𝐗𝐗𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Nach drei Wochen ›Richard III‹ fühlte es sich mittlerweile wie ein persönlicher Angriff auf meinen Literaturgeschmack an, Shakespeare weiterhin zu betreten. Ich hatte nicht mal Zayn, mit dem ich mein Leid teilen konnte.
Also nutzte ich die besudelte Zeit im Seminarraum, um auf das Dokument meines Konzeptentwurfes zu starren, das mittlerweile immerhin schon Name, Datum, Kurs und Matrikelnummer trug. Nach einer halben Stunde gab ich meinen Anspruch zur gezwungenen Erschaffung wahrer Kunst auf und nutzte meine eingerosteten Französischkenntnisse aus der Schule, um einen Konzeptentwurf zu einem semibekannten Gedicht von Paul Valéry 1:1 zu kopieren, übersetzt. Perfekt, Aufgabe erledigt.
Nach dem Kurs schrieb ich Edeline Fernsby, einer Theater-und-Englische-Literatur-Studentin, die direkten Zugang zum Kostümarchiv der Theaterfakultät hatte. Sie hatte mich bereits mit dem beigen Anzug ausgestattet, aber für den letzten Feinschliff fehlte mir noch eine Fensterglasbrille. An Tagen wie heute war ein Kontakt wie Edeline viel wert. Sie musste eine Menge zu tun haben. Ihre Antwort orderte mich noch nach meinem letzten Kurs zu den Archiven. Sehr gut. Das sollte also alles soweit funktionieren.
Mit einem Buch in der Hand schlenderte ich in Richtung meiner nächsten Pflichtveranstaltung. Ich hatte nur 15 Minuten Pause, aber das war genug. Auf dem Weg fand ich eine freie Bank und ließ mich nieder. Während die linke Hand zwischen den Buchseiten nach dem versunkenen Lesezeichen suchte, beförderte die andere eine verschlossene Metallbox aus meinem Rucksack zum Vorschein. Ich benötigte beide Hände, um sie zu öffnen. Mit einem Zahnstocher begann ich, die mundgerechten Stückchen kalter Lasagne zu essen. Ein bisschen ekelhaft, aber besser als Magengrummeln in Text und Theorie.
›The Goldfinch‹, kaum eine Woche alt; ich hatte es am Tag der Erstveröffentlichung gekauft und in vier Tagen – mehr Nächten als Tagen – durchgelesen. Ein weiterer Grund für mein aktuelles Nachzügeln mit allen Uniaufgaben. Das erste Buch seit langem, das ich direkt nochmal las. Danach konnte Zayn es sich ausleihen. Aus einer kleinen Tasche kramte ich einen Bleistift, um eine Zeile zu unterstreichen, die ich beim ersten Lesen weiß gelassen hatte. In 21 Jahren hatte ich längst gelernt, ablenkende Geräusche um mich herum auszublenden, wenn ich las.
Deswegen zuckte ich zusammen und wollte kurz an Einbildung festhalten, als ich meinen Namen hörte.
»Hallo Louis!«
Natürlich, nichts ahnend in seinem Erscheinen wie immer, war es Harry. Nur, dass ich ihn heute zum ersten Mal strahlen sah, Mund bis Augen. Ich zwang mich zum Ausatmen. Zayns Worte krempelten immer noch mein Inneres um. ›Sehr, sehr guter Sex.‹ Aber wenn ich Harry so lächeln sah, hell und glücklich wie die Sonne, sehnte ich mich vielleicht nach noch einem kleinen Bisschen mehr als nur sehr, sehr gutem Sex.
Mühevoll orderte ich meine Gedanken zur Disziplin. Es konnte doch nicht sein, dass mein Verstand und verräterisches Blut nicht in der Lage waren, sich zusammenzureißen.
Ich schuldete uns beiden Selbstbeherrschung und lächelte zurück – was, wie sich herausstellte, gar nicht so schwer war, mit den tiefen Grübchen weich in meinem Blickfeld.
»Harry, hi.«, begrüßte ich ihn endlich und schob den metallenen Deckel zurück auf die Box. Irgendwie schien es falsch, etwas Fett- und Tomatensaucenhaltiges in der Präsenz von Harrys schneeweißem Kleid atmen zu lassen.
Es fühlte sich an wie ein erstes Mal, als Harry sich unaufgefordert neben mir auf die Bank setzte. Ich wusste nicht, was unpassender war; in sein hübsches Gesicht zu starren oder es zu vermeiden.
»Ich freue mich sehr, dich zu sehen!«, verkündete er, die Euphorie nicht aus seinen Augen erblassend. Was war seine Intention? Wollte er mich einfach nur kennenlernen, wie er gesagt hatte? War er so unschuldig wie er aussah? Oder war ihm etwa wirklich so lange wie Zayn klar gewesen, worauf es alles hinauslaufen sollte? Sehr, sehr guten Sex? War das hier seine neue Taktik, die ihm das beste, oder schnellste, Ergebnis versprach? Mich zehn Tage lang hängen lassen, Frustration und Fragezeichen aufbauen, um dann mit Paukenschlag wieder aufzutauchen? Zählte er auf meine Verzweiflung? Würde ich sie ihm geben? Nein, das konnte ich nicht tun. Noch nicht. Wenn er mir noch ein Zeichen gab, ein halbwegs eindeutiges Zeichen, würde ich den ersten Schritt wagen. Vielleicht würde er mich zu sich einladen, nachdem er bei mir gewesen war. Vielleicht sollte ich mich zu ihm einladen.
