝗲𝘀 𝗝𝗼𝘆𝗰𝗲 𝘂𝗻𝗱 𝘀𝗲𝗶𝗻 𝗘𝗶𝗻𝗳𝗹𝘂𝘀𝘀 𝗮𝘂𝗳 𝗱𝗮𝘀 𝗘𝘂𝗿𝗼𝗽𝗮 𝗱𝗲𝘀 𝟮𝟬. 𝗝𝗮𝗵𝗿𝗵𝘂𝗻𝗱𝗲𝗿𝘁𝘀".
𝗪𝗼𝗿𝘁𝗮𝗻𝘇𝗮𝗵𝗹: 𝟭𝟳𝟳𝟵.
𝗠𝗶𝘁 𝗳𝗿𝗲𝘂𝗻𝗱𝗹𝗶𝗰𝗵𝗲𝗻 𝗚𝗿üß𝗲𝗻 𝘂𝗻𝗱 𝗩𝗶𝗲𝗹𝗲𝗻 𝗗𝗮𝗻𝗸 𝗳ü𝗿𝘀 𝗟𝗲𝘀𝗲𝗻
𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀 𝗧𝗼𝗺𝗹𝗶𝗻𝘀𝗼𝗻
Ich las die Worte nur einmal über, bevor ich sie absendete. Die Abgabefrist lief in etwas weniger als 5 Stunden ab. Ich hätte auch schon vor 3 Wochen abgeben können, aber das tat ja nichts zur Sache. Untätig starrte ich noch ein paar Minuten lang auf den unangenehm hellen Bildschirm und versuchte, meine Ohren gegenüber der Stille aus dem Bad zu verschließen.
Dann überwand ich mich endlich und begann die Vorbereitungen für Harry. Ich musste so einige Bücher meiner Aufreihung unter dem Bett beiseite schaffen, um mich im staubigen Chaos dahinter zurechtzufinden und endlich die zusammengerollte Luftmatratze herausziehen zu können. Sie war älter als ich und wahrscheinlich das letzte Mal benutzt worden, als Zayn und ich als Dreizehnjährige im Garten gezeltet hatten. Sagenumwobene Nacht.
Trotz entmutigendem Alter gelang es mir nach einer Weile, sie zu bändigen. Auch meine zaghafte Testsitzung überstand sie. Das kratzende Geräusch von Jeans auf Plastik wollte mich unter Nostalgiewellen begraben. Mein Dad hatte mich und meine Mum noch geküsst, als ich jung genug gewesen war, mich in kühlen Frühsommernächten und enger Zeltkabine beim Campen an meine Eltern zu kuscheln. Es war gut, dass ich sonst nicht auf diese alte Matratze angewiesen war; ich war mir nicht mal sicher, wieso ich sie überhaupt hier in Manchester hatte. Zayn und meine eher seltenen anderen Übernachtungsgäste schliefen ausnahmslos mit mir in meinem komfortablen 1,20m-Bett. Aber das war eindeutig keine Option mit Harry.
Ich zog ein zu großes Laken über die Matratze und vergrub sie unter meiner zusätzlichen Decke, plus Kopfkissen; wenigstens kein Schlafsack. Das provisorische Bett schwamm als einsame Insel wie ein Eindringling in der Mitte des Raums. Ich wollte die Matratze nicht an die Wand schieben, um Harry nicht in die Ecke zu verbannen, aber so mittig war es einfach nur offensichtlich, dass er die gewohnte Ordnung aufbrach. Letztendlich verschob ich die Matratze ein bisschen in Richtung Wand gegenüber meines Bettes, aber nicht endgültig. Hoffentlich ein akzeptabler Kompromiss.
Es gab nicht viel mehr, das ich tun konnte. Zurück in der Küche füllte ich zwei Gläser mit Wasser, trank mein eigenes doppelt aus. Ich stellte sie auf meiner kleinen Kommode ab, so nahbar wie möglich. Ich konnte die Angst nicht abschütteln, dass Harry sich von alleine nichts nehmen würde, bis ich es ihm nicht in die Hand drückte.
Dann saß ich auf meinem Bett und wartete. Die Zeit hatte sich selbst zwei Stunden zurückgedreht. Warten auf Harry in der Dunkelheit. Zugegeben; vor zwei Stunden war es schlimmer gewesen. Die Ungewissheit, wann und ob Harry auftauchen würde, hatte mich in den Wahnsinn getrieben. Dann endlich das Klopfen – wie auch immer er in den Hausflur gekommen war. Er war wie ein leuchtender Schatten. Das Paradoxon schlechthin.
