𝐗𝐕𝐈𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Schwärze verkündete mein Urteil. »Akku leer.«
Ich sah ihn aus dem Profil, aber ich wusste, dass Zayn nur das linke Auge öffnete. Er verhielt sich manchmal asymmetrisch. »Hm.«, brummte er als Antwort. Schwarze Wimpern senkten sich zurück zu ihren Schatten.
»Kannst du bitte empörter sein?«, fragte ich mit der Empörung, die ich verlangte. »Jetzt kann ich keine Musik mehr hören.«
Zayn grinste mit geschlossenen Augen. »Du Armer.«
»Hey.« Ich stupste ihn sanft von der Seite an. »Nicht zynisch sein.«
Das Grinsen wurde noch breiter. »Du bist so scheinheilig, Louis.«
»Ich habe nur einen weichen Kern unter der harten Schale.«, verkündete ich mit einem zarten Hauch von Ironie – doch gerade jetzt war es zu nah an der Wahrheit. Zayns geschlossene Augen gaben meinen Emotionen eine Freiheit, die ich gerade nicht besitzen wollte. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange.
Der Bus fuhr über eine Bremsschwelle und ein metallischer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Vorsichtig tastete ich die Wärme mit meinem kleinen Finger aus. Er war rot von verwaschenem Blut. Kraftlos sank mein Kopf gegen Zayns Schulter. Es war zu viel heute.
»Du kannst mein Handy haben, wenn du willst.«, murmelte Zayn. »Für Musik.«
»Danke.«, flüsterte ich, aber jetzt hatte ich auch keine Energie mehr für Jeff Mangums Wortmysterien. Eine weitere Unebenheit in der Straße schüttelte uns durch; unsere Köpfe gegeneinander. »Au«, ich zuckte hoch. Das Braun von Zayns Augen offenbarte sich müde.
»So kurz vor dem Ziel müssen sie uns nochmal so foltern?«, fragte er mürrisch und rieb sich bedacht auf seine Haare die Seite seines Kopfes. Als er mich anblinzelte, tanzte Schrecken über die Haut seiner warmen Wangen. »Louis. Alles okay?«
Ich brauchte Luft, und Dunkelheit, aber hier drin gab es nichts von beidem. Bevor Zayn mein Gesicht durchanalysieren konnte, griff ich hektisch nach dem Rucksack zu meinen Füßen und kramte nach der halbvollen Wasserflasche. Das Blut in meinem Mund wurde sauer. Nicht weinen.
Zittrig nahm ich einen Schluck des fahlen Leitungswassers vom Leeds Busbahnhof. Es machte nichts besser. Zayn setzte sich mit geradem Rücken auf. Ich starrte aus dem Fenster. Farblose Randviertel Manchesters wachten kalt über die schwindende Sonne, die schon viel zu früh unterging. Es wurde Winter.
Die Wasserflasche wand sich aus meinen Fingern. Mit metallischem Quietschen drehte Zayn sie zu. Ich hörte, wie sie dumpf auf den Boden meines Rucksacks zurückkehrte. Zayns Finger schlossen sich um meine. Ich starrte so fest ich konnte auf den mürben Backstein hinter den Fingerabdruck-Mustern der Scheibe.
»Lou.«, flüsterte Zayn. Der Bus war voller, als er an einem Sonntagabend sein sollte. Ich versuchte, alles Blut aus meiner Wange zu saugen. Vielleicht würde es die Welt ein bisschen besser machen, wenn es nicht aufhören würde, meine Zähne zu benetzen. Ihre Augen ein bisschen heller. »Alles wird gut.«
Wahrscheinlichkeiten waren nichts als Folter durch Zeit. Unklarheit der Zukunft die hübscheste Lüge.
Konnte Wahrheit jemals grausamer als Unwissen sein?
Ich bezweifelte es stark.
Zayn vergaß das schnell, wenn es um Hoffnung ging.
Gleichzeitig hielt er meine Hand, um sie zu halten. Für die Gegenwart, keine potentielle Zukunft. Ich atmete durch einen zu schmalen Spalt zwischen Ober- und Unterlippe aus, fast pfeifend. Ich hatte Angst, aber das würde ich nicht aussprechen. Was, wenn meine Albträume mich belauschten?