»Wir sind uns eine Weile nicht über den Weg gelaufen.«, gab ich zu Bedenken, um möglicherweise eine Art von Antwort auf meine Fragen zu finden.
Seine Mundwinkel rutschten, wie auf Eis. Na toll, so schnell hatte ich das scheinbar bedingungslose Glück von seinem Gesicht gewischt. »Ja, das tut mir wirklich leid, Louis! Ich hatte...sehr viel zu tun.«
Ich nickte verständnisvoll. »Ist ja nicht deine Schuld, dass wir uns nicht begegnet sind.«, bemerkte ich lässiger, als ich die Sache eigentlich gesehen hatte. »Das Alexander-Samuel's ist groß! Und ich war auch verhältnismäßig wenig hier.« Das stimmte nicht wirklich. Ganz vielleicht hatte ich den ein oder anderen Tag so sehr Zeit geschunden, dass ich so lange wie möglich auf dem Campus bleiben konnte. Und ganz, ganz, ganz vielleicht war ich am Dienstag sogar durch ein paar der Ausstellungsgallerien der Kunstfakultät geschlendert. Natürlich nur, um beeindruckende Kunst zu genießen.
Ein bisschen hatte ich wirklich auf die Werke geachtet. Aber es schienen noch nicht genügend Wochen vergangen zu sein, um schon Projekte von Erstsemestern auszustellen. Ich hatte nirgendwo ein ›Harry Harry‹ gefunden. Und den Besitzer des Namens leider auch nicht.
Aber der saß jetzt direkt neben mir.
»Also«, erinnerte ich mehr mich selbst an die Rückkehr zum aktiven Gespräch, »deine letzte Woche war anstrengend. Unistress?«
»Ich musste einige Angelegenheiten regeln.«, erklärte er vage genug, um mir zu signalisieren, dass er nicht genauer darüber reden wollte. Na gut, das war sein Recht. Hörte sich aber nicht allzu sehr nach Uni an.
»Nimmst du dir heute eine kleine Auszeit?«, fragte ich weiter, in der Hoffnung, genügend das Thema zu wechseln, um ihn gesprächiger zu stimmen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich wieder Zayns Stimme im Ohr. War es möglich, dass Harry keinen allzu großen Wert auf reibungslose Kommunikation legte, weil das nicht sein Endziel war – weil es nur auf etwas Körperliches hinauslaufen sollte und genau das war sein Signal?
Nein, nicht möglich. Oder? Dafür stellte er zu viele willkürliche Nachfragen.
»Eine Auszeit?«, hakte er nach, und klang nicht, als wäre das sein Plan gewesen. Vielleicht auch nicht so ein gutes Thema, wenn er wirklich in so großem Stress war. »Nimmst du dir eine Auszeit, Louis?«
»Ja.« Meine Finger positionierten das Lesezeichen zwischen den Buchseiten neu. Dann schloss ich den Roman. »Ich gehe zu einer der Studi-Partys.«
Seine Augen waren groß und aufmerksam und grün. »Partys?«
Anscheinend fand er heute wieder genug Erfüllung darin, einfach nur zu wiederholen, was ich sagte. Was die Gesprächsführung für mich nicht unbedingt einfacher machte. »Ja, drei wurden offiziell organisiert, von der SU. Und ich bin sowieso eher nicht so der Typ für Hauspartys. Ich gehe zu der in der Academy.«
Wie so oft schien sein Gesicht ein wenig verständnislos. Und, wie so oft, machte das eigentlich keinen Sinn. Vielleicht war das einfach einer seiner Gesichtsausdrücke, und ich kein Meister in Mimikanalyse.
»Das heißt...« – als würden sich die einzelnen Buchstaben wie in einer von Nialls Rechnungen langsam zu Worten zusammensetzen – »dass du heute keine Zeit hast..?«
Ich gab mein Bestes, meinen Blick von seinen Lippen zu reißen. Hing wirklich die Andeutung in der Luft, von der ich dachte, dass sie in der Luft hing? So gut wie möglich entspannte ich meine Muskeln. »Wieso?«, fragte ich mit all der Neutralität, die ich in mir finden konnte.
Das Zögern stand ihm von Augenbrauen über Nasenflügel zu Mundwinkeln ins Gesicht geschrieben. Es war genauso schwer für ihn, die Worte auszusprechen. »Ich würde gerne Zeit mit dir verbringen, Louis.« Am Ende hörte es sich doch fast wie Freiheit an.
Ich wusste, dass eine schnelle Antwort von Bedeutung war. »Jetzt habe ich noch einen Kurs, heute Nachmittag geht es leider gar nicht und...naja, abends gehe ich zur Party.« Ich ließ die offene Option in den zwanzig Zentimetern zwischen uns atmen. Dann überwand ich mich. Harry hatte auch seinen Schatten übersprungen. »Ich weiß, du hast gesagt, du bist im Stress. Aber, falls sich vielleicht doch ein Zeitfenster öffnet... Vielleicht hättest du ja Lust, mit zur Party zu kommen?«
Ich wartete. Er überlegte, sehr deutlich, aber ich konnte keinen einzigen Gedanken von seiner Haut pflücken. Ich hatte noch nie jemanden zu einer Party eingeladen. Abgesehen davon, dass ich als Teenager nicht unbedingt der größte Partygänger gewesen war – nicht, dass das jetzt groß anders wäre – war es bei Partys immer dasselbe; man wusste, mit wem man ging. Zayn, Cal, Jem, Francis, einmal sogar Danny. Und Ardie, aber ich war mir nicht sicher, ob der zählte. Zayn, Zayn, Zayn.
