𝐗𝐕𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐇 ⋆ ☾
Louis' Überraschung hämmerte in meiner Brust, als er sah, dass ich vor ihm angekommen war.
»Du...«, setzte er an und kam mit einer sanften Bremsung vor mir zum Stehen. Glänzende Laufspuren der Tropfen, die auf ihn herabgefallen waren, auf seinem Gesicht. »Hey, wow! Welchen Bus hast du genommen?«
Keinen. Aber das durfte Louis nicht unbedingt wissen. »Den schnellsten.«, log ich. Mein Mund hatte sich noch lange nicht an die Lügen gewöhnt. Ich wusste nicht, ob er es jemals könnte. Das konnte ich nicht mal Liam fragen; der wusste nur, wie es ihn selbst zerstören würde.
Ich wollte die Lügen nicht. Zwar hatte ich Angst, den Himmel zu vernachlässigen, und es war unglaublich anstrengend hier unten, aber die Lügen waren mit Abstand das Schlimmste. Nur gab es keinen Weg um sie herum. Ich musste Louis anlügen, um die Regeln nicht zu brechen.
»Hm. Dann hattest du echt Glück. Hast du das Haus gut gefunden?« In einem halben Sprung kletterte Louis von seinem Fahrrad. Seine Wangen waren rot und meine warm.
»Ja, sehr gut.«, versicherte ich wahrheitsgemäß. Ein kurzer Zwischenstopp im Himmel hatte geholfen. »Es ist ein großes Haus, Louis!«
Louis nickte langsam, seine Hände verschwanden in einer Tasche seiner Jacke. »Ich schätze schon. Es ist zumindest nicht klein. Und ich muss zugeben, dass ich wirklich ganz schön Glück hatte mit allem, was irgendwie mit der Wohnung zu tun hat. Ich dürfte mich nicht beschweren.«
Ich legte den Kopf zurück, um bis zur schmalvorstehenden Dachkante sehen zu können. Ob Louis das Haus selbst gebaut hatte? All die roten Backsteine? Menschen beschlossen aus verrückten Gründen, die Grenzen ihrer eigenen Körper zu überwinden.
Ein metallisches Rasseln ließ meinen Blick wieder zu Louis herabsinken. In einer Hand hielt er ein Gewirr von Metall; Schlüssel, denn er steckte einen in die hohe Tür. »Wenn ich bitten darf...«, sagte er lächelnd und hob sein Fahrrad über eine kleine Stufe hinweg in den dunklen Hausflur, dessen Ende ich von hier aus nicht sehen konnte. Von innen hielt er einarmig die Tür auf.
»Du darfst bitten.«, gewährte ich. »Worum?«
»Was?« Louis nutzte jetzt auch seinen Fuß, um dem Gewicht der Tür entgegenzuwirken. »Worum...ich bitten darf?«
»Ja.«
»Oh. Ja. Dich herein bitten, meinte ich damit.« Er musterte seinen Fahrradlenker, Blick sprang zurück zu mir. »Tut mir leid, es war verwirrend. Weil ich mich als erstes reingebeten habe. Wunderbar höflich von mir, entschuldige. Es ist nur immer ein bisschen schwer; mit der Tür muss ich als erstes rein, wegen des Fahrrads. Jedes Mal eine kleine akrobatische Herausforderung. Naja, ist ja auch egal. Ich wollte dich rein bitten.«
»Danke, Louis.« Bereitwillig kam ich seiner Bitte nach, bis das Fahrrad mir im Weg stand. Wäre ich nicht an die Menschenlüge gebunden, hätte ich es problemlos überwinden können. Aber Menschen waren so plump. Also blieb ich stehen.
»Warte...so.« Louis trat die Tür weiter auf und schob sich in den Flur, ich folgte ihm. Dann fiel sie langsam, Klick, zu. Halbdunkel hing von der Decke bis zum Boden. Louis konnte mich nicht mehr gut sehen, das wusste ich. »Hinter dir ist ein Lichtschalter.«, berichtete er aus verschwommenem Mund.
»Gut.« Ich brauchte nicht mal meine Finger, um die Geräusche all der Menschen über uns wahrzunehmen. »Ist das alles deine Familie?«
Louis war kurz still. So still ein atmender Mensch mit pochendem Herzen und strömendem Blut sein konnte. »Wer..? Und, ähm, Harry, könnest du das Licht bitte an machen?«
»Das Licht anmachen?« Ich war zwar im Himmel geboren, aber das konnte auch ich nicht.
»Ja, der Lichtschalter. Hinter dir. Du kommst besser ran als ich.«, erklärte Louis mit etwas wackeliger Stimme. Wir waren auf der Erde und es gab ein leichtes Echo. Ich versuchte, es in meinem Kopf zu speichern.