»Ich habe so sehr an Manchester geglaubt in den letzten Wochen.«, hauchte ich, auch wenn wir beide wussten, was für ein winziger Teil der vollen Wahrheit es war. »Aber was bewegt sich? Nichts.«
»Vielleicht haben sie keine freien Plätze.«, erwiderte Zayn in meiner Lautstärke. Seine Stimme war so sanft, dass ich ihm am liebsten meine Hand entziehen wollte. Er vertraute meinen Emotionen zu sehr.
»Seit über einem Jahr?«, fragte ich mit Verachtung, die gefährlich war.
»Vielleicht«, begann Zayn wieder – weil er seine Spekulationen jetzt womöglich verstanden hatte, »ist es nicht gut, so oft dort zu sein..? Vielleicht wäre es besser...vielleicht wäre es andersrum besser. Dass sie sehen, dass nur Manchester möglich ist.«
»Ich bin nicht nur dort, um etwas zu beweisen, Zayn.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Das war ein dummer Gedanke.« Ehrliche Reue, die er mir nicht schuldete. Zayn hatte mir noch nie irgendwas geschuldet. Irgendwer musste aus mir unerklärlichen Gründen entschieden haben, dass ich einen besten Freund verdiente, der perfekt für mich war.
Ich atmete so tief es ging ein. Vorsichtig wandte ich mich vom Fenster ab. Zayn sah nicht mehr müde aus, ein ganz bisschen schläfrig, aber so endlos aufmerksam. Die braunen Augen waren eine Menge, aber nicht zu viel. Zittrig atmete ich aus. »Wir sollten nach Doncaster fahren, Zayn. Zu deiner Familie.«
Er ließ meine Hand nicht los; er wusste, wieso ich fragte. Das ›nach diesen Monaten?‹ stand in seinen Augenbrauen. Aber er nickte.
Ich schluckte all die Panik hinunter. Es konnte nicht lange dauern, bis sie in meiner Speiseröhre wieder hochklettern würde. Themenwechsel, schnell. Ich hatte das Blut mitgeschluckt.
»Wie läuft es mit dem Wohnheim in letzter Zeit?«, fragte ich so munter wie möglich. »Keine Mäuse mehr gesichtet?«
Die herbsterblassende Stirn legte sich in Falten, seine Nasenflügel Tänzer des Unverständnisses. Der Griff um meine Hand wurde fester. »Louis. Du weißt, dass du jederzeit aufhören kannst, oder? Immer. Sogar dein Dad müsste- Du könntest natürlich auch bei uns bleiben, so lange du das willst. Du musst das mit dem Studium nicht durchziehen. Du hast ein Recht, auf zu viel Stress zu reagieren. Oder zu viel...was auch immer. Zu viel alles. Du kannst jederzeit Stopp sagen.«
Kleine Krallen tanzten auf meiner Zunge. So schnell war es gegangen. Wieder schluckte ich, aber dieses Mal half es nicht. »Es lenkt mich ab.«, erklärte ich mit den Worten, die der Wahrheit am nächsten kamen. »Ich lese Bücher und tippe mir die Finger wund. Im Stundenplan versinken. Das ist alles, was ich gerade will.« Ich nickte, um meine eigene Antwort abzusegnen. »Es lenkt mich ab.«
Fast konnte ich das Seufzen spüren, das Zayn in seinem eigenen Hals unterdrückte. »Das ist... Bitte denk nur daran, dass du mit mir reden kannst, Louis, wann immer-«
»Ich weiß, Zayn. Danke.« Nachdruck, aber Zayn wusste, was ich wusste. Ich vertraute ihm so sehr, wie man einem Menschen vertrauen konnte, nur ging es manchmal nicht um Vertrauen. Trotzdem war die Gefahr, dass mein Körper mich in dieser Sekunde verraten würde, vorüber. »Aber jetzt wäre mir das mit der Ablenkung wichtiger.« Ich ließ seine Hand los. Befreiung war nur mit einer kleinen Windung möglich, aber dann faltete er die Hände in seinem Schoß.