»Ich würde gerne Zeit mit dir verbringen.«, wiederholte Harry schließlich. »Heute Abend.«
Ich lächelte – was sonst? – und versuchte, mir die Freude nicht zu Kopf steigen zu lassen. »Also möchtest du kommen?«
Er nickte, und strahlte Unsicherheit aus, aber die Wellenberge seines und meines Zögerns schienen verschoben genug zu sein, um wenigstens mir ein bisschen Mut zu verleihen. Oder vielleicht war das auch die Wärme in meiner Brust bei dem Gedanken an heute Abend.
Ich schob den Roman in meinen Rucksack. »Das freut mich, Harry! Wirklich. Aber ich muss jetzt leider gleich wieder los. Meine Pause ist um.« Mit der rechten Hand deutete ich in die Richtung, in der sich so etwas wie ein winziger Menschenstrom gebildet hatte.
Wieder nickte Harry, aufmerksam. Er hatte kein Handy. Ich müsste jetzt mit ihm eine Uhrzeit ausmachen, und mich dann daran halten. Was war realistisch? »Denkst du, halb zehn wäre gut?«
»Halb zehn?«
»21:30 Uhr?«
Endlich lächelte er wieder ein bisschen. »Ich denke, das wäre gut.«
Eine Verabredung. So einfach konnte es sein. »Super. Weißt du, wo die Academy ist?«
Er blinzelte schnell, wie in Zeitraffer. »Du wirst dort sein? Um 21:30 Uhr?«
Nickend gab ich ihm meine Bestätigung. »Ich kann vor dem Eingang auf dich warten.«
»Wenn du da bist, werde ich dich finden.«, versicherte er. Er klang entspannt. Ich fragte mich, wie er hinfinden würde, falls er noch nie bei der Academy gewesen war. Wie navigierte man zuverlässig ohne Handy? Würde er heute Abend mit einer großen Stadtkarte vor dem Gesicht entfaltet ankommen?
»Okay, super. Na dann, Harry. Ich muss leider wirklich gehen. Aber wir sehen uns später..?« Ich schulterte meinen Rucksack, beugte mich zu dem Bleistift hinab, den ich zwischen uns auf der Bank platziert hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich versucht, in falsch-kalkulierter Bewegung sein dünnes Kleid zu streifen. Das Kribbeln meines kleinen Fingers gegen scharfe Splitter meiner Würde. Aber ich hob einfach nur den Bleistift auf.
»Wir sehen uns um 21:30 Uhr.« Er hob seine Hand, winkte abgehackt, beobachtete seine Finger dabei. »Tschüss, Louis!«
Ich erwiderte sein Winken. »Tschüss, Harry.« Um nicht an seinem weich-marmornen Gesicht hängen zu bleiben, drehte ich mich weg. Es war okay.
Auch als ich mich in die letzte noch ganz freie Reihe zwischen tristen Wänden schob, wollte das Lächeln nicht von meinen Lippen fallen. Zum ersten Mal, seit ich Harry kennengelernt hatte, wusste ich genau, wann ich ihn wiedersehen würde.
✩
Der Anzug passte erstaunlich gut. Ich mochte nicht die Statur von Gregory Peck haben, aber anscheinend – glücklicherweise – fast die desjenigen, der Atticus Finch für eine vergangene Semesterabschlussaufführung von ›To Kill a Mockingbird‹ dargestellt hatte. Edeline hatte mir zufrieden davon berichtet, als ich sie zuerst nach Hilfe mit dem Kostüm gefragt hatte.
Davon ausgehend, dass sie als Theater-und-Literatur-Studentin vertraut mit der 1962-Filmadaption und dem Charakter war, hatte ich gehofft, sie würde mich mit einem halbwegs farb- und jahrzenhtgetreuen Anzug ausstatten; es war immerhin kein ausgefallenes Kostüm. Aber als ich ihr meine Idee mitgeteilt hatte, vor einer Woche, hatte sie triumphierend gegrinst, und war kaum fünf Minuten später wiedergekommen, meine bescheidenen Vorstellungen meilenweit übertreffend.
Der Roman war als größeres Projekt aufgeführt worden, hatte sie berichtet, nicht nur der Roman; spezifisch aufgegriffen die erste, berühmte Verfilmung. In Playmaking nahm man anscheinend nicht nur die Texte und alles, was an ihnen hing, auseinander, sondern widmete sich auch den praktischen Aufgaben des Theaters, wie Kostümdesign.
So kam es also, dass ich ein so originalgetreues Atticus-Finch-Outfit trug, dass ich mir glatt selbst auf die Schulter klopfen wollte – auch wenn mein Teil damit aufgehört hatte, dass ich eine Entscheidung für meinen heutigen, verkörperten literarischen Charakter getroffen hatte.