Ich hatte große Worte benutzt heute Morgen, als ich ihn darum gebeten hatte, herzukommen. Aber es waren große Worte – große, nicht gute – für eine große Angelegenheit gewesen. Ob ich das Richtige tat, wusste ich noch immer nicht. Auch wenn es dem widersprach, was ich Harry versichert hatte. Und ich würde es wahrscheinlich für eine Weile nicht wissen, oder niemals.
Natürlich gab es Grenzen, für mich so sehr wie für ihn. Ich war nicht komplett naiv. Gutgläubig genug vielleicht, um einen Fremden in meine Wohnung zu lassen, aber ich würde ihm nicht direkt den Zweitschlüssel aushändigen. Harry zog nicht ein. Er sollte nur einen Platz zum Schlafen haben. Zum sicher fühlen. Zum Überleben.
Mein loser Plan war folgender: Harry würde diese Nacht hier verbringen, schlafen, überleben und sich hoffentlich sicher fühlen. Dann noch eine Nacht und noch eine und noch eine, bis er begriff, dass ich es ernst meinte und vor allem; dass er mir vertrauen konnte. Sobald ich sein Vertrauen hatte, würde ich Fragen stellen und vielleicht Antworten erhalten, vielleicht auch nicht. Das war nicht das Wichtigste, denn es würde um ihn gehen. Und dann würde ich mit ihm über Perspektiven reden. Wege, wie er sich absichern konnte. Auf eigenen Beinen stehen. Als ich Harry gesagt hatte, dass ich dem Internet ferngeblieben war, hatte das gestimmt. Aber ein paar Stunden später hatte ich meine Meinung geändert. Ein bisschen Recherche war nicht nur wichtig, sondern notwendig. Es gab Organisationen wie Centrepoint, die junge Menschen wie Harry unterstützen konnten und würden, wenn er nur auf sie zuging. Wie schwierig dieser Schritt sein musste, würde ich wahrscheinlich niemals wissen, aber vielleicht konnte ich Harry unterstützen, bis er sich traute, richtige, systemische Hilfe anzunehmen.
Das war die Hoffnung.
Wie weit dieses Vorhaben tatsächlich aufgehen würde, musste sich zeigen. Minute für Minute aufs Neue. Noch war Harry in meinem Bad. Ob er nicht in ein paar Augenblicken aus meiner Wohnung stürmen würde, konnte ich nicht wissen. Schritt für Schritt. Das mit dem Vertrauen würde ein gegenseitiges Projekt werden.
All mein loses Bargeld hatte ich in meinem Portemonnaie verstaut, welches am Boden meines Rucksacks ruhte, der gegen das Kopfende meines Bettes lehnte und mit Reiß- und lauten Klettverschlüssen geöffnet werden musste. Nur fürs Protokoll.
Es fühlte sich unfair an. Wo lag der schmale Grad zwischen Vernunft und Vorurteil? Gesundem und unfairem Misstrauen? Ich konnte nur hoffen, dass ich ihn ungefähr traf.
Aber das war noch nicht das größte Verbrechen. Obwohl Harry sich nicht mal eine halbe Stunde lang in meiner Wohnung befand, fühlte es sich krimineller als alles andere an, dass Zayn nichts davon wusste. Ich hatte ihn nicht eingeweiht, und natürlich würde ich das auch in der Zukunft nicht tun dürfen. Und ich würde es nicht tun. Ich würde Harrys Geheimnis und Verletzlichkeit schützen, wie ich es versprochen hatte und er es verdiente.
Aber Zayn etwas über mein Leben zu verschweigen, war das Äquivalent zu einer direkten Lüge ins Gesicht. Zumindest für die Entitäten, die sich für mich Gewissen und Gewohnheit nannten. Und es war nicht, als wäre es ein kleines Nebendetail, dass plötzlich eine andere Person in meiner Wohnung lebte. Hilfe.
Ich musste mich ablenken. Egal, wie weit oder eng ich meine Gedanken wirbeln ließ; ich würde immer im Auge des Sturms bleiben. Ich war meine Gedanken und ich brauchte eine Pause. Meine Matratze ächzte, als ich mich auf den Bauch fallen ließ und blind nach den Buchrücken tastete. Ich hatte ungefähre Orientierung und war weniger überrascht als zufrieden, als ich Frank O'Hara in den Händen hielt. Mit gezwungener Konzentration lehnte ich mich gegen die Wand in meinem Rücken, die Beine angewinkelt. Willkürlich schlug ich das Buch auf und begann zu lesen.
Bevor mir auch nur ein einziges Mal Larry Rivers in den Kopf gekommen war, durchschnitt ein verräterisches Klingeln die Stille. Die Anspannung von vorhin saß so tief, dass ich für ein paar Sekunden dachte, es wäre Harry, der endlich vor meiner Tür stand. Dann wurde mir klar, dass es mein Handy auf meinem Schreibtisch war, und dass Harry sich längst hinter der unabgeschlossenen Tür meines Badezimmers befand.