Es gefiel ihm nicht, aber es gab nichts, das er hätte tun können. Der Bus hatte an einer Haltestelle gehalten und ließ frostige Herbstluft um unsere Knöchel tanzen. Zayn wandte den Kopf in Richtung der geöffneten Türen. Eine junge Frau hatte einen großen Rucksack geschultert, der sicherlich mehr wog als ich. Sie fiel förmlich von der letzten Stufe auf den wackelig gepflasterten Weg. Hoffentlich war sie zuhause.
Ein Zischen; die Türen schlossen sich. »Habe ich Niall erwähnt?«, erkundigte Zayn sich leise, sein Kopf folgte erst nach der Stimme. »Dass er mich abholt?«
Ich zwang mich, eine Augenbraue hochzuziehen. »Wann? Von wo abholen?«
»Jetzt, Interchange. Ist das okay? Ich kann ihm sagen, dass er nicht kommen soll. Ich kann dich nach Hause bringen.«
Ich schüttelte den Kopf, ohne genau zu wissen, worauf. Mehrere Dinge. »Nein. Bitte geh mit Niall.«
Zayn sah nicht überzeugt aus, natürlich nicht. Also kitzelte ich ein flaches Lachen aus meinem Inneren.
»Und du willst mir erzählen, dass ihr nicht zusammen seid? Er holt dich an einem Sonntagabend vom Bus ab!« Mit der Fingerspitze tippte ich doppelt auf Zayns Oberschenkel. Er trug eine Hose aus sandfarbenem Cord. Eigentlich nur angemessen, wenn man bedachte, wo wir hinfuhren.
»Wir sind nicht zusammen.«, bestätigte Zayn.
»Und was muss passieren, damit ihr es seid? Wie viel mehr müsst ihr euch noch wie ein Paar benehmen, um es selbst zu erkennen?« Es war eine angenehme Vorstellung, dass Zayns unkompliziertes Liebesleben meine Probleme in den Schatten stellen konnte. Ein niedlicher Junge mit schwach blondiertem Haar und t-lastigem Akzent? Heirate mich, Niall.
»Wir müssen das Gespräch darüber führen.«
»Ja, schon klar.« Ein weiteres Mal fiel mein Finger auf seinen Oberschenkel. »Aber was muss passieren, damit ihr das Gespräch führt? Ihr küsst. Ihr habt Sex. Ihr holt einander aus dem Stadtzentrum ab, obwohl du einfach bis vor deine Tür weiterfahren könntest. Wer ist zu schüchtern – du oder er?«
Sein Blick sagte etwas von Ich-will-mein-Sexleben-nicht-in-diesem-öffentlichen-Bus-besprechen, aber gleichzeitig zeigte er, wie bewusst ihm war, dass genau dieses Thema gerade womöglich unsere einzige Chance auf Ablenkung war. Er seufzte fast zu leise für meine Ohren. »Keiner von uns. Für den Moment sind wir zufrieden mit der Situation. Außerdem haben wir keinen Sex.«
Um ihm einen Gefallen zu tun, senkte ich die Stimme noch weiter. »Das ›-sex‹ in ›Oralsex‹ steht für Sex, Zayn.«
»Ein einziges Mal.«, stellte er mit ernstem Blick klar.
»Ihr datet ja auch erst seit wenigen Wochen. Ich sehe Potential zur Steigerung.«
»Außerdem«, überging Zayn meinen Kommentar, »gibt es einen Unterschied zwischen Blowjobs und Oralsex.«
Na also. Das war doch eine angemessene Ablenkung. »Erzähl mir mehr.«
Verwirrt verzog er das Gesicht. Das trübe Licht über unseren Köpfen war zu schwach, um den Schatten von Zayns Nase zu malen. »Du weißt, was ich meine. Aktivität, Passivität, Hüften, bla bla bla.«
Das ›Bla bla bla‹ hatte er sich von mir angewöhnt – dabei war ich schon wieder dabei, es mir abzugewöhnen. »Ja, aber ist das die offizielle Definition von Oralsex? Glaubst du, Wikipedia würde dir Recht geben?«
»Glaubst du, es gibt einen Wikipedia-Eintrag zu Oralsex?«
»Natürlich.«
»Dann frage ich mich, wer den erstellt hat.«
Dieses Mal kam das Lächeln wirklich ehrlich. »Eine Person, die wahrscheinlich schon einem verwirrten Teenager ausgeholfen hat. Vielleicht war sie so weise, auch einen Link zu der Warhol-Filmographie zu hinterlassen.«
Fast unmerklich stieß sein Schuh meine rechte Wade an. »Vergiss diesen Kommentar ganz schnell wieder, bevor wir gleich den Bus verlassen.«
»Ich bin mir sicher, Niall würde gerne-«
»Untersteh dich, Louis.« Und wieder schenkte er mir seinen besten Ich-stehe-auf-den-heißen-Franzosen-also-ruinier-das-nicht-für-mich-Blick. Nur war es dieses Mal ein Ire. Wie aufregend.