Es war ein echter Seersucker-Anzug, dreiteilig, in karamellbraunen und weißen Baumwollstreifen. Farbgenaugkeit war laut Edeline die offensichtlich größte Schwierigkeit bei dem Rekreieren von Kleidung aus Schwarz-Weiß-Filmen. Aber sobald ich die Weste über meinem weißen Hemd zusammengeknöpft hatte, war mir unumstößlich bewusst gewesen, dass die beige Stoffillusion die einzig richtige war. Sogar die Krawatte hatte das exakte Muster, dünn aufgestickt, wie das im Film. Dafür hatte ich mich ein bisschen schwer getan, sie zu binden. Auch Schuhe hatte ich meine eigenen wählen müssen, und da war es auf ein nicht ganz so passendes Paar schwarze Vans hinausgelaufen, weil ich keine formalen Schuhe besaß. Die Hose war ebenfalls einen Tick zu lang. Und auch die Haare hatten mich wieder etwas herausgefordert; meine waren ein wenig kürzer als die von Gregory Peck in den frühen Sechzigern. Aber die Brille saß perfekt auf meinem Nasenrücken.
Alles in allem ein voller Erfolg.
Jetzt musste nur noch Harry auftauchen.
Zugegeben; es war noch zwei Minuten vor unserer verabredeten Zeit. Und meine größte Stärke war Pünktlichkeit auch nicht. Aber mein Zwerchfell genoss den Wellengang der elektrischen Aufregung, die gelegentlich sogar bis unter meine Kopfhaut reichte. Dann musste ich die Augen schließen und meinen Hals dehnen, bis sie sich mit einer zarten Gänsehaut wieder über meinen Rücken verzog.
Die Musik war laut, obwohl bereits gedämpft durch die scheinbar vibrierenden Wände der Academy. Ausgelassene Stimmen aus bunten Gesichtern und dem Überall kommend, schraubten meine Gedanken auf einen primitiven Grad zurück, an dem ich sie in meinem Kopf resignieren spüren konnte. Gefühle.
Ich würde den Abend mit Harry verbringen. Ob er Alkohol trank? Zu selten stellte ich mir die Frage von allein, zu häufig ging ich davon aus, dass es natürlich so war, aber bei Harry schien es naiv, einfach Dinge wie Alkoholtoleranz vorauszusetzen, wenn er nicht mal ein Handy besaß, oder Schuhe. Obwohl...wenn ich ihn irgendwann in Schuhen sehen würde, dann wohl heute Abend.
Wie auch immer. Zayn würde Harry kennenlernen, endlich. Zwar konnte das vielfältig ausgehen, aber es war immer gut, eine Vertrauensperson mit anderem Blickwinkel zu haben. Außerdem hatte ich seine objektive Meinung ja schon gehört, bevor er ihn getroffen hatte. Entweder lief es darauf hinaus, dass wir einander aus dem Weg gehen würden, oder sehr, sehr guten Sex.
Und da Harry mich heute selbst wieder aufgesucht hatte, blieb wohl nicht mehr viel übrig.
Manche Menschen bezeichneten Partys als den Dadaismus der Amatonormativität, und damit die Klassik der Aromantik.
Mit anderen Worten: nirgends war ein besserer Ort auf der Suche nach einem One Night Stand als eine Party.
Möglicherweise hatte Danny die Wortwahl benutzt. Als er Würgreiz-tief in mir gewesen war.
Ich beobachtete das Umschlagen der Uhr, und in der nächsten Sekunde sah ich Harry.
Noch nie, vielleicht nicht mal bei unserer ersten Begegnung, hatte sein Kleid mich mehr überrascht. Spitzenbesetzt, reinweiß und fallend wie ein Kristallstrom sah es aus wie immer. Auch der Rest von ihm. Ich schluckte die Verwunderung hinunter. Damit müssten wir das Gespräch nicht gleich beginnen. Schon jetzt sah er skeptisch aus.
»Hey Harry!« Ich winkte ihn zu mir herüber, mit gehobener Stimme, dabei hatte er mich längst ins Visier gefasst.
Seine Lippen bewegten sich, bereits scheinbar verloren, aber ich konnte nicht auch nur den Schatten seiner Stimme vernehmen. Alles andere war zu laut für Harrys Worte.
Ich lächelte ermutigender und kam ihm entgegen. »Harry, hey, schön, dass du hier bist!« Ich wollte ihn umarmen, aber ließ es sein. Die eher schmalen Schultern sahen angespannt aus. Sein Blick flog zuckend über die vielen Gesichter, das hohe Gebäude, das bunte Chaos, wie ein im Glas gefangenes Insekt.
Dann fand er mich wieder. »Louis«, sagte er wohl nicht viel lauter als eben, aber dieses Mal war ich ihm nah genug. »Wieso trägst du eine Brille?« Er starrte mich an, als wäre ich Teil des Chaos. War ich ja auch. »Du hast großartige Sehstärke.«
Es musste Ironie sein, aber es gelang mir noch immer nicht, sie zu erkennen. »Ja«, grinste ich und deutete an mir hinab. Ich würde nicht fragen, ob er erkannte, wer ich war. Das war eher so den penetranteren Leuten vorbehalten. Ein gutes Kostüm sollte für sich sprechen. »Nicht schlecht, oder?«, fragte ich stattdessen und strich mir die ungewohnt gescheitelte Strähne aus der Stirn.
