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𝐗𝐗𝐕𝐈𝐈

𝐋 ⋆

»Es hat mich überrascht, dass du ›Harry‹ gesagt hast.«, berichtete Harry, als könnte er das einfach so. Menschen bei ihren Telefonaten belauschen. Lächeln wie ein Ahnungsloser. Und aussehen, als könnte er mit der Sonne untergehen. Fragil und schön wie Licht. War er alle verbotenen Kontraste?

Mir blieb nichts anderes übrig, als ernst auszusehen. »Ähm...woher... Wie lange warst du hinter mir? Wieso bist du..?« Ich verlor die Frage, als ich mich umsah. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Also konnte Harry aus allen Gründen hier sein. Nur sagen musste er es mir.

»26 Sekunden.«, erklärte er, und die Antwort war so perfekt, dass ich sie erst nicht zuordnen konnte. »Deine Fragen habe ich nicht alle verstanden. Darf ich auch noch eine stellen? Das war schon eine Frage. Aber noch eine? Das war auch wieder eine. Darf ich eine Frage stellen, die ich bis jetzt noch nicht gestellt habe und auch nicht die ist, die ich gerade stelle?«

Wie konnte jemand so nichtsahnend sein? Aber vielleicht war es gut. Er sollte seine Fragen stellen. Dann würde er mich hoffentlich auch nicht stoppen. Ich verdiente Antworten. Und war das nicht immer Zayns Rat gewesen? Einfach nachfragen. Nicht zulassen, dass er ein Mysterium bleiben konnte. »Frag.«

»Wer ist die BBC?«

Fuck.

Es musste Ironie sein. Oder eine Fassade. Oder meine Ignoranz. »Der Sender. Das Unternehmen.«, berichtete ich trocken, um alle Möglichkeiten abzudecken. Und nicht hängenzubleiben. »Wenn wir schon beim Fragenstellen sind...darf ich dir auch welche stellen? Ich habe ein paar. Zu dir. Und so weiter. Ich habe einige Sachen nie so richtig verstanden.« Ich gab mir Mühe, sanft zu klingen. Und nicht bedrohlich, nicht mal neugierig. Ich wollte nur endlich ein paar Fakten.

»Das mit der BBC habe ich auch nicht so richtig verstanden.«, gab Harry zu. Kurz schob seine Unterlippe sich nach vorne. Wie konnte er real sein? »Ist das schlimm? Das war schon wieder eine Frage, aber du darfst gerne auch deine stellen. Das ist nur fair. Ich habe heute schon sechs an dich gestellt. Oh!« Seine Augen wurden rund, runder. »Gibt es ein Limit?«

Ich blinzelte und zwang mich zum Stoppen. »Wofür..?« Fragen?

»Fragen. Die ich stellen darf. Die ein Mensch stellen darf. Gibt es ein maximales Limit?«

Ich schüttelte schnell den Kopf. Vielleicht würde es uns helfen, uns darauf einzulassen. Fragen zu stellen. Bedingungslos. Auch wenn das Wort wie das Konzept ›Fragen‹ längst meinen Verstand verdrehte. fragenfragenfragenfragenfragenfragenfragenfragenfragen.
Sollten wir uns hinsetzen? Irgendwo? War Harry bewusst, dass ich ernsthafte Antworten wollte?

»Das ist gut, kein Limit.« Er sank in den Anflug eines Lächelns. Es zupfte an den Rändern meines Bewusstseins, in der Spitze meines Herzens. Puls wie der einer Maus. Würde ich Harry genauso mysteriös finden, wenn er nicht wie eine Marmorstatue aussähe?

Ich hatte mir eine andere Frage zurechtgelegt, Kälte, aber sie wurde verdrängt. Er würde niemals Schuhe oder Jacke tragen.
Also wichtiger: Wie oft gab es sein Gesicht auf der Welt? Und womöglich seine Eigenheiten? »Hast du Geschwister, Harry?«

Hatte ich das schon gefragt? Als er antwortete, mit munterem Kopfschütteln, hatte ich die Antwort bereits gekannt. »Nein.« Oder war es nur, weil ich mir unmöglich kleine Klone seiner vorstellen konnte? Er war ein Buch aus Fragen.

»Okay.« Ich durfte nicht zu sehr zwischen Themen springen. »Hey, wollen wir da lang?« Ich deutete auf einen schmalen Trampelpfad auf der anderen Straßenseite. Er schien eine Elektrozaun-abgesicherte Weidefläche zu umrunden, auf der keine Tiere standen. Müde Herbstpflanzen mit Auszeit.

»Das können wir tun, wenn du es möchtest.« Er sah mich an. »Möchtest du?«

Ich nickte und sah die Straße hoch. Harry spazierte los, ohne sich nach Autos umzusehen. War aber auch nicht nötig. Als wir auf der anderen Seite auf den weichen Grund traten, realisierte ich meine Unbedachtheit. »Harry«, entschuldigend blieb ich stehen. »Ich habe vergessen, dass das für dich vielleicht nicht so angenehm ist. Die matschige Erde. Und Gras oder Disteln oder... Wir können wieder zurück.«

Harrys Nasenflügel legten sich enger. Seine Augen waren das Gras zwischen seinen Zehen. »Du hast gesagt, du wolltest hierher.«

»Aber ich habe nicht an dich gedacht.«

»Du hast gefragt, ob wir an diesen Ort gehen wollen.«

»Ja, aber deine Füße.«

Er wippte von seinen Fersen auf die Ballen und zurück. »Meinen Füßen geht es gut. Ist das der Grund deiner Besorgnis?«

Ich durfte ihn nicht bevormunden. »Nicht, wenn es für dich okay ist. Wir können hier lang gehen..?«

»Ja.«

»Na dann.« Ich signalisierte ihm den Aufbruch. Er setzte sich in Bewegung, kleine Steine kein Hindernis. Ich folgte ihm. »Darf ich fragen, wieso du keine Schuhe trägst, Harry? Eigentlich wollte ich solche Dinge nicht fragen, weil ich weiß, wie oft du das hören musst, aber ich bin wohl ein typischer oberflächlicher, neugieriger Mensch. Westlich. Mit nicht besonders weitem Horizont und Sensationsgabe für alles, was nicht meine Norm ist. Also antworte bitte nur, wenn du dich wohl damit fühlst.«

In den kurzen Sekunden der Stille begriff ich, dass ich auch das schon gefragt hatte. Na toll. Ich war nicht nur oberflächlich und neugierig, sondern auch noch vergesslich. Harry musste sich fühlen wie eine billige Plastikpuppe. Aber er antwortete, bevor ich zurückziehen konnte. »Ich habe keinen Grund, Schuhe zu tragen.«

Um es nicht noch schlimmer zu machen, ließ ich das auf sich beruhen. Der dünne Stromzaun neben uns stand offensichtlich nicht unter Strom, aber ich hielt trotzdem einen unangemessenen Sicherheitsabstand.