»Ich werde brav schweigen.«, versicherte ich. »Das findet er schon noch raus, wenn ich betrunken genug bin.«
Zayn fuhr die Plastiknaht der Armlehne mit den Fingerspitzen entlang. »Daran habe ich keine Zweifel.«, seufzte er leise. Auf seinem Schoß lag dasselbe Sigmund-Freud-Buch wie vor zwei Tagen.
»Darf ich..?«, fragte ich mit schwebender Hand um Erlaubnis.
»Klar.« Zayns Kopf sank zurück gegen seinen Sitz. »Wenn du deinen gesunden Menschenverstand vergiften willst.«
»Ob ich den je besessen habe, ist streitbar.« Ich ließ ein Daumenkino der Seitenzahlen erblühen. 106; Ende. Die verlorenen Wörter wollten mein Gehirn nicht erreichen. Vielleicht war heute ein verlorener Tag. »Sind wir bald da?«, fragte ich – obwohl vorne ein Bildschirm mit all den Ankunftszeiten hing, und ich die Strecke schon unzählige Male gefahren war.
Das waren wahrscheinlich die Gründe dafür, wieso Zayn mir nicht antwortete. Seine Augen waren wieder geschlossen. Er hatte mich alleine gelassen, mit Sigmund Freud und einem Bus fremder Menschen. Manchester wurde immer heller, und älter. Wir näherten uns dem Zentrum. Für eine Sekunde konnte ich mir einbilden, dass der graue Himmel sich mit blutigem Orange vermischte – und mich wie Charles Dickens fühlen. Ich ließ meinen Kopf ebenfalls gegen die Kopfstütze fallen. Sanft stieß ich Zayn mit meinem Ellenbogen an.
»Hey.«, flüsterte ich. »Willst du mein Harrison Ainsworth sein?«
Wieder das linke Auge. Wenig neblige Skepsis. »Dein Ainsworth? Wer wärst du? Dickens?«
Ich nickte und verkniff mir das Grinsen. »Selbstverständlich.«
»Du willst der Dickens von uns beiden sein? Louis, ich bitte dich.« Er pflückte mir das dünne Buch aus den Händen. Jetzt mit zwei offenen Augen. »Ich sag ja, dass es deinen gesunden Menschenverstand vergiftet. Du bist viel zu verklemmt, um Dickens zu sein.«
»Ach. Und du etwa nicht?«
Zayn zuckte die Schultern. »Lass Harry deinen Harrison Ainsworth sein. Der Name stimmt schon mal.«
»Ich bezweifle, dass er mit vollem Namen Harrison heißt. Außerdem hat er das Gegenteil einer Ainsworth-Persönlichkeit.«
Mit dem Rücken rutschte Zayn höher auf seinem Sitz. »Dann habe ich eine bessere Besetzung. Namensmäßig. Dich. Ihr teilt wirklich eure Namen.« Er zwinkerte mir spielerisch zu. »Außerdem wärst du romantisch genug.«
»Ich will nicht Ainsworth sein.« Auf meiner Zunge spürte ich bereits die Samtigkeit, die ankündigte, dass ich ein Wort bald oft genug gesagt hatte, um es in einen unsinnigen Brei zu verwandeln. Ainsworth-Ainsworth-Ainsworth-Ainsworth-Ains-worth-Ain-swor-thains-worthains?