Ich kam wackelig auf die Beine und stolperte zu meinem Schreibtisch hinüber. Das Gesicht meiner Mum lächelte von dem zersprungenen Display aus die Decke an. Zum ersten Mal seit Langem zögerte ich kurz, bevor ich abnahm.
»Hey Mum.« Ich wusste nicht, ob es eine sehr gute oder sehr schlechte Idee war, jetzt ihre Stimme zu hören.
»Lou, hallo! Ich wusste nicht, ob du Zeit hast.« Es war kurz vor halb acht an einem Montagabend. Was hätte ich groß vorhaben sollen? »Es ist schön, dass du dran bist!«
Ich hatte sie erst vorgestern gesehen, am Samstag. Den Mittwoch davor auch. Und am vorletzten Sonntag, als ich Hemsworth verlassen und den Besuch bei ihr eigentlich abgesagt hatte, wäre ich fast doch bei ihr aufgetaucht. Nach Harrys großem Geständnis war ich so aufgewühlt und verloren gewesen, dass ich nichts mehr gewollt hatte, als mich in die Arme meiner Mum zu werfen und ihr von allem zu erzählen. Ich hatte es nicht getan. Was besser so war für alle Beteiligten. Außer vielleicht für mich.
»Also richtig Zeit habe ich nicht.«, gestand ich zögerlich. Komplett musste ich ja nicht lügen. »Ich habe Besuch.«
Sie brauchte eine Sekunde. »Ist Zayn da?«
Ein Ja wäre so einfach. ›Bestell ihm liebe Grüße‹ und das war's. Aber es fühlte sich so ungerecht an. Und vielleicht sollte ich Zayn nicht unbedingt als Schild für Lügen nutzen, von denen er selbst nicht mal wusste. »Nein. Harry.«
Ihr Mund war zu dicht am Hörer, ich hörte sie einatmen. »Harry? Ein Kommilitone?« So fair sie auch sein wollte, die Neugier war unbestreitbar.
Ich hatte ihn nie erwähnt. Was gab es auch über Harry zu sagen? Meine Gespräche mit Zayn hatten bewiesen, wie unfähig ich war, die wenigen Sachen, die ich über Harry wusste, in Worte zu fassen. »Nein. Er studiert Kunst.« Eine der wenigen – und unter denen die neutralste – Wahrheiten, die er mir offenbart hatte.
»So ein interessantes Studium, bestimmt.« Wieso klang sie so träumerisch?
»Anstrengend, schätze ich.« Es war ein Widerspruch aus Prinzip. Ein Tomlinson, der Gefahr lief, sehnsüchtig beim Thema Harry zu werden, reichte schon vollkommen aus. Ich nahm mir vor, Harrys Namen nicht nochmal auszusprechen. Er brauchte nur ein bisschen genauer hinzuhören und realisieren, dass ich über ihn redete. Das wäre nicht nur unangenehm, sondern wahrscheinlich auch eher kontraproduktiv, was den Vertrauensaufbau anging.
Meine Mum seufzte. »Dein Studium ist auch anstrengend, Louis. So lange, wie du manchmal in die Nacht hineinschreiben musst!« Auch das war eher Resultat meiner großartigen Aufschubkünste. Aber naja.
Ich ließ die Fingerspitzen über einen meiner gerippten Heizkörper fahren und schwieg ein paar Sekunden, um sie vor der Direktheit der Frage zu schützen. Berg, Tal, Berg, Tal, Berg, Tal. »Wieso rufst du an, Mum?«
»Heute ist der 11. November.«
Ich musste nachrechnen, ob es stimmte, dann nickte ich. Sie sah es nicht. »Ja.« Mein Blick wanderte zu meinen Füßen. »Oh!«
»Du hast es vergessen.«
Leugnen hatte keinen Sinn. Scham kribbelte in meinen Ohrmuscheln. Ich hatte gestern den ganzen Tag nicht die Wohnung verlassen und stattdessen vergeblich versucht, Literaturrecherche zu betreiben und meine Wohnung zu putzen, während ich eigentlich nur Panik gehabt hatte, Harry nie wiederzusehen. Es war Remembrance Sunday gewesen. Am Samstag hatte ich sogar noch all die Mohnblumen gesehen und meiner Mum versichert, sie am nächsten Tag anzurufen.
Wir hatten nie eine große Sache aus der Schweigeminute gemacht, oder irgendwelchen feierlichen Umzügen. Aber jedes Jahr las ich ›In Flanders Fields‹. Es war der einzige Anlass, zu dem meine Mum mich ein Gedicht lesen hörte. Als ich jünger war, hatte ich es geliebt, Lyrik vorzutragen. In der Grundschule hatte ich Preise gewonnen. Dann hatte ich aufgehört. Aber meiner Mum zuliebe und unter dem Zwang der Familientradition las ich einmal im Jahr ›In Flanders Fields‹. Ich konnte es schon seit Jahren auswendig. Aber es machte einen Unterschied, ob Gedichte frei rezitiert oder verlesen wurden.