»Wieso läufst du hinter mir?«, fragte Harry mit Schulterblick und als könnten wir jetzt nur noch in Fragen kommunizieren.

Ich blinzelte zu seinen Füßen hinab. Meine schmatzten laut bei jedem zweiten Schritt. »Weil der Weg so schmal ist.«

»Okay.«, erklärte Harry sich zufrieden. »Das sagst du manchmal. Es ist ein Wort, richtig?«

Mir entwich ein verwirrtes Lachen, bevor ich meine Lunge zügeln konnte. »›Okay‹? Ja.« In Literatur und Geschichte hatten wir im ersten Semester gelernt, dass ›OK‹ das am häufigsten genutzte Wort weltweit war. Menschen fast aller Muttersprachen konnten es verstehen. Hatte Harry noch nie eine Fernbedienung in der Hand gehalten? Ich hatte alle Fragen jemals zu Harrys Kindheit, aber ich wollte ihn nicht überrumpeln. Ich wollte nicht sein Vertrauen verlieren, falls ich das je gehabt hatte – und nach Halloween noch etwas davon übrig war. Auch wenn ich das war, wollte ich nicht so rücksichtslos sein, wie alle anderen Menschen auch mit ihm umgehen mussten.

Ich starrte die weiche Haut seiner Handgelenke an. Ich wusste nicht, ob sie wirklich weich war. Konnte ich seine Hand in meine nehmen und ihn fragen, wer er war?

»Harry?«, meine Stimme wollte in der Milde des Windes untergehen. Sanftheit, Neutralität, Sicherheit, bitte, bitte, bitte. »Kennst du wirklich nicht das Wort ›okay?‹«

Dieses Mal drehte er sich nicht um, lief munter weiter. »Nicht, bevor du es manchmal gesagt hast.«

Es war kein Spaß...oder? Die Locken seines Hinterkopfes verrieten nichts. »Bist du ein guter Lügner, Harry?« Eine naive Frage, eine dumme Frage, aber ich war verzweifelt.

Muskeln seines Halses zuckten. »Sind Lügner jemals gut?«

Er war zu viel für mich. »Nein? Oder doch. Also...ich glaube nicht, dass Lügen unbedingt gut sind, aber...ein neutrales Konzept..? Ehrlichkeit ist wichtig, aber es gibt Situationen, in denen sie nötig sind. Glaube ich. Notlügen. Die dich nicht zu einem schlechten Menschen machen. Manchmal müssen Lügen einfach sein.«

Ich sah nicht voraus, dass er stoppte und so prallte ich kurz in seinen Rücken. Harry drehte sich um. »Entschuldige, Harry.«

»Du hast recht.«, verkündete er, aber offenkundig überrascht über die Erkenntnis. »Lügen sind manchmal notwendig. Aber nicht für dich, Louis, oder? Du solltest nicht lügen.«

Zu schweres Gewicht senkte meine Augenbrauen. »Du darfst lügen, aber ich nicht?«, fragte ich verständnislos.

Hätte es nicht alles andere eher sein sollen, wäre seine Emotion als Besorgnis zu deuten gewesen. Sein Kopf kippte leicht. Ein kleiner Kampf auf seinen Lippen, sichtbar von allen Menschen dieser Welt nur für mich. »Ich muss lügen.«

»Du musst?« Worüber redete er? »Hast du mich schon angelogen, Harry?« Ich klang nicht wütend und ich war es nicht, aber vielleicht lag das daran, dass ich einfach nicht verstand, was gerade passierte.

Der Blick der grünen Augen flog zu den trägen Wolken über uns. »Nein.«

Lüge.

Fast hätte mein Unglaube mich zum Lachen gebracht. Fast. Ich wollte schreien, oder seine Hand nehmen. Stattdessen zwang ich mich zu innerer Ruhe. »Wieso musst du lügen, Harry?«, fragte ich so vorsichtig, wie ich nur konnte. Ich bot ihm nicht die Möglichkeit an, die Frage zu überspringen; er sollte es in meiner Stimme hören.

Harry starrte mich so eindringlich an, dass ich die verlorenen Sommersprossen meiner Kindheit spürte. Dann blinzelte er, unmöglich langsam. »Das darf ich dir nicht sagen, Louis. Ich müsste nicht lügen, wenn ich es dir sagen dürfte.«

Ergab natürlich Sinn. Trotzdem wollte ich lauter schreien. Es fühlte sich an, wie das höchste Maß an Ehrlichkeit, das ich bisher von Harry bekommen hatte, aber es resultierte nur in steinerne Frustration. Die finale Wahrheit war, dass er mir die Wahrheit nicht sagen konnte. ›Durfte‹. Mit welcher Lüge lebte Harry? Was belastete ihn? Welche Art von Geheimnis war es? Betraf es ihn selbst? Die Zukunft? Die Vergangenheit? Gab es Eingeweihte? Würde ich es jemals erfahren? Wieso durfte ich von der Existenz eines Geheimnisses wissen, aber nicht seiner Natur?
›Ich bin ein gesunder Mensch.‹

»Falls du jemals«, ich durchforstete meinen Verstand nach den besten Worten – fand sie nicht, »Mitteilungsdrang hast oder Hilfe brauchst oder...irgendetwas suchst, wofür ich in meiner Existenz oder mehr etwas tun kann, dann sag Bescheid. Ich werde da sein wollen.« Es fühlte sich an, als wäre es der Wahrheit am nächsten, die er mir nicht geben konnte. Und trotzdem wollte ich mehr Fragen stellen. Nicht über das Geheimnis, nichts, das ihn unwohl werden lassen würde. Aber über Harry.