Aber Harry schien kein Lächeln auf die Reihe zu bringen. Er sah einfach nur verwirrt aus. Oder verstört. Als irgendwo hinter mir eine Bierflasche zerbrach – was fast stärker durch den Geruch als das Klirren verkündet wurde – zuckte er zusammen. »Louis«, sagte er wieder, als wäre mein Name alles, woran er sich gerade halten konnte – wenn meine Persönlichkeit schon von meinem Aussehen verraten worden war. »Wieso haben die Menschen bunte Haut? Und weiße Augen? Wieso sieht niemand aus wie im Tempel?«
Ich verpasste einen Atemzug. Der Ort, von dem all diese Fragen kamen, blieb meinem forschenden Blick verwehrt. Ich wusste nicht, welchen Tempel Harry meinte, aber die ›bunte Haut‹ und ›weißen Augen‹ waren offensichtlich. Natürlich trugen alle Kostüme. Hatte Harry es wirklich nicht gewusst? Sah er deswegen aus wie immer, und, als hätte er einen Geist gesehen? Nicht schwer am heutigen Tag.
»Harry, es ist Halloween!«
Er rührte sich nicht. »Was?«
»Ja, heute ist der 31.!« Ich lachte ungläubig. »Hast du es wirklich nicht gewusst?«
Er schien wie in Honig getaucht. »Ich wusste... Nein.«
Ich grinste. Es fühlte sich wie eine Wendung an, die mich nicht überraschen sollte. Ich hatte Harry zu einer Halloween-Party eingeladen, ohne dass er wusste, dass Halloween war. Aber trotz meiner anfänglichen Überraschung fiel Harry hier, zwischen all den mehr oder weniger fantasievollen Kostümen, in seinem Kleid vermutlich weniger auf als normalerweise auf dem Campus – und das, obwohl er vergessen hatte, sich zu verkleiden.
»Naja, macht nichts.«, versicherte ich. »Wollen wir rein gehen?«
Wieder sah ich das Zögern, und ich wollte ihm anbieten, dass wir auch noch eine Weile draußen bleiben konnten, aber da hatte er schon zugestimmt. »Ja. Hineingehen.«
Also schoben wir uns durch zum Eingang. Harry wich den kleinen Grüppchen aus, als könnte ihr Airbrush und Zigarettenrauch ihn umbringen. So lebte es sich vermutlich in einem weißen Kleid.
Als wir uns an das Ende der kurzen Schlange reihten und vor meinem inneren Auge ein blütenweiß gekleideter Harry unter Schwarzlicht tanzte, realisierte ich die Bedeutung von Harrys leeren Händen.
»Hey, ähm...«, ich lehnte mich dichter an sein Ohr, »Du hast kein Portemonnaie mit, oder?« Verunsichert sah er auf seine Finger und den Kleidsaum hinab. »Ist nicht schlimm!«, schob ich schnell hinterher. »Eintritt sind nur 2£. Kann ich dir gerne auslegen.« Demonstrativ knöpfte ich mein Jackett auf und zog einen der losen 10£-Scheine aus der Innentasche, in der sich noch 20 Pfund, mein Handy, Wohnungsschlüssel und Ausweis befanden.
Das war das möglicherweise größere Problem als Geld. Harry konnte sich nicht ausweisen. Er war zwar 22, aber als ich ihn kennengelernt hatte, hätte ich ihn eher für 19, Anfang 20 gehalten. 19-Jährige konnten mit 18-Jährigen verwechselt werden und 18-Jährige mit noch Jüngeren. Hoffentlich würden wir überhaupt weiter als bis zur Eingangstür kommen. Harry durfte also nicht jung oder verunsichert aussehen – und das ließ sich zumindest teilweise vermeiden, solange ich ihn nicht darauf hinwies, dass er keinen Ausweis dabei hatte. Falls er darauf mit meinem kleinen Hinweis nicht sowieso schon gekommen war.
Aber wir hatten Glück. Den Menschen vor uns – und uns selbst – nach zu urteilen, schienen die Türsteher Ausweiskontrollen für sinnlos zu halten, weil sie viele Gesichter sowieso nicht deutlich erkennen konnten. Hoffnungslos, sie mit jugendlichen Passbildern abzugleichen.
So kamen wir problemlos durch die Einlasskontrollen. Harry wollte seinen Arm kurz zurückziehen, als er einen schwarzen Stempel in kleinen Buchstaben auf das Handgelenk gedrückt bekam, aber der Stempler war schneller. Nickend wünschte er uns viel Spaß.
»Garderobe..?«, fragte ich über die Schulter hinweg und ließ den Blick dann wieder über die Deko an den Wänden und der Decke wandern. Spinnenweben, die mehr aussahen wie Watte und kleine fluoreszierende Geister schwebten zwischen den schmalen Gängen des Eingangsbereichs. »Brauchen wir nicht, oder? Du hast nichts zum Abgeben. Ich habe meine Jacke, aber die ist Teil meines Kostüms.« Keine Garderobe also. Ein Batman streifte meine Schulter im Vorbeigehen. Dann eine Gruppe von Mumien, durch deren Klopapier-Banden ich mehr als ein Stück Unterwäsche sehen konnte. Gewollt oder nicht war mir etwas unklar. Ich sammelte meine Konzentration von Verband-artigen Wickeleien zurück hinter meine Stirn. Wir standen mitten an einer Kreuzung zwischen Hauptein- und -ausgang, Garderobe, Erdgeschosstoiletten, Barpersonalzugang und Tanzfläche.
Wir sollten hier weg, und eigentlich gab es nur eine wirkliche Richtung. Ich blinzelte Harry nochmal aus dem Augenwinkel zu. Er sah noch überforderter aus als eben schon, der unruhige Blick wollte einfach nicht halten. Es schien einen Tick zu viel zu sein für ihn.