»Der Lichtschalter«, wiederholte ich leise und drehte mich um. Der Lichtschalter, um Licht anzumachen. Louis' Verwirrung nach zu urteilen etwas, das ein Mensch wissen sollte. Ich tastete nach der einzigen Unterbrechung der glatten Wand und, wie Louis gesagt hatte, wurde es Licht. Mit offenem Mund starrte ich an die Decke. So funktionierten die falschen Sonnen! Lichtschalter. Wieso wurde uns das nicht im Training beigebracht?
»Danke.« Louis musterte die uns umgebenden Wände, als sähe auch er sie zum ersten Mal. »Okay, Harry, ich muss schnell mein Fahrrad in den Keller bringen. Wartest du hier? Ich bin sofort wieder zurück.«
»Ich warte.«, bestätigte ich. Louis rollte sein Fahrrad weiter, bis sowohl er als auch das Metall-Fahrzeug aus meiner Sicht verschwanden. Neben mir erstreckten sich Treppenstufen an der Wand entlang in die Höhe des Hauses, gegenüber klebten metallene Kästen mit kleinen Aufschriften auf Louis' Augenhöhe. Und hinter mir, ich drehte mich wieder um; der Lichtschalter. Vorsichtig streckte ich meine Hand ein weiteres Mal aus; er gab meiner Berührung nach, kippte weg. Licht aus. Es war den Menschen gelungen.
»Hey! Harry? Ich brauche Licht!«, schallte Louis' Stimme von irgendwo hinter der Treppe.
Natürlich, Louis. Ich hatte ihn und seine Menschenaugen für sieben Sekunden vergessen. »Ich drücke den Lichtschalter!«, versicherte ich. Das tat ich auch; Licht an. 36,47% der lebensgefährlichen Treppenstürze passierten im Dunkeln. Nicht in Louis' Haus.
»Ja, ich weiß, komisches Licht.« Jetzt ohne sein Fahrrad und mit offener Jacke trat Louis wieder aus den Schatten, in denen er verschwunden war. »Ich verstehe es auch überhaupt nicht. Normalerweise muss man Flurlicht nicht selbständig ausmachen, aber bei uns..? Ganz abgesehen davon, dass ich nicht verstehe, wieso es nicht einfach Bewegungsmelder gibt. Es macht keinen Sinn.«
Mit entschuldigendem Lächeln schob er sich an mir vorbei auf die Treppe. »Aber so ist es irgendwie mit allem in diesem Haus.«, fuhr er fort. »Die Kontraste! Erst seit ein paar Monaten finden hier keine Umbauarbeiten mehr statt. Vier Wohnungen haben sie in perfekte Apartments verzaubert. Riesig, mit Sicherheit unbezahlbare Miete. Sie haben Balkons! Wieso habe ich keinen Balkon? Und, halt dich fest; die Apartments haben Zugang zum Dach, das jetzt zu einer Dachterrasse umgebaut wurde! Hallo?! Meine Wohnung ist winzig und das Wasser wird kalt, wenn ich länger als zehn Minuten dusche.« Die 16. Stufe, Louis' Finger rannen das Treppengeländer entlang. »Ich weiß, ich sollte mich nicht aufregen, aber manchmal finde ich es einfach verrückt.«
Die Herzen um uns herum pochten. »Louis?« Die unbeantwortete Frage kehrte plötzlich in mein Bewusstsein zurück. Ein neues Licht brannte hinter Glas über unseren Köpfen. »Ist das alles deine Familie?«
Über seine Schulter warf er mir einen Blick zu. »Was? Wer?«
»Nach vorne gucken!«, erinnerte ich eilig. Er folgte meinem Hinweis. »Na, all die Menschen in deinem Haus.«
Louis' Schritte hallten laut von Wand zu Wand, Decke, Stufen, Türen, Fenster. »In meinem Haus? Was? Meine Familie? Meinst du zuhause? Wo ich herkomme? Oder hier?«
So viele Fragen auf einmal. »Ist das hier nicht dein Zuhause?«
Louis' Schritte waren gemächlich langsamer geworden. Seine Lunge presste sich gegen meinen Brustkorb. »Hm, doch.«
»Also zwei Zuhause?« Meine Flügel wussten sehr genau, wie unkompliziert Fliegen wäre. Louis war angestrengt. Ich nahm mir die Zeit. »Ich habe nur ein Zuhause.«
Sein Lächeln kitzelte. »Du wohnst ja auch erst seit sehr kurzer Zeit hier. Das ändert sich bestimmt noch.«
Ich war ein Meer aus Lügen, nur für Louis. Es gefiel mir nicht. Aber ich hatte keine andere Wahl. Zumindest nicht basierend auf der bereits getroffenen. »Was ist dein zweites Zuhause?«
»Doncaster. Ich bin-« Die weiteren Worten fehlten. »Mh, ja. Eigentlich nicht. Oder doch. Donny. Ich weiß nicht, ich glaube, ich will nicht unbedingt darüber reden gerade, Harry.«
»Das ist nicht schlimm.« Jeder von Louis' Schritten wog die Schwerkraft stärker auf seine Knochen. Wieso wollten Menschen immer so hoch hinaus? »Ich möchte trotzdem nochmal meine Frage wiederholen, denn ich glaube, dass du sie noch nicht beantwortet hast. Ist das alles deine Familie?«
Louis' Füße stoppten auf einem Rechteck aus Kork. Das Klimpern der Schlüssel hallte hier oben noch lauter. »Wen meinst du jetzt?« Über die Seite warf er mir einen verwirrten Blick zu.