Und dieses Jahr hatte ich es vergessen. »Es tut mir leid, Mum!« Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. War nur nicht so effektiv. »Ich war- ich habe es komplett vergessen. Du hättest-« anrufen können? Hätte sie. Aber ich wollte ihr nicht Vorwürfe dafür machen, dass ich mich nicht bei ihr gemeldet hatte. »Warte, ich suche es raus!«
Vergeblich ließ ich den Blick über meinen Schreibtisch schweifen. Nur, um direkt danach meine Mutter auf laut zu schalten und die Internetrecherche zu beginnen. Eigentlich besaß ich eine filigrane, dunkle Holzschatulle, eine große Mohnblüte auf dem Deckel, geerbt von meinem verstorbenen Großvater. Darin befand sind ein kleiner, gefälschter Kunstdruck von dem Gedicht. Aber ich brauchte es einmal im Jahr. Unmöglich würde ich es jetzt innerhalb der nächsten zwei Minuten finden.
Das Internet war hilfreicher. Schnell hatte ich die bekannten Worte vor mir. »Hab es.«, klärte ich meine Mum auf. Von dem Mediumschummel musste ich ihr nicht berichten. »Bereit?« Ich wollte mich schütteln. Meine Zunge hatte sich die Tendenz zu streiken angewöhnt. Aber ich hatte Mum bereits enttäuscht.
»Ja, Lou. Dankeschön.« Ich hörte ein Rascheln, wie von der Decke, in die sie sich meistens einwickelte. Ich musste meine Mum nicht sehen, um ihre geschlossenen Augen wahrzunehmen.
Mein Gehirn malte die Worte, bevor meine Lippen sich trauten. Dann las ich, langsam, mit der Behutsamkeit eines Sohnes, der bereits enttäuscht hatte. Es gab nicht genügend Zeilen, um mein leichtsinniges Vergessen wiedergutzumachen.
Als ich durch war, wartete ich. Ihr Atem erfüllte eine Ecke meines Zimmers, als wäre sie hier. Sie war eine Weile nicht mehr in Manchester gewesen. Fast zwei Minuten vergingen, bevor sie wieder sprach. Also vielleicht doch spezifisches Schweigen.
»Ich habe heute bei einem Yogakurs mitgemacht.«, durchbrach sie die Stille schließlich. »Das hat mir gut getan. Auch wenn es wahrscheinlich sowieso nicht so schwierig gestaltet wurde.«
Ich berührte das aktivierte Lautsprechersymbol und presste mir das Handy wieder gegens Ohr. »Yoga? Das klingt toll! Ist es jede Woche?«
»Es soll jeden Montag sein. Die Nachfrage ist definitiv groß genug. Ich muss nur sehen, ob ich es immer hin schaffe.«
»Mhm.«, summte ich leise, laut genug. Hoffentlich könnte das eine Regelmäßigkeit für sie werden. »Mum?«, fragte ich mit dem verlorenen Verdrängen meiner Schuldgefühle.
»Ja?«
Ich warf einen Blick in den noch beleuchteten Flur. »Es tut mir leid, aber ich muss jetzt, glaube ich, wirklich Schluss machen.«
»Oh ja.« Die Reue hatte sich durch unsichtbare Funkwellen von meiner auf ihre Stimme übertragen. Ich hasste mich dafür. »Du hast Besuch. Ich hatte schon wieder vergessen... Tut mir leid, Louis. Ich wünsche euch beiden noch einen wunderschönen Abend! Macht es euch gemütlich. Oder wollt ihr ausgehen?«
Ausgehen. Ja, sie war eine Frau verlorener Jahrzehnte. »Nein. Wir bleiben hier.« Auf unbestimmte Zeit.
In ihrem zitternden Schweigen lag die Versuchung nach den ungestellten Fragen. Was waren unsere Pläne? Würden wir einen Film gucken? Gemeinsam kochen? Auch ja die Ungebundenheit und Freiheit unserer unschuldigen Jugend genießen? War Harry mein Date?
Es war gut, dass sie sich zurückhielt. Was auch immer sie für Vermutungen aufstellen könnte; keine einzige würde mit einem Ja belohnt werden.
»Na dann viel Spaß.«, wünschte sie anstelle des Strudels aus Scheitern.