»Harry«, versuchte ich, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wenn ich wollte, konnte ich mir die Ankündigung der morgigen Heiserkeit schon jetzt in meiner Kehle vorstellen. »Ich glaube, ich kenne einen etwas entspannteren Ort. Hast du Lust, aufs Dach zu gehen?«
Ich konnte förmlich sehen, wie er die Worte von meinen Lippen ablas. »Dach?«, versicherte er sich, und klang hoffnungsvoller. »Keine Decke?«
»Freier Himmel.«, bestätigte ich. In diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, den kuriosesten Jungen Manchesters an meiner Seite zu haben.
Nicht, weil eine frühe Party ihn überforderte. Auch nicht, weil er nicht mitgekriegt hatte, dass heute Halloween war. Sondern weil ich es noch nie erlebt hatte, dass jemand so unglaublich falsch und richtig an allen Orten aussah, an denen er sich befand.
Aus Gewohnheit und für Schnelligkeit und, um ihm beizustehen und, weil es mich danach verzehrte, griff ich nach Harrys Hand. Seine Finger waren heiß, wie meine vermutlich auch. Ich zog ihn in Richtung des Hauptraums, der Tanzfläche. Jeder Schritt echote stärker in meiner Brust durch Antwort des Basses in der Musik. Ich kannte das Lied nicht, pulsierender Pop aus den Neunzigern, aber in Schlangenlinien führte ich Harry weiter voran.
Direkt neben der Bar platzten wir in das Leben der Party in Wellen. Oder eher; die Party platzte um uns herum. Wie immer fühlte es sich zwar seltsam an, sich zu Körper-vibrierender Musik nicht zu bewegen, aber ebenso seltsam, es zu starten und doch zu tun. Schon jetzt roch es nach Nebelmaschinenrauch, synthetischen Perücken und jahrzehntealter Kinderschminke schmelzend unter kaltem Schweiß. Es war wirklich Halloween.
Ich zog Harry so seitlich wie möglich an der für halb zehn beeindruckend vollen Tanzfläche vorbei. Zum Glück gab es mehrere Stockwerke. Ohne stehenzubleiben, orientierte ich mich am fernen DJ-Pult, das wie ein farbwechselnder Sonnenaufgang das Leben all der synchronisierten Rhythmen zu sein schien. Ich erspähte den Eingang zum Treppenhaus, der von künstlichem Efeu verhangen war, mit grell leuchtenden Tropfen schimmernden Kunstblutes besprenkelt. Es war derselbe wie letztes Jahr.
Harry an meiner Hand wurde gemächlich schwerer, aber ich schob es auf die verlangsamende Geschwindigkeit. Es war wirklich voll. Mit den kreisenden Lichtern wirbelte sich die Frage in meinen Verstand, wie ich gerade für Harry aussah, von hinten. Mit den Haaren und der Kleidung eines Fremden. Wenn er sich in einer Weile entspannt hatte; würde ihm der Anzug gefallen? Vielleicht könnte er die Brille mal aufsetzen...ich war neugierig, wie er damit aussehen würde. So unbeholfen wie ich, niedlich?
Plötzlich war Harry so schwer geworden, dass nicht nur er, sondern auch ich stehenblieb. Das Gewicht eines unsichtbaren Magnetfeldes in meiner Handfläche. Ich drehte mich zu ihm um.
Es war Harry; Braune-Locken-volle-Lippen-antike-Züge-Harry. Noch immer hielt er meine Hand, oder ich seine, aber fast hätte ich ihn nicht erkannt. Wie eine Wachspuppe, eine Wasserspiegelung, ein Bild vor geschlossenen Augen sah er aus wie er selbst, nur verkehrt. Die Haut unter dem giftgrünen Licht war weiß geworden, wie die tanzenden Leichen und Gespenster um uns herum. Seine Knochen schienen zu schreien, als hätte die Verstörung sein Gesicht gesprengt.
Eine Halloween-Premiere zahlloser vergangener letzter Oktobertage; ich hatte Angst.
Um uns herum waberten Musik und Reuelosigkeit, alle paar Sekunden elektrisiert durch die Klimax eines Liedes, das auch Harry sicher nichts sagte. Der Name des Momentes, der einzige den es in seiner Hölle geben konnte. »Harry?«
Ich sah hinab auf unsere Füße, als läge dort die Falle, in die wir offensichtlich hineingetappt waren. Aber ich fand nichts als meine sündhaften Vans unter den zu langen, hochgekrempelten Hosenbeinen, Harrys nackte Zehen und den klebrigen Untergrund, glänzend von verschüttetem Alkohol.
Seine Stimme riss mich zurück zu seinen Lippen und den zersprungenen Porzellanwangen, Stirn in Scherben. »Ich kann nicht- «, stolperte seine Zunge wie meine Finger beim Krawattebinden. »Es geht nicht... Ich muss-«
Eine neue Melodie, fast Lungen-zermürbender als die alte, flocht sich zwischen die verklingenden Noten. Harry entzog mir seine Hand und legte die Arme um seinen Körper, als könnte er die Schallwellen so am Morden hindern. Ich starrte seinen Hals an, den weichen Kehlkopf, weil sein Gesicht keine Möglichkeit mehr war. Sollte ich ihm sagen, dass wir sehr dicht am Treppenhaus waren, und dort der Schall und die Partyathmosphäre gedämpft waren? Wie schnell wir danach auf dem Dach sein könnten? Oder ihn lieber zurück zum Hauptausgang führen?