»Die Menschen im Haus?«
»Hier?«, grinste Louis. »Nein? Ich habe keine Familie in Manchester. Oder habe ich die Frage irgendwie falsch verstanden?«
»Nein.« Etwas klickte, die Tür öffnete sich. »Also wohnst du mit fremden Menschen in einem Haus?«
»Ja..? Also das hier ist kein Off-Campus-Wohnheim oder so, falls du das meinst. Das wäre ja noch schöner, mit der Dachterrasse.« Dieses Mal nutzte er seinen Ellenbogen, um die Tür aufzustoßen, dabei waren seine Hände frei. »Darf ich dich herein bitten, Harry?«, fragte er lächelnd.
»Ja!« Schnell schob ich mich an ihm vorbei durch die Tür. »Hier wohnst du?«
»Hier wohne ich.« Er zog die Tür hinter sich zu. Weiße Wände, echtes Licht von der echten Sonne. »Zayn war heute Morgen hier. Verurteile mich bitte nicht für meine potentielle Unordnung, Harry.« Schneller als all die Male zuvor, an denen ich es ihn hatte tun sehen, zog er seine Jacke aus und hängte sie an Metall aus der Wand. Mit nichts als der Hilfe seiner Füße befreite er sich auch von seinen Schuhen.
»Ich verurteile dich nicht.«
Er lachte etwas höher als sonst. »Danke. Das ist nett.« Sein Blick streifte meine Füße. »Ähm, Harry, ich will nicht unhöflich klingen, also nicht, als würde ich irgendwas andeuten wollen, aber willst du vielleicht ein Paar Socken haben? Der Boden hier drin ist oft ein bisschen kalt. Also nicht, dass das jetzt irgendwie zu vergleichen wäre mit draußen, der Vergleich würde nicht so richtig Stand halten, merke ich gerade. Aber egal. Ich wollte nur fragen, falls dir das vielleicht angenehmer wäre. Socken?«
Socken waren weiche Schuhe, das wusste ich. Für die Füße. Eilig schüttelte ich den Kopf. Das wurde langsam eine Angewohnheit. Ich wurde besser.
»Alles klar. Aber wenn deine Füße kalt werden sollten, sag mir bitte Bescheid! Das Angebot verfällt nicht, okay?«
Weil ich stolz auf den Fortschritt war, nickte ich. Liam würde staunen.
Alle würden staunen, wenn sie wüssten, dass ich in Louis' Haus war. Sichtbar.
Nicht alle auf die gute Weise vielleicht. Aber die hatten Louis auch noch nicht reden gehört.
»Gut. Na dann. Das hier ist das Bad.« Seine Finger trommelten auf seltsam weißem Holz. »Und hier die Küche. Wenn man es Küche nennen will.« Zweieinhalb Meter weiter gestikulierte er in ein Türloch ohne Tür. »Und, zu guter letzt, weil es so schön – und lang – war; der Raum, der alles andere ist. Such dir was aus. Hey, puh, es ist gar nicht so unordentlich!« Er grinste mich an und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, ohne sie tatsächlich zu berühren. »Dann komm bitte rein, Harry. Setz dich gern. Möchtest du was trinken?«
»Nein.« Ich ließ mich auf den Boden sinken, der wie in dem Raum mit den hohen Säulen wie Holz aussah, aber keines war. »Möchtest du was trinken, Louis?«
»Du musst nicht auf dem Boden sitzen, Harry. Wenn du willst, kannst du gerne auf einen der Stühle, oder auf mein Bett.« Louis' Oberschenkel auf meiner Augenhöhe, meine Oberschenkel verkreuzt auf dem sinnlosen Boden.
»Ich bleibe gerne hier sitzen.« Um meine Entscheidung zu finalisieren, legte ich die Hände auf meinen Beinen ab.
Louis nickte. »Na gut, wenn du meinst.« Er ging hinüber zu dem zweiten Bett, was ich je gesehen hatte. Nur Johannah fehlte. »Kann ich dir dann vielleicht ein Kissen anbieten?«
»Natürlich kannst du.«, erinnerte ich ihn. Seine Zunge und Kissen existierten.
»Das freut mich; hier.« Mit ausgestrecktem Arm ließ er ein schwarz-weiß liniertes Kissen vor meinem Gesicht in der Luft treiben. Das Anbieten selbst hatte er einfach übersprungen.
»Danke.«, sagte ich trotzdem, nahm es an. Jetzt hatte ich ein Kissen. Louis war so endlos.