»Du bist so wählerisch, Lou. Aber du hast Glück; ich habe einen Ausweg.« Seine Mundwinkel zuckten verschwörerisch. »Weißt du, wie Niall heißt?«
Neugierig musterte ich seine dunklen Augen. »Nicht James!«
»James!«, grinste Zayn; er sagte es weich.
Aufgeregt schüttelte ich sein Handgelenk. Ein Armband aus kleinen schwarzen Perlen schlang sich darum. »Dein Freund komplettiert die Dreifachbesetzung von Ainsworth! James William Harrison; die drei Alter Egos!«
»Er ist nicht mein Freund, aber ja. Cool, oder?« ›Cool‹ war eines der Wörter, die Zayns Donny-Akzent aufdeckten. Vielleicht hatten wir es ein wenig zu oft benutzt, als wir Kinder gewesen waren. »Deswegen habe ich ihn ausgesucht.«, erklärte er, ohne die Ironie zu betonen.
»Schon klar. Nimmst du das nächste Mal einen Charles?« Ich schälte ihm das Buch wieder aus den Fingern. »Oder weißt du was? Wie wäre es, wenn wir Picasso zusammenstellen? Wusstest du, dass er vierzehn Vornamen hat? Hatte.«
Mit hochgezogener Augenbraue schlüpfte Zayn in einen seiner Jackenärmel. »Nein. Aber das hört sich nach einem anstrengenden Liebesleben für mich an.«
»Komm schon, Z. Das würdest du doch wohl schultern!« Auch ich griff nach meiner Jacke. Ich fand sie auf dem Boden zu meinen Füßen anstatt im Fach meines Rucksacks, in dem ich sie eigentlich vergraben hatte. Zayn verdrehte nur die Augen über meine Worte. Ich lächelte. »Naja, wenn du das nicht willst, wirst du Niall wohl doch zu deinem Freund machen müssen. Induzier besser schnell das entscheidende Gespräch.«
»Manchmal bist du wirklich nervig, Louis. Ich dränge dich auch zu nichts mit deinem mysteriösen Harry. Weißt du; die ganzen Fragen über ihn würden sich auch erledigen, wenn du sie einfach stellen würdest.«
Leise schnalzte ich mit der Zunge. »Machen wir uns hier bitte nichts vor.«
»Tu ich nicht. Deswegen sage ich ja, dass du nicht Dickens wärst.«
In der Luft schüttelte ich vorwurfsvoll meinen Zeigefinger umher. »Immer noch unverschämt. Aber na gut. Lass uns das Thema wechseln. Kommst du morgen früh zu Chaucer? Dann kann ich dir das Essay mitbringen, das ich gefunden habe. Für Modernismus.«
»Das wäre wirklich super, Lou. Danke.« Nur mit den Spitzen seiner Finger fädelte er das untere Ende des Reißverschlusses ein. »Manchmal denke ich, dass ich ohne dich nur einen halb so guten Schnitt hätte.«
Ich checkte die Taschen meines Rucksacks und ließ mein Handy in die kleinste hineingleiten. Zayns Buch platzierte ich großzügig zurück auf seinem Schoß. »Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
Mit hellem Klicken des Blinkers bog der Bus auf eine dunkle Spur des Interchange ein. Ich ließ Zayn seinen Blick draußen auf den Pflastersteinen verlieren. Es reichte, wenn einer von uns nach Niall Ausschau hielt. Ich überprüfte ein letztes Mal, dass wir nichts liegen ließen. Mit halb gebeugten Knien schoben wir uns von unseren Sitzen auf den Gang. Zayns Finger fuhren durch die schwarzen Haare. Er überlegte, sie abzurasieren. Hinter mir stand ein Junge, der mir nicht mal bis zur Hüfte reichte. Er hatte den ersten Teil der Fahrt Autokennzeichen verlesen, den zweiten geschlafen. Mir würde Schlaf auch gut tun.
»Wann kommt dein Anschluss?«, fragte Zayn über seine Schulter hinweg. Freud baumelte zwischen unseren Oberschenkeln. Er lächelte, aber nicht für mich.