»Danke, Mum. Dir auch. Wir sehen uns Donnerstag.«
»Ich liebe dich, Lou.«
Mehr wollte ich nicht hören. Also ließ ich ihr nichts mehr zu sagen. »Ich dich auch, Mum. Bis Donnerstag!« Und aufgelegt. Die Stille war nicht so erleichternd wie erhofft. Wunderbar. Ich schloss ›In Flanders Fields‹ auf meinem Handy, bevor es mich verfolgen konnte. Wenn das nicht sowieso unvermeidbar wäre. Verfolgt von den Geistern hunderttausender britischer Soldaten und der brechenden Seele meiner Mum. Widerstand unberichtet.
Harry war immer noch nicht wieder draußen. Vielleicht war er Verfolger Nummer 1. Er hatte es bis in mein Bad geschafft. Was machte er so lange da drin?
Nein, keine Fragen. Harry wollte eine halbe Stunde in meinem Bad sein; dann sollte er es sein können. Wenn ich genauer darüber nachdachte, konnte ich mir sogar ganz gut vorstellen, wie er die ersten paar Minuten untätig auf einer Stelle gestanden hatte, nur um dann, ich halbfriedlich mit O'Hara in den Händen, langsam Dinge mit behutsamen Fingerspitzen anzufassen. War ich je so viel besser gewesen? Als ich das erste Mal in Francis' Badezimmer gewesen war, mit all den dunklen Fliesen und getrockneten Blumen und Kerzen und mehr Cremes und Seifen, als ich in meinem Leben benutzt hatte, war ich auch ein verschollener Gestrandeter auf seinem Badewannenrand gewesen. Bis er irgendwann meine ehrfürchtige Starre effektiv durch einen lächelnden Blowjob auf genau dieser Badewanne gelöst hatte.
Nicht, dass mein Bad auch nur ansatzweise so eindrucksvoll war wie das von Francis. Oder, dass es eine Option wäre, jetzt bei Harry reinzuplatzen und es mit einem Blowjob zu versuchen. Aber dafür hatte Harry so viel mehr Gründe, sich durch ein frei nutzbares Badezimmer in einer fremden Wohnung überwältigen zu lassen.
Vielleicht sollte ich einfach aufhören, ihn mit anderen Menschen vergleichen zu wollen, mich selbst eingeschlossen. Ich hatte nie jemanden wie Harry gekannt.
Mein Hals sehnte sich nach Tee, aber Schwarz war keine Option und auf alles andere hatte ich keine Lust. Also wohl doch nicht. Stattdessen machte ich es mir wieder auf meinem Bett bequem – zumindest so bequem, wie man es sich mit einer anderen Person in der Wohnung eben machte – und suchte im Gedichtband nach den Versen, die meine Mum unterbrochen hatte.
Die Minuten verstrichen in Blöcken. Nach einer Weile verkabelte ich mich mit Kopfhörern, um nicht zu hören, was es nicht zu hören gab.
Erst als Harry über eine Stunde im Bad gewesen war, gewährte ich der Unruhe in meiner Brust. Was, wenn ich optimistisch hier saß, während bei Harry nicht alles gut war?
Ich rappelte mich auf, zog die Musik aus meinen Ohren und ging auf weichen Ballen in den Flur. Es war erst halb neun, aber meine Wohnung war wie eine Illusion der Stunden nach Mitternacht. Es wäre nicht das erste Mal heute. Fließender weißer Stoff und runde Augen; wer konnte mir garantieren, dass Harry kein Geist war?
Vor der letzten Tür blieb ich stehen. Ich sehnte mich danach, dass mein Atem sich vor meiner Nase in Eiswolken verwandelte. »Harry?«, fragte ich vorsichtig und meine Stimme war kratzig und fremd. Ich räusperte mich. »Harry, alles okay bei dir?«
Es war still, bis er es nicht mehr war. »Ja.« Durch eine verschlossene Tür klang er wie ein Traum.
Luft strömte ungehalten aus meiner Lunge. Hoffentlich würde das alles morgen weniger surreal werden. »Alles klar. Gut. Du kannst dann einfach rauskommen, wenn du so weit bist, ja? Ich habe-«
Die Tür schwang auf und Harry lächelte. »Ich bin so weit. Was hast du..?«
»Ähm.« Er sah aus wie vorher. Aber es war nicht so, als hätte er nicht genügend Zeit im Bad verbracht, um seine Haare gewaschen und einmal komplett durchtrocknen lassen zu haben. »Ja, super. Hast du alles gefunden?«
»Ich musste nicht suchen.«, berichtete er und trat an mir vorbei. Auch gut. Sein Kleid sollte mich allerdings nicht so sehr verstören, wie es das gerade tat.
»Harry, ich habe ganz vergessen, dir andere Kleidung anzubieten.« Auch wenn es aussah wie vorher, starrte ich das Badezimmer an. »Du kannst natürlich gerne ein Schlafshirt oder ein...worin du gerne schlafen würdest, haben.« Ich riss den Blick los und marschierte zurück zu meinem Kleiderschrank. Erst, als die Tür aufstand, erinnerte ich mich an die Unordnung darin. Naja, zu spät. Ich versuchte mich in müheloser Lässigkeit. Harry stand hinter mir.