»Sicher, dass du nichts trinken willst?« Er klemmte sich ein zweites Kissen unter den Arm. Plumpe Schwerkraft und es fiel vor mir zu Boden. Schwarze Linien zogen sich auch darauf über weißen Stoff, aber es war in seiner Gesamtheit ein anderes Chaos.
»Ich bin sicher.« Wie ein Mensch es tun würde, hob ich mein Kinn, meine Nase.
Langsam sank Louis vor mir zu Boden. »Vielleicht ja später. Ich hätte sogar eine kleine Auswahl. Betonung liegt allerdings auf klein.« Er schob sich eines der Kissen unter seinen Körper. Polsterung, nichts Schlechtes. »Wasser, Tee, Kaf- obwohl, Kaffee eigentlich nicht, das ist nicht meiner...aber doch, er würde es dir erlauben. Das ist etwas, was ich mich sogar gefragt habe, Harry! Magst du Kaffee?«
Eines der verwirrendsten Dinge, die Menschen taten; Pflanzen zerstören, um Häuser zu bauen, nur damit sie dann Pflanzen hineinstellen konnten. Wenn die grünen Blätter weinen würden, weil sie keinen Regen kannten, könnte Louis sie nicht hören. »Ja. Aber ich habe ihn noch nie in echt gesehen.«
Louis' Mimik blieb hängen, für zwei Sekunden. »Du- was? Ist das – Harry, es tut mir so leid, dass ich so langsam mit diesen Sachen bin – ist das ein Scherz? Übersehe ich die Pointe?«
»Nein.«, wiederholte ich. Hatte Louis schon Kaffee gesehen? »Ich war auf diesem Planeten nur in England. Hier wächst er nicht.«
»Oh.« Seine Lippen waren weich und rund und das Gewicht von Louis' Kiefer zog an meinem. »Du meintest die Pflanze. Ich meinte das Getränk. Warte, das weißt du..? Das war der Witz, oder? Weil ich gefragt hab, ob du Kaffee magst. Ich bin so dämlich, Harry, es tut mir ehrlich leid.«
»Dir muss nichts leid tun.« Ich lächelte für sein Oxytocin.
Vielleicht waren seine Finger interessanter als ich. »Hm, ja. Würdest du mir die originale Frage trotzdem noch beantworten? Trinkst du Kaffee...gerne, nicht gerne, gar nicht?«
Einfach. »Gar nicht.«
»Ha!« Ein Grinsen entblößte Louis' Zähne. 29, wie Johannah. »War ja klar, dass du Geschmack hast.«
»Natürlich habe ich Geschmack. Du auch.«, erinnerte ich ihn. Wie bei den meisten Menschen verliefen seine Nerven auf die vorgesehene Weise zwischen Zunge und Gehirn.
»Danke! Ich weiß! Harry, du sammelst gerade so viele Pluspunkte bei mir. Jetzt sag mir bitte noch, dass du gerne Tee magst.« Er überschlug die Beine, sein Gewicht verschob sich. Balance auf einem Stück Stoff auf einem Boden falschem Holz auf einem Gerüst Sand und Wasser und Ton auf einem geschichteten Planeten so viel älter als ich. Louis zwinkerte mit einem Auge, Feuchtigkeit ungleich verteilt. »Das Getränk, nicht die Pflanze.«
»Nein.« Ich hinterlegte das Wort überzeugend mit einem harten Kopfschütteln. Dann weiter mit den Beweisen, die er brauchte. Tiefer Atem, langsames Blinzeln.
Aber Louis sah trotzdem geschockt aus. »Was?«, fragte er lauter, als ich seine Stimme heute bisher gehört hatte, Stimmbänder offen. »Ehrlich?«
»Ich bin ehrlich.«, versicherte ich – wahr in Bezug auf die Wahrheit, nach der er gefragt hatte, gelogen im Schatten der heißen Lügen. Liams Herz in Flammen.
»Also...magst du keinen Tee?«, fragte Louis mit forschendem Blick. Genau, was ich gerade gesagt hatte.
»Ich trinke ihn nicht.«
»Hm«, summte Louis mit Augenbrauen dicht zueinander gezogen. »Was trinkst du dann gerne?«
Ich warf einen weiteren Blick hinüber zu Louis' Bett. Die Decke in Falten hatten die Farbe des Himmels, bevor der Regen zu schwer geworden war, um sich in den Wolken zu halten.
Ich trank nicht. Menschen schon. Es gab wenig Wichtigeres für sie. Ich konnte nicht einfach die Wahrheit sagen. Louis kannte die Regeln der menschlichen Physiologie so gut wie ich.
Und meine Antwort schien zu lange auf sich warten zu lassen. »Ich formuliere um.«, verkündete er. »Oder eher; ich spezifiziere. Was ist deine Standardbestellung in Restaurants? Nicht alkoholisch, meine ich jetzt. Was ist das Getränk, auf das du immer wieder zurückfallen würdest?«
›Keines‹ – unmöglich. Nein, nicht unmöglich, aber nicht zu verantworten. Ich wusste auch nicht, wo Restaurants lag. Aber es erschien mir wie ein schlechter Zeitpunkt zum Fragen. Wahrscheinlich gab es nur eine einzige Antwort, die mir – und Louis – vielleicht nützen konnte.