Er mochte meine Gesellschaft gesucht haben, weil er Menschen kennenlernen wollte. Aber es wurde Zeit, dass ich ihn kennenlernte.

Ich ging einen Millimeterschritt auf ihn zu und lächelte ermutigend, um ihn zum Weitergehen anzuregen. Es funktionierte, auch wenn er immer noch aussah, als hütete er seine Sorgen in einem anderen Universum. Vielleicht sollte ich ihn wirklich Niall vorstellen.

»Harry?« Ich schickte meine Stimme nach vorne. Ließ ihm zwischen Name und Frage kurz Zeit zum Existieren. »Du bist ja Stipendiat. Richtig?«

Er wurde langsamer, aber blieb nicht stehen. Ich mied den Blick zu seinen Füßen. »Ja.«, bestätigte Harry.

Ich wusste wenig über Stipendien. Leistungsbegründete Stipendien waren in Sachen Literatur schwierig. Man musste Dinge vorweisen können. Abgeschlossene Werke, Flexibilität, Talent über mehr als eine Textart hinaus. Prosa, Lyrik, alles. Gewonnene Preise schadeten nicht.
Ich hätte bis auf ein paar alternative Kurzgeschichten nicht wirklich etwas vorzuweisen gehabt – zumindest nichts, das ich in fremde Hände gegeben hätte.

Wie war es in der Kunst? Hatte Harry ein Praxis- oder Theorie-basiertes Stipendium erhalten? Das interessierte mich wirklich, aber es war unmöglich zu erfragen. ›Hey, Harry, hast du dein Stipendium, weil du intelligent oder talentiert bist?‹ Welche der Antworten wäre die schlimmere? Vielleicht ging es sanfter. »Was waren die gewerteten Leistungen? Was musstet ihr machen? Oder einreichen?«

»Wir?«

»Naja, du und die anderen Sti-...alle, die sich beworben haben.«

»Beworben?« Dieses Spiel kannte ich. Mittlerweile fast zu gut für meinen Geschmack.

»Auf das Stipendium..?« War es besser, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte? Er meines genauso wenig? »Womit hast du dich beworben?«

Er wurde noch immer nicht schneller. Ein schleichender, strahlend weißer Schatten in all dem unendlichen Braun-Grün-Grau von West Yorkshire. Alles Licht, was der trübe Tag bot, wurde von seinen symmetrischen Schultern angezogen. Niemand aus der Straße in unserem Rücken könnte aus dem Fenster sehen und nicht Harry fokussieren. Ich wusste einfach, dass es so funktionierte.

»Harry?«, fragte ich nach, für den Fall, dass...für den Fall, der bereits eingetreten war. Keine Antwort.

Ich erntete einen weiteren Schulterblick, flüchtiger, unsicherer. Dann senkte sich der lockenübersäte Kopf nicht unmerklich genug. »Ich weiß es nicht.«, gestand Harry schließlich. Verlorener Wunsch; aufwachen zu können.

Wer war Harry und wieso wollte er es sich leisten können, alle Regeln zu brechen?

»Was meinst du damit?«, hakte ich trotzdem vorsichtig nach. Aber meine Vorsicht bedeutete nichts mehr. Ich quälte ihn, das wusste ich. Dafür musste ich seine Wimpern und Wangen nicht sehen.

»Das, was ich gesagt habe..?«, erklärte Harry wackelig. »Dass ich es nicht weiß. Louis, ich würde gerne das Thema wechseln.«

Lachen, Schreien, Rennen, Aufwachen, Sterben; was war meine beste Option?
Oder eine andere Frage, weil Fragen das einzige waren, deren Existenz Platz hatte: Wofür wäre Harry mir am dankbarsten?

Ich konnte nichts tun, als ihn zu respektieren. Wenigstens dieses eine Mal. Oder vielleicht funktionierte ein Kompromiss. »Redest du nicht so gerne übers Studium?« Halboffensiv tänzelte es um die Wahrheit herum, die er eben offenbart und verschwiegen hatte. Ich ignorierte, was er gesagt hatte – und tat damit gleichzeitig, worum er mich gebeten hatte, und das genaue Gegenteil.

»Über die Dinge, die ich lerne?« Harry ging zu dicht am inaktiven Stromzaun. Vielleicht war ich als Literaturstudent dazu verpflichtet, ihn darüber aufzuklären, dass es hilfreich war, Fragen nicht mit Fragen zu beantworten.

Aber was er konnte, konnte ich schon lange. »Über Kunst?«

»Kunst?«

»Mhm. Wieso studierst du Kunst?« Was war eine Frage, auf die ich eine Antwort bekommen könnte? »Wieso ist Kunst das in deinem Leben, dem du deine Zeit widmen willst? Oder deine Gedanken? Deine Zukunft, vielleicht?«

Sein Körper offenbarte es nicht, aber ich spürte die niedrige Mauer in seinem Verstand, die er überwinden musste, um die Frage zu beantworten. Die unsichtbaren Lippen kamen ihm zu Hilfe, verdeutlichten Intentionen. Phonetik heftete sich an Gedanken wie Signalglöckchen. »Ich...«, begann Harry, »als Mensch...Kunst ist Leben.«

Ich wollte, dass er stehenblieb. Dass er in mein Gesicht lachte oder mich in die feuchte Erde schubste. Es waren nicht seine Worte, nicht ihr Inhalt – natürlich war Kunst Leben. Aber hatte er ein Recht darauf, es einfach so auszusprechen?
Das Schlimmste schnürte mir den Hals ab; ich wusste, dass Harry und Danny sich gut miteinander verstehen würden. Vielleicht musste ich Harry als erstes in den Matsch schubsen, damit er mich mit sich ziehen konnte.

Wahrscheinlich sollte mein Dad mich auslachen, aus der Hölle.