»Hier.« Ich zog ein blaues T-Shirt hervor. Es war mein einziges Schlafshirt, das nicht aus einem meiner damaligen Fußball-Ferienlager stammte. Eine Hose hatte ich nicht – bis auf die eine lange Schlafanzughose, in der ich aber selbst im Moment schlief. »Eine Hose habe ich leider nicht.«, erklärte ich. Hoffentlich hatte er kein Problem damit, in T-Shirt und Unterhose zu schlafen. »Wenn du Socken brauchst, falls du kalte Füße hast...«
Harrys Augen waren riesig und auf den blauen Stoff in meinen Händen fixiert. Seine eigenen Arme bewegten sich keinen einzigen Millimeter auf meine zu, um mir das Kleidungsstück abzunehmen. »Ich soll das anziehen?«, fragte er und schaffte es schließlich, mich anzusehen.
Er konnte mich wirklich mit jedem Schlag seiner Zunge verunsichern. »Ja..? Also zum Schlafen, dachte ich. Du musst natürlich jetzt noch nicht schlafen gehen, es ist er halb neun, und du kannst dich natürlich gerne im Bad umziehen.«
Das Jadegrün und die großen, runden Pupillen wollten nicht nachgeben. Dann schüttelte er so heftig den Kopf, dass ich kurz dachte, er würde mir eine Kopfnuss verpassen wollen. Oder seinen Kopf auf jegliche andere Weise als eine Abrissbirne benutzen. »Ich behalte das hier.«, sagte er, während er noch immer den Kopf schüttelte. Seine Arme schlossen sich um seine eigene Taille wie zu einer schützenden Umarmung. Auf seltsame und erschütternde Weise war es, als hätte ich noch nie gesehen, wie er seine eigene Haut berührte.
Und seine Taille war schmaler, als das routinierte Kleidungsstück es verraten konnte. Gott.
Ich sah wieder auf in sein Gesicht, fand dort keinen neutraleren Boden. Konnte jemand zu schön für das eigene Wohl sein? Es war mir unmöglich, Harry eine echte Hilfe zu sein, weil seine Rippen irgendwann aufhörten und Haare aus seinen Augenlidern wuchsen. Hier lief etwas falsch und das Problem war ich.
»Okay.«, war meine schwache Einräumung. »Ja, klar. Wie du willst.« Wahrscheinlich schlief er immer in dem Kleid, es schien wirklich sein einziges Stück Kleidung zu sein. Vielleicht würde er bald die Kraft finden, Gewohnheit zu brechen und mein Angebot anzunehmen. »Ich lege es hier hin, ja? Du kannst es dir jederzeit nehmen.«
Er nickte und sah nicht aus, als hätte er vor, es sich jemals zu nehmen. Vielleicht war es doch weniger Gewohnheit und mehr ein Weigern, materielle Hilfe so explizit anzunehmen. So oder so; hoffentlich würde ein bisschen Zeit das richten. Oder verlor ich mich an falsche Prinzipien?
»Hm, ja, hast du noch irgendwelche Pläne heute Abend, Harry?« Ein sehr eleganter Weg, den Rest seiner Abendroutine zu erfragen, die sich garantiert nicht auf meine Wohnung übertragen ließ. Aber sonst stünde ich jetzt bald in der Sackgasse, aus der es nie einen Ausweg gegeben hatte. Auch ich fand hier die Grenzen meiner Gewohnheit. Wann hatte ich das letzte Mal einen Übernachtungsgast gehabt, der nicht mit mir in einem Bett schlief? Niemals? Harry war nicht hier, weil wir den Abend gemeinsam verbringen wollten, sondern weil er einen sicheren Ort brauchte. Er war für meine Wohnung hier, nicht für mich. Wir waren nicht zusammen hier; wir waren Individuen. Harry war nicht gekommen, um mit mir zu schlafen oder zu kuscheln oder zu reden oder zu lesen und das schöpfte all meine Erfahrungen aus.
»Nein.« Die unumgängliche Antwort, natürlich. Was auch sonst?
»Wann...«, setzte ich an, offiziell im Gebiet ungeschickter – und unangenehmer – sozialer Interaktionen. »Wann würdest du gerne schlafen gehen?« Hilfe, das war schlimmer als der einzige Besuch bei Cal nach der unheilvollen Serviette. Nur, dass wir da wenigstens zu zweit in unserem Leid gewesen waren. Harry gab mir gar nichts, nur große Augen und erwartungsvolle Lippen. Er ließ mich alleine in meiner Unfähigkeit baden.