»Ich trinke Wasser.«, verkündete ich mit bebender Luft in meinem Mund. Ob Louis es auf seiner Zunge spüren konnte?
»Wasser?«, fragte er, als hätte er noch nie davon gehört. Dabei hatte er heute schon 1278 Milliliter ebendessen getrunken. Er berührte sein linkes Handgelenk mit den Fingern der rechten Hand. »Harry, ich muss etwas zugeben.« Er sah mich nur flüchtig an. Ich war ein konstanterer Reiz in seinem Leben geworden. »Ich bin neugierig, wie du aufgewachsen bist. Ähm, also, ich will nicht, dass das jetzt wie ein Urteil klingt. Nur...du brichst, keine Ahnung, einfach mit jedem Wort meine Erwartungshaltungen. Es würde mich irgendwie nicht wundern, wenn du mir erzählen würdest, dass du eine ›Captain-Fantastic‹-Kindheit hattest, oder so, weißt du?« Er lächelte mit schief gelegtem Kopf, dann fiel das Lächeln, der Kopf stand auf. »Oh nein, klang das gemein? So meinte ich es nicht! Nur einfach...als könnte Mary Oliver- ach, egal. Willst du mir die Frage vielleicht trotzdem beantworten? Wie du aufgewachsen bist? So oder so ist es interessant. Wenn das jetzt nicht zu ignorant von mir war.«
So viele Worte und ich hatte nicht die Hälfte verstanden, wie immer, aber Louis wollte wissen, wie ich aufgewachsen war. Aufgewachsen. Als wäre ich nicht mit seinen Zellen in die Höhe geschossen. Himmel und Sonne und die kürzeste Zeit meines Lebens, die im Moment noch die längste war – das war nicht, was Louis hören wollte. Oder, womöglich wollte er es hören, aber er durfte nicht.
Nicht ganz wahr. Er dürfte. Theoretisch.
Das würde nur nicht passieren. Seine Wimpern beschützten den geduldigen, neugierigen Blick. Er wollte eine Antwort. Ich improvisierte, weil Schweigen zwar menschlich, aber selten endlos war.
»Ich musste viel lernen. Wollte, auch.«, berichtete ich und versuchte zu klingen, wie ich mir vorstellte, dass er klingen würde, wenn er mir davon erzählte, wie er aufgewachsen war. »Ich musste und wollte viel lernen und es gab viel zu lernen, es war gut. Und Liam war da, meistens an meiner Seite.«
Gespannte Wangen der Verblüffung. »Liam? Dein-Mentor-Liam?«
Brav benutzte ich meinen Kopf zum Nicken, anstelle meiner Zunge zum Sprechen. Und dann doch, weil Louis verwirrt aussah. »Ja.«, stellte ich in seiner sichersten Sprache klar.
»Du kannstest ihn vor dem Studium?«, fragte er. Sonnenlicht gedämpft durch meterhohe Wolken fiel durch viereckiges Glas auf seine Stirn, seinen rechten Wangenknochen, die Spitze seiner Nase, Haut und Haare. Keine Schatten.
»Ja.« Eine Lüge, die in meiner Welt sogar wahr sein konnte. Nur war mein Studium keines der Kunst gewesen.
»Und jetzt ist er dein Mentor geworden? Das ist ja ein...verrückter Zufall, würde ich mal sagen!« Louis warf seinen Kopf in einer flüssigen Bewegung zur Seite und wieder zurück, seine Haare folgten der Luft und ihren Wurzeln. »Ziemlich cool bestimmt, oder? Ist er älter als du? Weil du Ersti bist und er jetzt schon dein Mentor? Mentor kann man erst ab dem zweiten oder dritten Jahr sein, richtig?«
Viele Fragen, ich wählte die leichteste. »Er ist ein paar Jahre älter als ich.«
Etwas in ihm arbeitete – so viel Chemie. »Das hört sich eigentlich richtig gut an.« Wieder kniff er die Augen zusammen, als wäre auch ihm die Sonne hinter den Wolken plötzlich wieder eingefallen. »Und damit meinte ich, dass ich mir nichts Besseres vorstellen kann. Ich hätte nicht wirklich damit umgehen können, nach der Schule alleine irgendwohin zu gehen, wo ich niemanden kenne.« Unter uns im Haus wurde eine Tür geschlossen. Erst zitterte der Boden, dann Louis' Trommelfelle. Für ihn war es, wenn überhaupt, eins. Er ließ sich zumindest nichts anmerken. »Du und Liam seid also zusammen aufgewachsen? Ihr versteht euch gut?«
»Er ist mein Mentor.« Ich hatte noch nie so viel über jemanden geredet, der nicht in willentlicher Schallwellenweite war. Außer Louis. Und jetzt gerade interessierte er sich für Liam, als vibrierte die doppelte Nennung seines Namens am Tag von Louis' Geburt in der Kompaktheit seines Gehirnes nach.