»Was ist mit dir?«, fragte Harry, weil er nicht die Kurzwellenfrequenz meiner Gedanken zu empfangen schien. »Wieso möchtest du Literatur deine Lebenszeit schenken?«

Es war nichts anderes als die Standard-»Wieso-studierst-du-etwas-das-dich-später-arbeitslos-werden-lässt?«-Frage, nur anders formuliert. Ich hatte mir die Grube selbst gegraben. »Ähm«, ich vergrub meine Hände im kühlen Futter meiner Jackentaschen. »Ich weiß nicht, ob ich jetzt eigentlich auch sagen sollte:›Literatur ist Leben.‹ ›Für mich.‹ Aber ich glaube, das stimmt nicht. In dem Sinne, dass Literatur Kunst ist, ja, aber Literatur ist keine Kunst, oder? Literatur ist...alles, was wir schon im Kopf haben, nur...umgekrempelt..? Ich kann nicht sagen, dass Literatur Leben ist, das wäre unfair.« Hätte Zayn mir gesagt, dass ich Unsinn redete? »Denn dann würde ich sagen, dass Wörter Leben sind. Und das ist elitär und privilegiert und diskriminierend, schätze ich. Warte, das beantwortet gerade überhaupt nicht deine Frage. Tut mir leid. Fragst du nochmal?«

Harry nickte. »Ich habe nur deine Frage« – Fragen, Fragen, Fragen, Fragen, Fragen – »umformuliert. Wieso möchtest du Literatur deine Lebenszeit schenken?«

Nicht zu viel denken. Je mehr ich überdachte, desto weniger würde ich antworten können. »Weil es mir das Gefühl gibt...Stimmen zu hören. Ich lebe dieses eine Leben und ich werde es ausschließlich hier drin«, ich tippte mir mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, »verbringen. Nur in meinem Kopf, immer, alles. Literatur fühlt sich wie die einzige Möglichkeit an, ein winziges bisschen in den Verstand anderer Menschen zu gelangen. Ich lese, weil ich Menschen hören will. Und ja, du hast recht; das stimmt alles nicht. Ich könnte einfach öfter das Haus verlassen und mit Leuten reden. Dann wäre ich kein Heuchler mehr. Und Literatur ist endlos selektiv, per definitionem. Oh, nein, streich den letzten Satz. Ich will nicht die Art von Literaturstudent sein, der alltäglich Latein benutzt. Was ich sagen wollte; Literatur ist selektiv, über Klassiker und Epochen hinaus. Preise. Ohne sagen zu wollen, dass jede Person, die je etwas geschrieben – und veröffentlicht – hat, eine schlechte ist...sie ist trotzdem Teil eines großen Ganzen. Im Studium tun wir viel so, als wäre Schreiben Denken, aber das ist es nicht. Kommunikation kann Denken sein, aber selten. Und niemand denkt mit seinen Händen. Schreiben ist auf eine Weise immer Lügen, und das macht Lesen einfach nur...anmaßend..? Arrogant, solange wir uns einreden, dass Schreiben Denken ist.« Zum Glück gab ich diese Antwort sinngemäß nicht zum ersten Mal. Irgendetwas Neues offenbarte sich trotzdem jedes Mal. »Ich bin schuldig. Ich liebe es. Nichts gibt mir ein effektiveres Gefühl von Anti-Leere als Literatur. Um vielleicht doch irgendwie zu antworten. Und außerdem...ich studiere es ja nur, weil ich lehren möchte.«

Verspätet meine Bitte erhörend, war Harry stehen geblieben. Wir hatten fast die erste Ecke des Zauns erreicht. Ich traute mich immer noch nicht, seine Füße anzusehen. Aber es war auch nicht mehr nötig. Seine Nase war nicht allzu weit von meiner entfernt. Augen wie die verlorene Farbe des Tages. Er sah überrascht aus. »Scīsne Latīnē?«

Vielleicht wollte ich mir nur einreden, dass die ganze Welt aus Lügen bestand, damit ich nicht realisierte, dass ich letztendlich nur mich selbst belog. War es möglich, dass Harry genau die Art von Person war, die ich nicht leiden konnte? »Du sprichst Latein?«, fragte ich mit nicht ansatzweise so viel Überraschung, wie er auf dem Gesicht trug. Stipendiat, und wie.
Aber sogar ich wusste, dass ich uns in eine Sackgasse führte; ich hatte seine Frage nur wiederholt.

»Ja. Aber du hast es eben auch gesprochen.« Er hob einen Finger, um auf meine Lippen zu deuten, den Ort des Verbrechens. Versprechens. »Ich wusste nicht, dass du-«

»Tu ich nicht. Nicht mehr als das, was jeder kann. Ich hatte es nicht in der Schule. Und im Studium kriegen wir nur einen Crash-Kurs, was Etymologie betrifft. Ich habe leider keine auch nur halbwegs sichere Fremdsprache.«

»Latein ist eine sehr alte Sprache. Im Gegensatz zu deinem Alter.«

Was für eine Erkenntnis. »Und sehr tot.«

»Tot?«, fragte Harry skeptisch.

Ich wollte nicht länger auf der Stelle stehen und umrundete Harry, dann den Zaunpfahl, Richtungswechsel um 90°. »Tot genug, dass ich vielleicht eine Rechtfertigung dafür habe, es nicht fließend zu sprechen.«

»Latein?« Harry holte auf und schob sich an meine Seite. Wieder gefährlich nah dem wahrscheinlich ungefährlichen Stromzaun. »Eine Sprache kann nicht tot sein, Louis. Es ist eine Sprache.«

Ich runzelte die Stirn, aber hörte sofort damit auf. »Tot im Sinne von nicht mehr gesprochen.«

»Aber wir haben es gerade eben gesprochen!«

»Ja, aber nicht richtig. Ich spreche kein Latein und ich weiß nicht, ob du... Es gibt niemanden, der es als Muttersprache spricht. Es gibt keine zwei Menschen, die geboren werden und durch ihre Kultur dadurch vorbestimmt sind, in Latein miteinander zu kommunizieren.«

»Tot und lebendig sind seltsame Wörter für eine Sprache. Aber wir können sie benutzen, wenn du möchtest. Sag mir, Louis: Gibt es Menschen, die Latein sprechen und verstehen können?«

Ausnahmsweise wusste ich mal, worauf ein Gespräch mit Harry hinauslaufen würde. »Ja«, spielte ich brav mit.