»Gehst du schlafen, wenn ich schlafen gehe, Louis?« Wie konnte ein Mensch so direkt und gleichzeitig so schleierhaft sein?
Was wollte er wissen? Ob ich noch laut Musik hören würde, wenn er schon schlafen wollte? Oder ob er mich belasten würde, wenn er länger wach bleiben wollte?
Oder vielleicht hatte er einfach eine Tendenz dazu, alle bestimmbaren Faktoren abzusichern. So viele Unsicherheiten wie möglich zu eliminieren. Es würde Sinn machen. Und meine Wohnung sollte sich sicherer für ihn anfühlen als die Straßen dort draußen.
Die Antwort war also so klar wie möglich. »Ja. Dann würde ich auch gehen.«
»Jetzt.«, verkündete er. Seine Augen waren ein wenig glasig. Wie viel Schlaf bekam er normalerweise? Und wie tief konnte er jemals schlafen?
»Jetzt?«
»Ich möchte jetzt schlafen.« Kein Funken Zweifel in seiner Stimme.
Na gut. Dann wohl ein kurzer Abend. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal vor halb zehn schlafen gegangen war. »Okay.«, willigte ich aber direkt ein. »Ich würde dann noch kurz ins Bad gehen; Zähneputzen, bla bla.«
Er blinzelte langsam und obwohl ich das von ihm kannte, fühlte es sich falsch an. »Bla bla.«, echote er.
Wärme aus den Wangen verbannen; halb erfolgreich. »Ja.«, ich ließ ein angespanntes Grinsen zu. »Ich dachte, das hätte ich mir wieder abgewöhnt. Ich hatte ein Phase. Naja, egal. Harry, das ist deine Matratze. Mach es dir bitte bequem. Alles so, wie du dich wohl fühlst. Das Glas da, das vollere, ist auch für dich. Der Wasserhahn in der Küche ist besser. Beiden dich einfach, wenn du mehr willst.« Ich wartete auf eine Antwort, vergeblich. »Na gut. Ich gehe dann mal. Bis gleich. Oh, und du kannst gerne das Fenster zumachen, wenn dich das stört. New York New York ist unten, hast du bestimmt gesehen. Kann manchmal ein bisschen laut werden.« Ich lächelte ermutigend und überwand mich zum Umdrehen. Meine Mundwinkel fielen. Ich Idiot. Wenn Harry eine Sache gewohnt war, dann wahrscheinlich Geräusche in der Nacht. Oder auch nicht. Vielleicht schlief er ja normalerweise in einer der Unterkünfte der Stadt. Hoffentlich.
Ich würde noch tausende falsche Dinge sagen, da war ich mir sicher. Ich konnte nur hoffen, dass Harry stärker als meine Ignoranz war. Es würde schwierig werden; keine Fragen zu stellen und trotzdem nicht von den falschen Dingen auszugehen. Aber das war nun mal fürs Erste die Strategie.
Ich trödelte im Bad nicht. Und bemühte mich, alle nichtexistenten Zeichen von Harrys einstündigem Aufenthalt hier drin zu ignorieren. Er würde sich erst einleben müssen, das war normal. Hoffentlich war ihm der Schimmel in der oberen Ecke der Dusche nicht aufgefallen. Oder der kleine Fleck unter dem Waschbecken, auf dem sich immer die Millimeterhaare wie Staub auf den Fliesen sammelten, egal, wie gewissenhaft ich mich rasierte. Oder der Fakt, dass ich schon seit mindestens fünf Monaten eine neue Zahnbürste brauchte.
Vielleicht sollte ich einfach Francis anrufen und ihn darum bitten, Harry an meiner Stelle in seine Wohnung aufzunehmen. Ich hatte immerhin eine brillante Quote in den letzten 30 Tagen, was ›Meinen Ex aus dem Nichts ungefragt kontaktieren‹ anging. Aller guten Dinge waren...zwei?
Ich verzichtete auf eine Dusche, putzte die Zähne, ging auf Toilette, wusch mich wie nötig. Harrys rosa Handtücher, die ich ihm in die Hand gedrückt hatte, lagen auf der Waschmaschine. Ich hängte sie an zwei Haken und hoffte, dass Harry sie wiederfinden würde. Zu spät fiel mir auf, dass ich vergessen hatte, mir die Kleidung zum Umziehen mitzunehmen. Ich musste mich ja nicht am ersten Abend direkt vor ihm umziehen, vor allem um seinetwillen wahrscheinlich.
Also war ich gezwungen, die Sachen nachträglich zu holen. Ich blieb im Türrahmen stehen, als ich Harry auf seiner Matratze sah. Wie ein Brett, oder eine Leiche, lag er gerade auf der Luftmatratze, Arme an der Seite, Blick an die Decke. Der weiße Stoff seines Kleides fiel um ihn herum auf das helle Laken und zeichnete für mich zum ersten Mal ein genaueres Bild von Harrys Körper. Ich sah weg.