»Ähm, ja, aber...das ist nicht alles, oder?« Wieder zog er das Kissen unter sich zurecht. Mit der linken Handfläche stütze er sich auf den hellen Boden. »Okay, warte. Ich bin mir gerade unsicher; stelle ich unangenehme Fragen? Ist das ein doofes Gesprächsthema für dich?«
Ich lächelte. Louis redete über Nichtiges; seine Gefühle und Liams Namen. Er war so weit entfernt von unangemessenen Gesprächsthemen. »Nein, ist es nicht.«
»Na gut. Aber bitte sag, wenn du nicht mehr antworten willst. Also ist es okay, wenn ich noch etwas über Liam frage? Ich sehe noch nicht so richtig durch.«
Seine Augen ein Mittel für seinen Verstand. Dabei würde er Liam niemals zu Gesicht bekommen. »Ja.«
Erleichterung entspannte seine Schultern. »Gut, danke. Ja, also, ich brauche- gib mir eine Sekunde, um die Frage richtig zu formulieren.«
Eine Sekunde war um, aber ich gab ihm mehr. Seine Füße in den Socken hatten die Zehen verkreuzt. Menschliche Zehen zur Balance; ich sollte zurück in den Himmel. Aber noch zwang mich das Gewicht der Erdatmosphäre nicht zur Rückkehr. Ich machte riesige Fortschritte.
»Harry«, begann Louis mit geraderem Rücken und klarerer Sprache. Dabei war sein erstes Wort mein wolkenverhangener Name. »Was ich nicht so richtig verstehe, wenn du sagst, dass Liam dein Mentor ist, aber ihr zusammen aufgewachsen seid...ich verstehe eure...Beziehung? Ja, Beziehung, zueinander nicht ganz. Was, ähm – nicht zu sehr an der Wortwahl aufhängen bitte; was bedeutet Liam dir?«
Und schon waberte wieder die Überforderung in hellsten Stellen meines Bewusstsein. Louis' Gesicht verzog sich erneut zu etwas Reuhaftem, Vorsichtigem. Aber ich wollte ihn und seine Worte nicht wieder verlieren. Ich verstand nicht, was er fragte, und ein ›Ich weiß es nicht‹ lag mir auf den Lippen, wie es mich schon so oft aus Louis' Wortlabyrinthen gerettet hatte. Aber mehr als eine Menge anderer Dinge wollte ich lernen, ihn bedingungslos zu verstehen.
Also entschied ich mich fürs Lernen.
Noch ein Teil der Lüge, die auch in meiner Welt wahr sein konnte. Mein Studium war gegenwärtig.
»Was meinst du damit, Louis?«
Wieder konnte ich an seiner Pupillenweite ablesen, dass es wahrscheinlich Tausende von Antworten auf diese Frage gab. Menschen waren definiert durch ihre Endlichkeit, aber alles an ihrer Psyche erschien mir unendlich. Wie schafften sie es, Unendlichkeit in ein paar Worte zu verpacken?
Ich sollte Louis fragen. Er kannte sich aus mit Worten. Aber ich wusste schon jetzt, dass ich seine Antwort nicht begreifen können würde. Wahrscheinlich sollte ich mich mit Liam über Sprache unterhalten. Es war ein großer Irrtum gewesen, zu glauben, ich hätte die Regeln verstanden.
»Ich meine damit...«, setzte Louis an, Worte feucht in der Luft zwischen unseren Lungen. Er begann neu. »Seid ihr befreundet? Wart ihr befreundet? Verstehst du dich gut mit ihm? Oder war das Detail, das du über euer gemeinsames Aufwachsen nicht erwähnt hast, dass ihr vielleicht Erzfeinde wart, im kleinen- ich weiß nicht, wo ihr aufgewachsen seid. Das waren jetzt ein bisschen zu viele Fragen, aber beantworte so viele wie du willst. Ich wollte nur wissen, wie ihr so miteinander auskommt. Ob du Liam magst.«
Da war er in seinem Synapsenmeer. Und dieses Mal hatte ich ihn verstanden, fast vollständig. Ich wusste, was ich erwidern konnte. Nur ein Wort wollte sich nicht einreihen. ›Befreundet‹.
»Ich mag ihn. Wir sind keine Feinde.« Simple Wahrheiten, ungeschliffene Diamanten des Himmels. Menschen kamen auf unsinnige Ideen.
Wenn es unsinnig war, ein Lichtfeuer zu erschaffen, das keine Leben nehmen konnte. Was wusste ich schon?
Es war eine Täuschung. Ein Funken, ein Tropfen Wasser; Herzstillstand.