»Wie könnte die Sprache dann tot sein?«

»Weil niemand sie authentisch spricht.«, versuchte ich es. »Wer Latein spricht, hat es sich angeeignet. Zusammengebastelt aus Hypothesen zur Vergangenheit. Zum echten Latein. Das tot ist.«

»Ist das nicht immer der Prozess des menschlichen Sprachenlernens? Auch bei einer Muttersprache? Zusammenbasteln von Hypothesen von den Wörtern der Eltern oder anderen Menschen, die eine Form von vergangener Sprache sprechen. Eine Aneignung von etwas, das einem Menschen gehört, sobald er es beherrscht?« Harrys Stimme verriet keine unumstößliche Gewissheit. Aber genauso wenig klang er, als würde er meinen Standpunkt auf die geringste Weise begreifen.

»So funktioniert das aber nicht.«, widersprach ich. »Wir können nicht einfach aneignen, was wir wollen. Und so tun, als würde es uns gehören, sobald wir es beherrschen. Genau das ist das Gefährliche.«

»Weil der Mensch nimmt, um zu kontrollieren. Nicht, um zu respektieren. Nicht einmal, um teilzuhaben.«, erklärte Harry, und natürlich hatte er auf eine Weise Recht. Aber auf eine andere hatte er gewaltiges Unrecht. Konnte er das nicht sehen? »Und wen unterdrücken wir, wenn wir Latein sprechen?«

›Möglicherweise all die Nachfahren derer, die damals vom römischen Reich unterdrückt wurden und heute vielleicht selbst noch darunter leiden.‹ Ich wollte es sagen, aber stattdessen sagte ich: »Niemanden. Weil die Sprache tot ist.«

Wir konnten einander nicht recht geben. Ich sah es in seinem Blick. Aber ich wollte das Thema wechseln, bevor er mich darauf hinwies, dass Latein in allen romanischen Sprachen weiterlebte. Das war nicht dasselbe. Latein war tot. Und wie bei allen toten Dingen, konnte man sich vielleicht noch daran erinnern; aber wieder zum Leben erwecken war unmöglich.

»Harry«, sicherte ich mir die Redechance, bevor er es tun konnte. Und bevor ich wusste, was ich sagen sollte. Zurück zu den Fragen vielleicht. »Weißt du schon, wann du wieder fährst? Bleibst du bis morgen?«

Er sah auf seine Hände hinab. Wie konnten sie nicht erfrieren? Es war erst November. Was passierte im Dezember, Januar, Februar? »Ich bleibe nicht bis morgen.« Das vielleicht erste Vernünftige, das er heute sagte. Hemsworth hatte kein Recht darauf, grundlos über zwei Nächte besucht zu werden.

»Hast du dir schon einen Bus rausgesucht?«

»Rausgesucht?«

»Weißt du schon, wann du fährst?« Noch eine Schleife. Looping um Looping um Looping in meinem Verstand, auf meiner Zunge.

Harry nickte. »Ich kehre bald nach Hause zurück.« Bald. Entweder war das seine Art, nicht gestehen zu müssen, dass er die genaue Abfahrtszeit vergessen hatte, oder er wollte es mir einfach nicht sagen.

Aber ich wollte meine Chance ergreifen. »Apropos nach Hause«, Rechtfertigung meines schwachen Gedankenbogens – Neugier in schwächster Verkleidung, »Wo wohnst du eigentlich in Manchester, Harry?« Nicht in St. Anselm Hall, bei Niall.

Er berührte den Stromzaun, aber ich war derjenige, der zusammenzuckte. Wirklich kein Strom also. Trotzdem hätte Harrys Blick auf eine Hochspannungsleitung zurückschließen können. Seine Lippen formten Worte, die ich nicht zu hören bekam. Längersilbig als die finale Antwort. »Wieso..?«

Einfach atmen. Einfach lächeln. »Nur so.« Keinen Druck aufbauen; bloß nicht selbst einladen. »Es interessiert mich.«, erklärte ich sanft und so neutral wie möglich.

Ich musste mir die Anspannung in seinen Schultern einbilden – wenn ich die tiefe Distanzierung in den hellen Augen verleugnen wollte. »Muss es dich interessieren, Louis?«

Beinahe hätte mich diese Erwiderung nicht mehr überrascht. Aber nur beinahe.
Ich musste nicht mal versuchen, ihn wie eine Person aus Tinte zu analysieren. Er wollte nicht darüber reden, wo er wohnte. Richtig? Sein Abstand war seine Antwort. Und das hätte ich vielleicht akzeptieren sollen. Aber Zayn war zurück in meinem Kopf. Vielleicht war er wie ein Lied, das ich nicht zu Ende gehört hatte und mich jetzt als Ohrwurm verfolgte. Das verlorene Telefonat.

Ich sollte weiter fragen. Zayn, immer. Wenn ich Antworten bekommen wollte, musste ich Durchhaltevermögen zeigen, und vielleicht ein bisschen nachbohren. Und wenn Harry mir wirklich keine Antworten auf die grundlegendsten Fragen geben wollte, dann wäre das vielleicht endlich genug Antwort auf alle meine Fragen. An irgendeinem Punkt müsste ich ja akzeptieren, dass wir beide womöglich eine Sackgasse waren.
Aber diese Chance schuldete ich ihm noch.

»Du warst bei mir.«, erinnerte ich ihn. »Ich dachte, wir könnten vielleicht mal zu dir. Auch wieder ein bisschen quatschen. Tee trinken oder so. Oder was du magst. Ich habe noch nicht so richtig Vorstellung von...Dingen, die du gerne magst. Würde ich aber gerne haben. Du weißt schon; die ganze Sache mit dem Kennenlernen. Ich dachte, wir könnten vielleicht damit anfangen, dass du mir dein Zuhause zeigst. Dein Neues. In Manchester. Es muss mich nicht interessieren, Harry, aber es interessiert mich. Ich interessiere mich für dich. Ich möchte ein bisschen was über dich lernen.« Und et voilà; doch selbst eingeladen. Ganz großartig.

Wahrscheinlich war das genau der Grund, wieso Harry so überrumpelt aussah. Als hätte ich ihn wirklich in den Matsch geschubst und liegen gelassen. War ich im Unrecht, egal, was ich tat? Das konnte nicht stimmen. Und ich wollte nicht zurückziehen. Harry schwankte in nichts als der Souveränität, die er nie wirklich besessen hatte. »Louis«, eröffnete er so ernst, wie jemand sein konnte, der nicht mehr in seinem Gang stoppte. »Ich kann dir mein Zuhause nicht zeigen.«

Ich versuchte, ihm die Art des ›Kann‹s anzusehen und die Antwort nicht als die finale zu nehmen. »Du kannst nicht?«

»Nein.«

Jetzt oder nie. »Wieso?«

Sein Blick zuckte wieder über die Wolkendecke. »Es geht nicht.«

»Du möchtest nicht.«, berichtigte ich und wollte wenigstens ein bisschen fragend klingen.