»Keine Ahnung. Muss ich auf der Tafel gucken. Bald, hoffentlich.« Ich gab mir alle Mühe, nicht zu klingen, als müsste er mir nochmal anbieten, mich nach Hause zu bringen. Der Bus wurde langsamer und meine Knie härter. Ich versuchte, nach meinem Körperschwerpunkt zu suchen, damit er mich nicht verraten würde. Die Räder stoppten und er tat es trotzdem. Zayn bekam meine Brust zu spüren, doch dann konnten wir aussteigen.
Nialls Handydisplay leuchtete noch, aber das Gerät schwebte einsam an seiner Seite, als er uns mit unschuldigem Winken begrüßte. Er stand ein Stück hinter den Menschen, die sich um die Bustüren versammelt hatten, um einzusteigen. Nachdem die kleine Menge sich für uns geteilt hatte, war Nialls Handy wieder schwarz.
Er lächelte sanft. »Hi.«
Ich wartete auf nichts, und rechtmäßig, denn nichts passierte. Auch Zayn lächelte. »Hi.«
»Hi, Niall.«, begrüßte ich ihn, weil anscheinend Platz für Louis gelassen wurde. Das war okay, aber anders hätte es mir vielleicht besser gefallen. Doch natürlich konnte ich nicht erwarten, dass Niall und Zayn meine Gedanken lasen.
»Ihr seid fast«, Niall warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr über unseren Köpfen, dicke Plastikzeiger. »fünf Minuten zu früh.«
Ich nickte zufrieden. »Entspannter Sonntagsverkehr wahrscheinlich.«
»Ja.«, bestätigte Zayn, aber es war nicht besonders schwierig zu erkennen, dass ihn dieser Gesprächexkurs nicht tiefergehend interessierte. »Leere Straßen, volle Busse und Bahnen. Wie schön es ist, ein Student zu sein.«
»Wie war es denn?«, fragte Niall, aber Reue brauchte keine Sekunde, um in seinem Gesicht aufzublitzen. »Also, die Fahrt, im Bus. Die Rückfahrt.«
Zayn rettete uns alle. »Gut.«
Gute Fahrt, guter Ausflug, guter Tag, gutes Leben. Wenn es doch so einfach wäre.
»Wie kommst du zurück, Louis?«, erkundigte Niall sich, bevor ich die Chance hatte, alles mit Worten zu ruinieren.
»Bus.«, verkündete ich mit Endgültigkeit. Niall suchte fragend nach Zayns Blick; Zayn versteckte sein Nicken nicht mal. Darauf hatte ich jetzt oft genug bestanden.
Die beiden waren irre genug, den fast einstündigen Weg zu sich nach Hause zu laufen. Sicher würden sie gemeinsam in einer ihrer Wohnungen übernachten. Sonst würde der ganze Fußweg noch irrer sein. Bei Zayn, hoffte ich für beide. Bei Niall, hoffte ich für Zayn.
»Okay. Mein Bus ist in sieben Minuten schon da.« Ich zeigte auf die Uhrzeit aus leuchtenden, orangen Punkten. »Gutes Timing!« Ich zwang mich zu einem Lächeln, als hätte ich diese zwei Buslinien nicht schon ein Dutzend mal direkt nacheinander benutzt.
Niall schob das Handy in die Tasche seiner dunklen Jacke. »Wir warten mit dir.«, beschloss er sofort.
Aber ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr könnt ruhig schon gehen. Der Weg ist lang genug! Nutzt jede Minute, die ihr habt.« Klang ich auch nur auf irgendeine Weise überzeugend? »Und ich kenne deinen Stundenplan nicht, Niall, aber Chaucer ist für Zayn und mich morgen in frühster Frühe.«
Das geduldige Lächeln ließ sich nicht beirren. »Die paar Minuten machen uns nichts, oder, Zayn?«
Doch ich konnte auf meinen besten Freund zählen. »Ehrlich gesagt denke ich, dass Louis recht hat.«, erklärte er mit klebrigem Blick auf der Anzeigetafel. »Lass uns aufbrechen, Niall. Louis wird so oder so vor uns zuhause sein. Nicht wahr, Lou?«
Er hatte meine Gedanken nicht gelesen. Er hatte einfach so dieselben.