»Hast du Feinde, Louis?«, fragte ich vorsichtig, und wusste, welche Antwort ich mir erhoffte. Feinde. Was für ein Konzept. Ein Wort, das die Menschen erfunden hatten, weil sie glaubten, sie wären in der Lage, Emotionen wie Hass gegenüber anderen Menschen zu empfinden.
Alles wurde langsam schwerer, als Louis kurz überlegte. Ich würde nicht so schnell aufgeben, nicht nach 58 Minuten und 17, 18, 19 Sekunden. »Hmm«, Louis' Nasenflügel vibrierten leicht. »Ich weiß nicht. Niemand, der mir sofort einfällt. Und das heißt wahrscheinlich, dass ich keine habe, oder? Nicht auf der persönlichen Ebene.«
Gab es eine unpersönliche Ebene? »Gibt es eine unpersönliche Ebene?«
»Naja, ich hatte an Menschen gedacht, die vielleicht nicht in meinem direkten Umfeld sind, weißt du? Von denen habe ich keine Feinde, glaube ich. Aber Leute, an die ich denken müsste in einer größeren Betrachtung. Robert Mugabe – der hoffentlich nicht mehr lange lebt. Ich komme aus Doncaster, dann muss ich wahrscheinlich auch Nick Leeson sagen. Oder die Person, die Nestlé besitzt. Solche Leute eben. Die nicht wirklich etwas mit mir persönlich zu tun haben, aber die ich trotzdem mit jeder Faser meines Gewissens verabscheuen sollte. Und das auch tue. Diese unpersönliche Ebene meinte ich.« Seine Fingernägel platzierten Haarsträhnen auf seiner Kopfhaut um. Ich kannte die Menschen, die Louis genannt hatte, nicht. Das könnte ich ändern, aber die letzten Male hatte es Louis nicht gut gefallen, wenn ich ihn darum gebeten hatte, sich umzudrehen. »Hast du Feinde, Harry?«
Schnell schüttelte ich den Kopf. »Natürlich nicht.« Falls ich überhaupt dazu fähig war, hatte ich eine Vorahnung, was mit mir passieren würde, sollte es jemals anders sein. Dazu würde und durfte es niemals kommen. Der Zustand bis zur nächsten Sonnenfinsternis wäre mir ein Rätsel. Erste Male gehörten im Himmel zu den schwierigsten Angelegenheiten.
»Das ist wahrscheinlich das Beste.«, steuerte Louis bei und drückte sich mit seinem Rücken als einer Kuppel auf die Füße. »Ich habe Durst.«, verkündete er. »Ich hole mir etwas zu Trinken. Ich frage nochmal; möchtest du auch etwas? Wasser? Oder etwas anderes? Ich kann nachsehen, was ich so da habe, wenn du willst..? Wasser allerdings nur still.«
»Ich möchte nichts, Louis.«, versicherte ich wahrheitsgemäß. Schon Louis' Aerosole waren zu viel in mir. Aber ich musste atmen, für ihn. Ein Glas Flüssigkeit musste ich allerdings nicht in meinen Mund gießen. Louis schien das zu akzeptieren, er entschuldigte sich in die Küche und ließ mich in der Luft alleine, die so sehr nach ihm roch. Bis zur schneeweißen Decke türmten sich die Gasmassen mit seiner DNA darin auf. Das trübe Fenster und die hellen Wände schützten ihn davor, die von ihm selbst abgegebene Körperwärme zu verlieren, in deren Wolke er sich bewegte.
Ich war mitten in Louis' Wohnung, in Manchester, auf der Erde. Kleine Buchstaben zogen sich über Tischbeine, Bettkanten, Schranktüren, Fensterrahmen. Vielleicht Anleitungen zur Benutzung der Menschengegenstände, dabei gab es nicht viele hier drin. Ein Tisch mit dunkler Holzplatte, ein Bett aus ebenso dunklem Holz, echtes dieses Mal. Der Stuhl, der aus dem schwer definierbaren Plastik war, das ich mit Liam recherchiert hatte, besaß kleine Rollen, wie Äpfel. Papier an den Wänden, ein Schrank größer als Louis. Ich hatte zu der Zeit gut aufgepasst – westliche Möbel. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun Pflanzen, von denen sieben nicht nach England gehörten, Töpfe aus Ton und Weide. Aber mehr als alles andere, mehr als ich bis zu Louis' Rückkehr zählen konnte, sah ich Bücher. Dabei war ich großartig im Zählen.
Durchsichtiges Wasser schwappte in einem durchsichtigen Glas, als Louis' gedämpfte Schritte ihn zurück zu mir trugen. Eine gute, gesunde Wahl. Das versuchte ich, ihm mit einem ermutigenden Lächeln mitzuteilen.
Er hob nur eine Augenbraue in Richtung seines Haaransatzes. »Du weißt, dass du dich auf das Kissen rauf setzen darfst, oder?«, fragte er mit dem Zucken eines Grinsens, das keins sein musste.