»Ich kann nicht.«

»Wieso?« Ich wusste, worauf es hinauslaufen würde. Nichts. Das endgültige Nichts. Auf Wiedersehen, Harry. Auf Nimmerwiedersehen.

»Das hast du eben schon gefragt.«

»Du hast nicht geantwortet!«

Er atmete mir hart ins Gesicht. Dann wandte er den Blick wieder ab. Wir hatten den nächsten Zaunpfahl erreicht und umrundeten ihn in die Richtung zurück zur Straße, als wäre das jetzt ganz normal. Harry hatte keine Taschen, in denen er seine Hände vergraben konnte. »Ich wohne nicht in Manchester, Louis.«

Meine Fingergelenke beugten sich alle gleichzeitig. »Was?«

»Ich wohne nicht in Manchester.« Er sah mich wieder an. Und weg.

»Oh« Oh... Oh. Ich war einfach blind davon ausgegangen. Idiot. »Du pendelst?«

Blick seiner Augen zurück auf meinen. So hübsch, so falsch. »Ich weiß es nicht.«, erklärte er unsicher.

Ich konnte nicht wegrennen und ihn nie wiedersehen. Aber ich wollte. Und schreien, am lautesten. Vielleicht sogar etwas zerbrechen. All die Dinge, die ich in Harrys Gegenwart tun wollte. War Harry pathologischer Lügner oder Arschloch? Was bildete er sich auf seine Illusion von Einzigartigkeit ein? Und wieso war ich seiner Aura so willenlos gefolgt? ›Ich soll bis 72 zählen?‹ Harry, Grübchen, alles nur für dich.

Hatte ich mir seine Grübchen damals eingebildet? Wann hatte ich ihn das letzte Mal wirklich lächeln sehen? Wieso spielte das eine Rolle? Wieso spielte er eine Rolle?

Wenn ich ihn gehen lassen würde, könnte ich ihm davor die letzten Fragen stellen. Ich schuldete ihm nichts.

»Harry, wo wohnst du?« Der Nachdruck kam wie von allein, sobald ich ihn nicht mehr unterdrückte. ›Bis 72.‹

Seine Mimik verschleierte nicht mehr; er hätte auch offen eine Waage in den Händen halten können, die ihm die Antwortmöglichkeiten abwog. »Fragst du, weil du mich besuchen möchtest, Louis?«

»Ja.« Ich wollte ihn nicht mehr besuchen. Aber jetzt ging es ums Prinzip.

»Dann...«, setzte Harry an, aber beendete nicht. »Nirgendwo.«

Nirgendwo? »Bei deinen Eltern?« Vielleicht hatte ich ihn immer falsch verstanden. War er womöglich gar nicht neu nach Manchester gezogen? Lebte er noch bei seinen Eltern, in einem Vorort? Aber das wäre Pendeln. Und hatte er nicht mal gesagt, er käme von weiter weg? Bildete ich mir das ein? Ja? Nein?

»Meine Mutter existiert nicht mehr.«

Schon während ich es tat, fühlte ich mich schlecht, aber ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Ich wusste nicht, was es war; das Vokabular, mit dem er mir sagte, dass seine Mutter verstorben war, die Plötzlichkeit, mit der er es mir mitteilte, oder der Fakt, dass Realität seines Lebens war, was meines niemals werden dürfte. Vielleicht hatte ich einfach Angst. Vielleicht hatte ich immer auf irgendeine Weise Angst vor ihm gehabt.

»Das tut mir leid, Harry.«, schaffte ich es trotzdem irgendwie, mich nicht für mein Starren, aber meine Stille zu entschuldigen. Seine Mutter existierte nicht mehr.

Harry schüttelte den Kopf. »Du kanntest sie nicht. Es kann dir nicht leid tun. Du warst nicht am Leben.«

Harry war kaum ein Jahr älter als ich. Er musste seine Mutter verloren haben, als er noch ein Baby gewesen war. Ich wollte ihn umarmen, auch wenn er mich bei aktivem Nachdenken wütend machte und sich nicht mal bemühte, seine Lügen zu retuschieren. Aber es war ungefragt, das wusste ich. Und auch für mich konnte ich das Risiko nicht eingehen.

Auch wenn Harrys Mutter bedauerlicherweise früh verstorben war; ich schuldete ihm trotzdem nichts. Ich wollte wissen, was mit seinem Vater war – lebte er bei ihm? – aber irgendwo war selbst für diesen Moment die Grenze.
Ich wollte beenden, was auch immer wir für eine Kennenlern-Beziehung am Laufen hatten, aber auch dafür musste ich ihn nicht gnadenlos auseinandernehmen.

Das befreite ihn trotzdem nicht von der Verantwortung für seine großäugige Serie an Halbwahrheiten. Nur noch ein paar Fragen.

»Was meinst du mit nirgendwo?«

»Nirgendwo?« Seine Stimme klang so unfehlbar. Hatte die vage Präsentation seiner Persönlichkeit ihn nie vor den Kopf gestoßen?

»Dass du nirgendwo wohnst?«, half ich ihm auf die Sprünge. »Was meinst du damit?«

Er wollte mich nicht mehr ansehen. Über seinem runden Ohr kringelte sich eine dicke Strähne. »Du kannst mich nicht besuchen, Louis.«

»Aber ich würde gerne deine Wohnung sehen.«, ich versuchte, weder frustriert noch einschüchternd zu klingen. An welchem Punkt hatte ich an ›sehr, sehr guten Sex‹ mit Harry geglaubt? »Das ist immer interessant und schön. Sehen, wie andere Leute leben.«

Und er schaffte es doch, mich anzusehen. Seine Augen baten um etwas, das ich ihnen nicht geben konnte. »Ich habe keine Wohnung, Louis. Du kannst mich nicht besuchen.«