»Wahr, Z.«, versicherte ich so schnell ich konnte. »Bitte geht schon los.«
Niall schien nicht überzeugt, Zayn dafür umso ruhiger in seiner Überzeugung. Das war alles, was zählte, das wusste ich.
Hätte ich Niall alleine warten lassen? Vermutlich nicht. Alles war fair. Er wollte tun, was er konnte. Das war die Phase, bevor er merkte, dass es nichts gab, das er tun konnte. »Es wäre wirklich kein Problem für-«, setzte Niall an, aber Zayns ringbestzte Finger erstickten seine Stimme, als sie sich um seine schlossen. Blondes Haar fiel in Nialls Augen, als er untätig auf die Berührung hinabstarrte.
»Wir sehen uns morgen, Louis. Komm gut nach Hause.« Zayn nickte mir leicht zu, Energietransfer, es klappte nicht ganz. Ich lächelte dankbar.
»Ihr auch. Habt einen schönen Abend.« Ich trat einen Schritt zurück, als wäre ich derjenige, der einen Fußweg antreten würde.
Aber Zayns Taktik hatte Wirkung gezeigt; Nialls Augenbrauen hatten sich entspannt. Er ließ sich von Zayn den Spiegelschritt zurückziehen. »Tschüss, Louis.«, verkündete er am Rande mehr als einer Frage, aber mein bester Freund hatte sein eigenes Vorhaben unter Kontrolle. Ich sah Nialls Rücken, bevor dessen Füße vollständig gefolgt waren.
Es war eine gute Möglichkeit zum Atmen. Aber was auch immer die Zauberkraft von Sauerstoff war; sie schaffte es nicht, sich vollständig in meinen Lungen zu entfalten. Hatte ich als Mensch versagt, wenn ich nicht mal die Grundlage für den endlosen Rest richtig auf die Reihe bekam? Ich starrte auf den Boden zu meinen Füßen und versuchte, mir einzubilden, ich sei der einzige Mensch am Interchange. Der einzige Mensch auf der Welt?
Nichts war verlockender und schlimmer als Einsamkeit. Verräterisch; vor allem, weil ich noch lange nicht alleine war. Aber vielleicht war es sicherer, mich selbst zu verlieren, bevor ich alles andere verlor. Ich nahm einen großen Schritt den hohen Bordstein hinunter, um zur gegenüberliegenden Bushaltestelle zu gelangen. Der Asphalt unter meinen Füßen war so milchig und dreckig, dass meine ebenso schwarzen Schuhe schwärzer waren.
Auf der anderen Seite hielt ich in meinen längsten Intervallen die Luft an, bis der Bus kam und ich mich in der vorletzten Reihe verschluckte. Mein Rachen brannte immer noch ein bisschen, als ich an Niall und Zayn mit ihren verflochtenen Fingern vorbeifuhr. Ich kannte Niall noch lange nicht gut genug, aber Zayn war kein Freund von unnötiger PDA. Vielleicht waren ihre munteren Lippen das, was mich an unsere Schulzeit denken ließ. Zayn würde es nicht hören wollen, aber er hatte mich direkt zu Jem zurückkatapultiert. Wenig hatte mein Leben so sehr durchgeschüttelt wie mein erstes gebrochenes Herz.
Was für ein Privileg es wäre, das als Maximum zu benennen.
Die Fahrt war nicht lang, der Fußweg zu meiner Wohnung ebenso wenig. Die Bloom Street war selten leise, schon gar nicht an Wochenendabenden. Also wählte ich eine Strecke quer über die großen Parkplätze, die eigentlich nicht existierte. Man brauchte kein großartiges Gehör, um den Trubel vor dem New York zu hören. Ich war zweimal selbst dort gewesen, aber auch das fühlte sich gerade wie ein verzerrter Traum an. Obwohl; vielleicht klangen flüssige Drogen verlockender, als ich mir voll eingestehen würde. Dabei wusste jedes Kind, dass Alkohol nichts für schlechte Momente war – nicht mal die guten eigentlich. Aber vielleicht war genau das der Grund. Wenn die Ursache verschwommen war, konnte man nur noch versuchen, die Symptome zu bekämpfen. Vielleicht wären Whiskey-Tränen nicht mehr meine eigenen.