Bevor ich die Entscheidung abwägen konnte, hatte Harry sie getroffen. Surreal schnell hatte er sich umgedreht. Für ein Millisekunde seilte sich eine Plastikspinne über seinen Haaren ab, dann setzte er sich in Bewegung. Ich kam nicht hinterher. Harry schien sich noch mehr in ein Gespenst zu verwandeln, als er vor mir durch den Friedhof aus Schultern hindurchschwebte.
Ich nahm die meisten fremden Schultern mit, die Brille auf meiner Nase wackelte trotz guter Passform. Obwohl es nur Fensterglas war, hatte ich das Gefühl, Harrys Hinterkopf vor meinen Augen verschwimmen zu sehen. Er schob sich neben der Bar in den Flur zum Ausgang, ich verlor ihn aus dem Blick.
Ich hörte meinen Namen, von hinter mir, aber es musste Einbildung sein. Die Musik war zu laut, ich hätte nur verstehen können, was jemand direkt neben mir in mein Ohr ruft. Der Grund, weswegen ich Harry nicht hinterherrief. Ich drehte mich nicht um, sondern folgte ihm weiter. Die Krawatte schnürte das Vertrauen zu meiner Luftröhre ab.
Erst als ich draußen stand, die länger gewordene Schlange passierend und die Musik in meinem Rücken wie ein Parfüm ausblendend, wusste ich, dass ich ihn verloren hatte. Die Menschengrüppchen waren nicht zu groß oder zu viele, um Harry zu schlucken. Er war verschwunden. Verschlungen von einer Halloweennacht, vor der ich ihn nicht gewarnt hatte. Ich hatte ihn überfordert. Eine Nachfrage mehr und er wäre womöglich noch hier. Er hatte hier sein wollen. Er wäre geblieben. Dinge wären passiert, der einen oder anderen Art, hätte ich nur für einen kurzen Moment aufgehört, in meinem eigenen Kopf zu leben.
Wunderbar. Kaum war Harry wieder in mein Leben marschiert, hatte ich ihn erneut abgeschüttelt.
Ich kontrollierte trotzdem noch die Toiletten – aller Geschlechter – dann Garderobe, Bar und Tanzfläche ersten Stockwerks, zweiten, drittens und schließlich sogar das Dach. Es war von orangen Tüchern verhangen und geschnitzte Kürbisse mit vulgären Grimassen lachten über meinen Misserfolg. Harry war gegangen.
»Louis, hi!« Dieses Mal war die Stimme unbestreitbar. Und bestimmbar. Ich drehte mich um, bis ich Zayns Augen gefunden hatte. Niall lief hinter ihm her, verließ gerade die eingelassene Metalltür. »Wer hat dich denn gejagt?«, fragte Zayn mit mühelosem Grinsen und blieb direkt vor mir stehen. »Sind Sie es etwa, Gregory Peck?«
Ich lächelte tapfer, für ihn. »Hi, ihr beiden.«
Auch Niall hatte uns erreicht. »Hey, Louis. Du siehst gut aus! Wer bist du?«
»Atticus Finch.«, berichteten Zayn und ich unison. Zayn selbst steckte in einem Ensemble schwarz-grüner Kleidung. Ein Zylinder thronte auf seinen passend schwarzen Haaren. Er war der Zauberer von Oz.
Er sah zwar gut aus – natürlich – aber es war ungewohnt, ihn in einem Kostüm nicht komplementär zu meinem eigenen zu sehen. Es war das erste Jahr seit vielen, in dem wir uns nicht gemeinsam verkleidet hatten. Letztes Jahr als Jay Gatsby und Nick Carraway, als Folgen von Sherlock Holmes und Doctor Watson, Captain Hook und Peter Pan, Dr. Jekyll und Mr. Hyde – einige besser, andere schlechter umgesetzt. Aber dieses Jahr hatte weder Zayn von ›The Wonderful Wizard of Oz‹ noch ich von ›To Kill A Mockingbird‹ abweichen wollen. Keinerlei Akzeptanz, dass beide Bücher nicht unbedingt ein auf uns zugeschnittenes Duo boten. Außerdem war der Zauberer von Oz kein zufriedenstellend kostümierbarer Charakter, aber das hatte Zayn einfach ignoriert. Optik über Quellentreue. Was für ein Verbrechen.
Ich verdrängte Harry weiter in meinen Hinterkopf. Es war Halloween, ich hatte meine Chance verpasst, und vermasselt. Jetzt konnte ich ihn nicht kontaktieren. Wie immer mit ihm, würde ich warten müssen. Ich war so ein Idiot.
»Was ist mit dir, Niall?«, fragte ich brav und musste das Interesse trotz brennender Vorwürfe gegen mich selbst nicht einmal spielen. Er trug ein knallrotes T-Shirt über einer gelben Hose. Das war's.
Zayn stöhnte mit dramatischem Augenrollen, bevor Niall mir antworten konnte. »Ich habe es bis zur letzte Minute versucht.«, klagte mein bester Freund. Das Problem war mir längst bekannt. Zayn hatte Niall tagelang bearbeitet und versucht, ihn zu verschiedensten literarischen Charakteren zu überreden; die finale Wahl der Kleine Prinz. ›Er ist blond und liebt die Sterne.‹, war ein zugegebenermaßen überraschend gutes Argument gewesen.