»Du- was?« Ich runzelte die Stirn. Keine Wohnung. »Ein Haus?«

Sein Blick sprang zu der Perlenkette an Häusern, Trampoline in Vorgärten, auf die wir wieder zuliefen. Wimpern auf Hochspannung. Dann sprach er mit dem Nachdruck, den ich ihm auferlegt haben musste. »Ich habe kein Haus. Keine Wohnung. Kein materielles Dach oder Wände. Du kannst mich nicht besuchen, Louis. Es gibt keinen festen Ort. Bitte vergiss diesen Wunsch.«

Das materielle Dach meiner Schädeldecke stürzte ein. Meine Füße weigerten sich, einen weiteren Schritt zu gehen. Harry war alles. Es half nicht, ihn mit den Augen zu verschlingen. Puls in meinem Hals, in meinen Lippen, in meinen Ohren. Presslufthammer, bis die materiellen Wände meiner Augenhöhlen implodierten. Abrissbirne. »Harry..?«

Auch er blieb stehen. Er musste. Er konnte mich nicht im Explosionskrater seiner Worte stehen lassen. Sein Mund stand offen, durchspült von Reue und meiner Ignoranz. »Louis.« Reue? Panik. »Vergiss, dass ich das gesagt habe. Ich weiß, das ist unmöglich, aber du musst-«

»Harry«, schnitt ich ihm das Wort ab. Mein Gaumen fühlte sich leer und verraten an, wie mein Verstand. »Du...hast kein Zuhause?«

Seine Füße flogen auf mich zu. Plötzlich stand er vor mir, dichter als ich ihm je gewesen war. Meine Nase und seine. Wie konnte er in einem Fetzen weißer Seide immer noch Wärme ausstrahlen? Er hatte winzigste, durchsichtige Härchen auf dem Nasenrücken. »Darf ich dein Gesicht berühren?«, fragte er in Wellenlängen, die meine Zunge zum Kribbeln brachten. Ich wollte die Luft zwischen uns schlucken. Lieber im Vakuum sterben, als ihn wieder auszuatmen. Ich wusste, dass er mich nicht küssen wollte. Ich wollte einfach nur die Welt richten, für immer. Harrys Welt mit den Armen umschlingen und nicht loslassen, bis sie sich gerade verwurzelt hatte. Ich nickte, um die Millimeterbruchteile zwischen uns zum Schwingen zu bringen. Er war kein pathologischer Lügner; er war Lügner aus Eigenschutz.

Seine Fingerspitzen waren warm wie meine Überforderung, als sie meine Schläfen fanden. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre es unmöglich gewesen, ihn zu hinterfragen. Er wollte mich berühren und ich wollte berührt werden. Vielleicht platzte die Blase seiner emotionalen Unnahbarkeit an der physischen Grenze, Haut-zu-Haut. Die irrationalste Hoffnung war die stärkste; Trost, den er mir spendete, wurde Trost für ihn selbst.

Harry lebte wohnungslos. In Manchester. Er trug dasselbe dünne Kleidungsstück jeden Tag, hütete es wie seinen Augapfel. Panik bei einem umgestoßenen Wasserglas. Sein Stipendium alles, woran er festhalten konnte.

Ich schloss die Augen.

Harrys Finger logen so konsequent wie er, gaukelten mir vor, niemand hätte mich je zuvor an ihrer Stelle berührt. Er zitterte, als elektrisierte ich zurück. Mein Atem setzte aus, als die Finger entzogen wurden. Sofort waren meine Augen wieder offen. Harry stolperte zurück, weiter als zuvor.

»Louis, es tut mir leid, ich kann nicht- es tut mir so leid.« Er drehte mir den Rücken zu, stapfte los, weiter zu den Häusern. Sicherheit im Wohnen, die er nicht besaß. Ich ließ noch nicht zu, dass die Erkenntnis kalt in mein Blut sickerte. Stattdessen rannte ich Harry hinterher und schloss auf.

»Hey« Ich wollte nach seiner Hand greifen, aber ließ es sein. Berührungsbedarf seinerseits schien vorüber. Seine Beine legten ein beachtliches Tempo hin. Vielleicht hätte ich nie mit dem Fußball aufhören sollen. Er wollte mir entkommen. »Harry, ich denke, wir sollten darüber reden oder... Du kannst das nicht einfach so... Das ist gerade ganz schön viel.«

Er sah mich nicht mehr an. Es war Halloween, nur, dass er nicht in einer riesigen Menschenmasse verschwinden konnte. »Ich kann nicht darüber reden, Louis.«

»Du kannst!«, versicherte ich, ohne zu lange darüber nachzudenken. »Du kannst.«, schob ich sanfter hinterher. »Ich höre zu. Ich werde nichts tun oder sagen, das... Bitte, Harry, wir sollten jetzt nicht einfach weglaufen.« Als gäbe es ein Wir. Ich projizierte mich auf Harrys Leben und wusste es schon jetzt.

»Ich will das Thema wechseln.«

»Harry, bitte. Es tut mir leid, falls ich schlecht reagiert habe.«

Er schüttelte den Kopf. Bei seinem Tempo wären wir schnell zurück an der Straße. »Wir werden nicht darüber reden.«

Er war im Recht, oder nicht? Ich durfte mich ihm nicht aufdrängen. So falsch es sich auch anfühlte, nichts zu tun. »Es tut mir leid, Harry.«

Und dann seufzte er. Fast wäre ich wieder in meinen Bewegungen festgefroren. Es war, als hätte ich nie zuvor ein Seufzen gehört. Harry seufzte und der tiefste Herzschlag der Erde setzte einen Moment aus. »Du hast nichts falsch gemacht.«, erklärte er. »Es war mein Fehler. Doppelt. Fast. Ich hätte es nicht sagen dürfen.«

Ich wollte protestieren, ihm versichern, dass er mit mir reden konnte. Aber er brauchte Rücksicht, wenn schon keinen Beistand. Er wollte nicht darüber sprechen. Ich sollte ihm seinen Raum lassen. Es brauchte eine letzte Ermahnung, um mich davon abzuhalten, mich nochmal bei ihm zu entschuldigen. »Soll ich dich zur Bushaltestelle bringen?«, fragte ich stattdessen. Ich kannte seine Antwort. Sobald wir die feste Straße erreicht hatten, würde er sich von mir trennen.

Ob er die letzte Nacht überhaupt in einem Hotel verbracht hatte? Es graute mir vor jeder anderen Vorstellung.