Nein, keine Tränen. Weinen konnte ich noch nach dem Ende. Shel Silverstein hatte es gesagt, und vielleicht war ich noch im Mittelteil. Niemand, der Daniel Handler las, würde das Buch wirklich weglegen. Was war es, das wir an schlechten Enden romantisieren konnten? Ich musste es finden.
Ich fand etwas anderes. Mein nebliger Kopf war auf Weniges vorbereitet gewesen, aber am wenigsten auf Harrys Gesicht. Mittlerweile war ich nicht mehr überrascht, ihn in weißer Spitze zu sehen, nur wenn sich der graue Bordstein meines Hauseingangs sich gegen seinen Rücken drückte, sah die Sache anders aus. Mein Beine hatten ihren Dienst aufgegebenen, seine waren gerade vor ihm ausgestreckt, wie Waliyhas und Doniyas Barbiepuppen, mit denen Zayn und ich uns fast nie zum Spielen herabgelassen hatten. Meine Mum wäre in Ohnmacht gefallen, hätte sie Harry so gesehen; ohne Schuhe, ohne Jacke, in luftigem Kleid auf viel zu kaltem Stein.
Was machte er hier?
Ich konnte nicht umdrehen, auch wenn ich mich nicht bereit zu irgendeiner Form sozialer Interaktion fühlte – schon gar nicht einer, in der ich nicht den blinden Regeln gewöhnlicher Kommunikation folgen konnte. Es war Harry; ich würde mich auf die Worte konzentrieren müssen, die aus unverständlichsten Teilen seines Bewusstseins fliegen würden.
Ich konnte nicht umdrehen, auch wenn er mich noch nicht gesehen hatte. Er saß in meinem Hauseingang und so oder so würde ich herausfinden müssen, wieso. Vorgestern war er noch auf eine so unangenehme Weise aus meiner Wohnung gestolpert, dass ich für eine halbe, stockdunkle Nacht fast gedacht hatte, ich würde ihn nicht wiedersehen. Zayn hatte bei meiner Erzählung gegrinst und gesagt, Harry wäre die Art von Person, die ehrlich zu Gregor Samsa werden könnte – worauf ich beleidigt reagiert hatte, bis ich verstand, was er meinte. Jetzt bekam ich den Vergleich nicht mehr aus meinem Kopf.
Ich konnte nicht umdrehen. Was die Konsequenzen davon waren, wollte ich mir nicht vorstellen, aber ich zwang meine Knie zur Disziplin. Normal aussehen und auf ein Lächeln vorbereiten. Harry sah viel zu hübsch in falschen Kontexten aus. Ich konnte mir vor meinem inneren Auge bei bestem Willen nicht ausmalen, wie er jemals in einen Spiegel schaute. Er existierte einfach. Aber da war Haut unter der Spitze.
Ich richtete die Rucksackträger auf meinen Schultern, als könnte das ebenso meine wackeligen Emotionen richten. Heute war ein Leedstag gewesen und jetzt passierte etwas, mit dem ich nicht so ganz gerechnet hatte. Na und? Ich war doch wohl erwachsen genug, um auf meine Umwelt zu reagieren, anstatt mich von ihr überwältigen zu lassen. Das Kribbeln in meiner Brust konnte eine Menge bedeuten, und ich würde mich nicht darüber definieren. 63 Bloom Street, da wohnte ich. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Ich war nicht der einzige Mensch in der langen Straße, aber Harry sah auf, als wäre ich es. Die hellen Augen waren zu munter für einen Sonntagabend, besonders diesen, und zu grün für Manchester. Wo auch immer er herkam, es konnte keine Großstadt sein. Mit solchen Augen wuchs man nicht zwischen Beton und Abgasen auf. Ganz und gar unmöglich.
»Louis!«, lächelte er unverfroren, wie jemand, der nicht ein Fünkchen Verwunderung darin finden würde, wenn Menschen unangekündigt vor seinem Haus saßen. Langsam winkelte er die Beine an, blieb sitzen, kleinste Sandkörner zwischen seinen Zehen. »Hallo!«
Ich holte Luft und streckte die Hand aus, um ihm eine Hilfe beim Aufstehen zu sein. »Hi Harry.«
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