Aber offensichtlich hatte Niall sich dagegen entschieden. »Ich bin Winnie-the-Pooh.«
Jetzt kam das Lächeln ehrlich. Erst Lächeln, dann Lachen. Ich lachte Zayn aus, nicht Niall. Da hatte er seinen literarischen Charakter.
»Du hättest dir wenigstens Ohren ausdenken können.«, bemerkte Zayn – zweifellos zum mindestens zehnten Mal heute.
Aber Niall ließ sich nicht beeindrucken. Er war die gute Person, von der Zayn nicht glaubte, dass er sie verdienen könnte. Winnie-the-Pooh und der Zauberer von Oz? Klang nach einem Traumpaar für mich. Halloween versank in seiner tiefsten Dunkelheit. Was konnte schon gegen das Licht von Kinderbüchern ankommen?
»Wir haben dich unten gesehen.«, berichtete Niall. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein Bier in der Hand hielt. Zayn ebenso. Innerhalb weniger Minuten hatte ich vergessen, dass es eine Party war, eine der größten des Jahres. »Du bist sehr, sehr schnell rausgelaufen. Aber du hast uns nicht gehört.«
Mein Hinterkopf war immer noch mein Hinterkopf. Wie sollte es möglich sein, etwas vor mir zu verstecken, wenn ich das Versteck selbst gewählt hatte? Obwohl Niall mir dafür leid tat, sah ich Zayn an. »Dann habt ihr Harry gesehen!«
»Harry?!« Da war Zayns Antwort, obwohl ich nicht mal eine Frage gestellt hatte. »Harry war hier? Ich hätte ihn sehen können?«
Nichts hing davon ab, ob Zayn ihn gesehen hatte oder nicht, aber meine Enttäuschung war trotzdem feucht-heiß in der Innenseite meiner Wangen. »Du hättest ihn sehen sollen. Er war direkt vor mir.«
Noch zehnmal enttäuschter als ich wandte Zayn sich zu Niall. »Hast du ihn gesehen?«
Niall verzog sein Gesicht. Klassischer Pooh. »Ich kenne ihn nicht.«
Ich versuchte, mich nicht daran zu erinnern, dass ich Harry und Niall am selben Tag kennengelernt hatte. Als würden neue Menschen an manchen Tagen vom Himmel fallen. Zayn stupste meinen Oberarm an.
»Ist er noch hier? Seid ihr euch einfach so begegnet?«
Kurz bildete ich mir ein, die Musik des obersten Stockwerks würde meine Füße zum beben bringen. Auch das Dach füllte sich langsam. Die Academy würde später womöglich aus allen Nähten platzen. Alle Menschen hier, außer Harry.
»Er ist weg. Ich will nicht darüber reden. Lasst uns den Abend genießen, bitte.« Ich wollte darüber reden, mit Harry. Würde er es hören, wenn ich meine Entschuldigung von hier über die Dächer Manchesters schrie? Ich würde es hören. Ich, ich, immer nur ich. Egoistische Menschen waren wahrscheinlich die einzigen, die es wagen würden, sich für selbstlos zu halten. Mit der ganzen Kraft meiner eigenen Bedürfnisse hatte ich Harry von mir gestoßen.
Zayn sah mich zweifelnd an. Als wäre ich kein literarischer Charakter, liebevoll und gerecht, sondern selbst ein Buch; berechenbar, leicht zu vergessen, plump. Als Ständen die Worte auf meiner Stirn: Ich habe alles kaputt gemacht.
Es war Niall, der mir zu Hilfe kam. »Mir wird langsam kalt hier oben.«, verkündete er mit Blick auf eine in Grau verschwimmende Gänsehaut. Zayn und ich waren beide zu warm gekleidet für später; mehr angezogen für einen Kostümwettbewerb als hitzige Tanzmassen. Aber jetzt, unbewegt, ohne einen einzigen Tropfen Schweiß auf dreifach kombinierter Haut, fror Niall noch in seinem T-Shirt. In elementarem Gelb und Rot sah er aus wie ein weiterer der flackernden Kürbisse, Farben gespalten durch die Güte seiner Seele. Niall könnte um Mitternacht durch die ganze Academy wirbeln; nicht ein Skelett oder Höllenspalt würde ihn zu fassen kriegen. Winnie-the-Pooh.
»Dann lasst uns reingehen.«, seufzte Zayn. Ich rechnete nicht damit, dass er Nialls Hand nahm, und er tat es nicht.
»Ich brauche was zu trinken!«, beschloss ich, um die Stimmung zu lockern, und weil es stimmte. Es würde nicht die Party werden, die ich mir sechs Stunden lang erträumt hatte. Aber dafür die, mit der ich anderthalb Wochen lang vorher gerechnet hatte.
»Halloween kommt aus Irland, Niall, oder?«, fragte ich entschlossen, als wir uns zu dritt auf den Weg zurück zur Tür nach drinnen machten. »Es ist da, um alles Schlechte zu verbannen, richtig?«
»Mit den Kostümen sollen böse Geister vertrieben werden, glaube ich.«, war Nialls sanfte Korrektur. In dem Kostüm würde er ganz sicher tausende böse Geister vertreiben. Aber ich war auch nicht viel furchteinflößender.
Das machte aber nichts. Vielleicht war alles, was ich heute tun musste, tanzen, bis meine eigenen Geister mich nicht mehr einholen konnten. Wenigstens für eine Nacht.
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Vielleicht sollte ich langsam aufhören zu schreiben und mein Leben zu sabotieren.
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