»Nein«, antwortete er – Überraschung. »Du solltest zurück in die Wärme.«

›Und du etwa nicht?‹ Ich konnte es nicht aussprechen, weil ich nicht wusste, ob es einen Ort der Wärme für ihn gab. Gestern hatte es flüssige Lawinen geregnet und ich hatte ihm nicht mal meinen Regenschirm gelassen. Wie konnte das Leben so unfair sein?

»Ich weiß, du hast kein Handy, Harry, aber...« – als hätte Harry mit ein paar Worten alles mit Sinn durchleuchtet. »Aber vielleicht...«, es gab kein Vielleicht. Oder einen Weg, über den ich einfach Kontakt zu ihm aufnehmen könnte. Als würde ihm das irgendwie helfen. »Du weißt ja, wo ich wohne.«, bot ich schließlich schwach an. »Falls irgendwas sein sollte.« Gut gesagt für jemanden, der noch mindestens 24 Stunden in Hemsworth bleiben würde.

»Wenn ich dich brauche, werde ich dich finden.«, bestätigte er. Die Worte hallten in meinem Kopf nach, als hätte ich sie schon hunderte Male gehört. Aber es schien unmöglich, dass er mich jemals genug brauchen könnte, um mich finden zu wollen.

Mein Zwerchfell verkrampfte sich. Ich bekam Angst vor Seitenstechen. Wie erbärmlich. Nur weil Harry ein bisschen schneller lief. Ziemlich schnell, um genau zu sein. Aber ich konnte nicht einfach zurückfallen. Es war kein Problem der Ausdauer, das wusste ich. So lange das Fußballtraining auch zurückliegen mochte; sein Effekt war nicht komplett verloren. Die Kälte war es, die mir zwischen die Rippen schnitt. Meine Lunge wollte klirren vor Verrat, aber weil sie das nicht konnte, und gleichzeitig mit Harrys Tempo mithalten musste, zog sich mein gesamter Brustkorb zusammen.

Aber der Weg war nicht mehr weit und Harry wurde nicht langsamer. Ich wollte etwas sagen, aber wusste nicht, was. Ich musste seinen Wunsch respektieren, das Thema ruhen zu lassen, aber jedes andere Wort wäre ebenso surreal und unsensibel. Und Denken funktionierte so wenig wie Reden. Schock hatte sich in meinen Nerven eingenistet. Es gelang mir erfolgreich, nicht daran denken zu wollen, wie unser Marsch durch den Schlamm den Saum meiner Hosenbeine verkrustete, und deswegen genau daran zu denken. Harry tiefer als bis zu seiner Hüfte anzusehen traute ich mich immer noch nicht. Eine einzelne ungeschönte Wahrheit anerkennen zu müssen, war schon zu viel.

Insgesamt brauchten wir wohl kaum mehr als vier Minuten für die letzte Seite der eingezäunten Grasfläche. Rekordzeit. Und wie vorausgesehen, blieb Harry stehen, sobald wir die Straße überquert hatten und auf dem Gehweg standen. Als er mich wieder ansah, wollte ich es ihm um seinetwillen verbieten. Vielleicht hörte er auf meine stummen Gedanken, denn sein Blick fiel zwischen uns zu Boden. Ich folgte ihm nicht. Wenigstens die Steine unter seinen nackten Füßen sollten ihm gehören.

»In welche Richtung gehst du?«, fragte er und dieses Mal wirklich; ich kannte die Frage, kannte die Antwort.

Ich deutete auf den Straßenverlauf in meinem Rücken. »Wo ich hergekommen bin.«

Kein Element von Überraschung, als er in die entgegengesetzte Richtung zeigte. »Ich werde dort lang gehen.«

Ich nickte, weil ich nichts anderes tun konnte. »Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Harry...«

»Tschüss, Louis.« Er trat einen Schritt zurück. Immer das gleiche. Wieso war Kommunikation so unmöglich?

»Hab einen guten Rückweg, Harry.« Meine Wünsche zählten nichts.

»Du auch, Louis.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. Meine Mundwinkel zögerten, als wäre das letzte zu lange her. Beinahe hätte ich es für Einbildung gehalten, aber Harrys Lippen verbogen sich zu einem ebenso unechten Lächeln. Es erreichte weder Augen noch Nasenflügel noch Grübchen. Dann hatte er sich weggedreht. Sofort war seine irre Geschwindigkeit von eben zurückgewonnen. Er war um die nächste Straßenecke verschwunden, bevor ich auch nur die Chance gehabt hatte, meinen Blick loszureißen.

Meine Füße wollten sich ebensowenig von der Stelle bewegen. Ich löste Harry mit dem Blick auf meine Schuhe ab, deren Sohle mal weiß gewesen war. Meine Nan würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie das Ausmaß der Folgen meines Spaziergangs sah.

Das Ausmaß der Folgen meines Spaziergangs. Übelkeit rührte sich irgendwo in meinem Rachen. Ein Ausmaß, das weit über früher oder später verkrustenden Schlamm an Gummisohlen hinausging. Das Telefonat mit Zayn war abgewürgt worden. Mehr als alles andere wollte ich ihn jetzt zurückrufen und seinen Namen schreien, oder mich in die Arme meiner Mum werfen.

Ich hatte Harry gehen lassen.

Zum vielleicht ersten Mal hatte er mir große Splitter einer vollen Wahrheit geboten, und ich hatte ihn gehen lassen.

Untätig, weil überraschenderweise doch ich der Naivere von uns beiden war.

Ich hielt die Luft an, bis sich alles in mir zusammenzog. Aber niemand konnte Schmerzen teilen. Schmerz konnte sich nur addieren und niemals Unendlichkeit erreichen. Nur mehr und mehr und mehr und mehr werden. Mein Schmerz und seiner und deiner.

Meine Hände hingen taschenlos in der Kälte, als ich mich zurück auf den Weg zum Haus meiner Nan machte. Ein Haus. Mit materiellen Dächern und Wänden. Um mich vor allem zu schützen, was mir je meine Ignoranz nehmen könnte.

›Ich muss lügen.‹

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Ich habe die ersten 500 Wörter heute, am 2. November geschrieben, datumsgetreu zur Geschichte (:
Mal sehen, wann es online kommt, nach dem Beenden der nächsten (zwei) Reservekapitel...

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