»Du kannst dich gerne zudecken.«, bemerkte ich und konnte mit meinen eigenen Ohren hören, wie wenig gelassen es klang. Wie sehr ich mir für uns beide bewusst war, wie unnatürlich die Situation war.
»Gut.«
Ja, großartig. Ich griff nach meinem Schlafanzug, begraben unter meiner Bettdecke; ein schwarzes Shirt mit meinem Namen und Feldnummer und eine karierte Hose. Damit kehrte ich ins Bad zurück und zog mich schnell um. Als ich wieder zu Harry zurückkehrte, war er zugedeckt, lag aber nicht weniger steif als vorher da.
»Fenster auf oder zu?«, fragte ich auf dem Weg dorthin. Nur nicht unsicher über meine Beine in der weiten, lockeren Hose sein.
»Auf. Für die Sauerstoffzirkulation.«
»Okay.« Sollte ich ihm auch sagen, dass er sich gerne bewegen durfte?
Ich knipste das Schreibtischlicht aus, zog die Vorhänge vor und hoffte, dass sie den Lärm der Clubs der Straße ein bisschen abfangen konnten. Dann trottete ich zurück zu meinem Bett, ließ meine Kleidung vom Tag nur in einem Haufen auf den Boden fallen, löschte auch dort das letzte Licht und schlüpfte endgültig unter die Decke. Der Bezug war kalt und kurz hatte ich das Bedürfnis, in eine ähnliche Starre wie Harry zu verfallen. Gegenstrategie: ich wälzte mich ein paar Mal laut hin und her, wickelte meine Füße auf die vertraute Weise in die Decke – um Harry mit den Geräuschen die Hemmungen zu nehmen. Aber ich hörte keine Regungen von ihm. Langsam kroch die Angst vor Albträumen in Harrys Gegenwart mir den Nacken hinauf. Ich verbannte sie mit Willenskraft.
Es war vielleicht knapp 21 Uhr. Wie lange würde ich brauchen, um so früh einzuschlafen? Ich angelte mein Handy aus dem Kleiderhaufen hervor. »Harry?«, hauchte ich in die Stille, obwohl Harry noch nicht schlief und es keine Eltern gab, die uns ermahnen konnten. Ich aktivierte meinen Wecker für morgen. Brauchte Harry auch einen Wecker? »Wann musst du morgen aufstehen?«
Ich horchte in die Stille, bis ich ihn plötzlich atmen hörte. »Wann musst du denn aufstehen, Louis?«
»8:15 Uhr.«, log ich. Dienstags war mein erster Kurs erst ziemlich spät, aber ich wollte Harry nach seiner ersten Nacht hier nicht alleine lassen. Wenn er früher aufstehen musste, würde ich mich eben überwinden müssen und mich ihm anschließen. Ich würde es überleben.
»Ich auch.«, echote Harry meine Gedanken, oder auch nicht.
»Mhm, alles klar. Ich habe einen Wecker gestellt.«
»Okay.«, bestätigte er, seltsam klingend. Aber wenigstens schien er akzeptiert zu haben, dass ›Okay‹ ein Wort war.
Ich bettete mein Handy zurück auf weichen Stoff. Das blasse Licht erlosch. Auf der Seite liegend blinzelte ich in das Schwarz, das Harry verbarg.
Ich wollte mit ihm reden. Das war es, was passieren sollte. Besuch, mit dem ich nicht schlief, redete ich, bis irgendwann die Augen zufielen – meistens auch der Besuch, mit dem ich schlief. Aber das hier war Harry, in einer unvergleichlichen Situation. Er wollte jetzt schlafen. Gemütliche Übernachtungspartys konnten wir starten, wenn wir uns wohler in der Gesellschaft des Anderen fühlten. Wir hatten bereits einen Monat pseudoaktiven Kennenlernens hinter uns, aber in Hemsworth hatte Harry alles zurück auf Null gesetzt.
»Gute Nacht, Harry.«
Dieses Mal musste ich nicht lange warten, aber es war noch surrealer als zuvor. Harrys Stimme in meiner Dunkelheit. »Gute Nacht, Louis.«
Wenig optimistisch schloss ich die Augen. Ich würde niemals einschlafen können.
Nur, dass das nicht stimmte.
Nach drei Atemzügen sickerte Müdigkeit in meine Muskeln und Gedanken wie ein Schlafmittel, dessen Wirkung ich spürte, aber nicht stoppen konnte. Meine Wange auf dem Kissen wurde weich. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte, aber protestlos ließ ich mich davontreiben.
Gesegneter Schlaf auf Knopfdruck. Auch nicht surrealer als Harry auf meinem Linoleum.
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