Ich entschied mich lieber für die garantierte Balance und ließ das Kissen weiter vor mir auf dem gemaserten Boden ruhen. Doch selbst der war nicht ganz ausbalanciert, er wich mit fast 3,4° von der endlosen Linie des Horizontes ab. Wieso Louis nicht gewählt hatte, in einem geraden Haus zu wohnen, begriff ich ganz und gar nicht. Auch wenn das in Louis' Fall nur Konsequenzen für seine Wirbelsäule, nicht eine gesamte magische Population hatte. Aber seine Wirbelsäule war ein sehr wichtiges Körperteil.
»Louis?« Beim Klang meiner Stimme sah er aus wie das schönste Paradox. Unendlich menschlich, definiert durch seine Endlichkeit. Es wurde Zeit für eine Kernfrage. Ich konnte nicht mehr warten. Es war wichtige Ironie, dass die Sekunden der Antwort tickten.
Das Wasserglas traf den Boden dumpf, Louis' Beine kurz später federnd auf seinem Kissen. »Ja?«
Nur ganz kurz dachte ich an Liam und alle, die von mir abhingen. »Hast du Angst zu sterben?«
Passend, wie einen Herzschlag vor dem letzten, weiteten sich seine Augen leicht. Von seinen runden Lippen fiel ein sanftes ›Oh‹. Er angelte nach dem Wasserglas und ertränkte seine Gedanken darin. Ich wartete. Seine Zunge wurde nass. Ging ich zu große Risiken ein? Hätte Liam enttäuschte Gegenargumente oder Verständnis? Ich würde es erfahren, denn für mich behalten konnte ich meine Erlebnisse nicht.
Aber jetzt ging es nicht um meine Frage, sondern Louis' Antwort. Noch immer hing er am Wasserglas. Ich wusste, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Zumindest nicht sofort. Womöglich waren die Aussagen, über die man reflektieren musste, die wahrsten. Ich gab ihm die Zeit, auch wenn etwas in mir sein langsames Kippen beschleunigte. Wie eine gewaltige Sanduhr rieselte das Gewicht des Himmels herunter auf die Erde und auf meine Knochen, die keine Masse, aber Druck wahrnehmen konnten.
Zu früh.
»Okay, das reicht mir an unangenehmer Zeit für verzweifelte Suche nach einer Antwort, mit der ich mich vielleicht wirklich identifiziere.«, verkündete Louis mit unsicherem Grinsen. »Aber bevor ich antworte, hätte ich noch zwei Fragen. Darf ich die erste stellen?«
Ich nickte, weil ich verstanden hatte.
»Danke.« Er setzte das Glas ab. »Also erstens; wie bist du jetzt so plötzlich darauf gekommen?«
Nicht plötzlich. Fast hätte ich gelacht, aber nicht wirklich. Louis war seit 6873 Tagen am Leben, die Menschen 300.000 Jahre mehr. Und für eine Weile würden sie es noch bleiben. Nichts an der Frage war plötzlich.
Aber wahrscheinlich war das keine von Liam befürwortete Antwort. Also musste der halbgelogene Standard ein weiteres Mal in Louis' Ohrmuscheln Wellen schlagen. »Ich weiß es nicht.«
Er nickte. »Na gut.«
»Was ist die zweite Frage?«, erkundigte ich mich weiter.
– ›Würdest du alles in deiner Macht stehende tun, um zu verhindern, dass ich sterbe, Harry?‹ ›Ja, Louis. Bis zu dem Tag, an dem die biologisch vorprogrammierten Begleiterscheinungen des Alterns die Vitalfunktionen deines Körpers stoppen.‹
Nein. Natürlich nicht. Mein Traum, der vielleicht ein Albtraum war. –
»Ich wollte nur-« Seine Finger untersuchten einander. »Ich weiß nicht, die Frage hat mich überrascht und ich wollte nur...fragen, ob es dir gut geht. Und sagen, dass ich immer gerne zuhöre, falls du irgendwann mal das Bedürfnis haben solltest, Dinge auszusprechen.«
Kurz hatte mein Gehirn die Worte seiner Sprache in meinem Mund vergessen. Er hatte mich heute schon gefragt, wie es mir ging – gut. Hatte er jetzt meine Gedanken gelesen, übersetzt aus elektrischen Reizen? Bedürfnis, Angst, Regeln, Dinge auszusprechen. Es wäre einfach, Luft durch Schleimhäute, Lippen geöffnet; Louis wüsste die Wahrheit. Er würde zuhören.
Aber was danach passieren würde, wusste ich nicht. Im Himmel? Auf der Erde? Wie sollte ich Louis' Hoffnungen im Himmel ausbalancieren?
Ich musste alles über Anne lernen.
Aber jetzt saß Louis mir gegenüber. »Ich habe nicht das Bedürfnis, bestimmte Dinge auszusprechen.«, berichtete ich, und war zum ersten Mal nicht sicher, ob es eine Lüge war.
Er nickte langsam. »Okay. Das mit dem Zuhören gilt trotzdem für unbegrenzte Zukunft, ja?«
Seine Zukunft war nicht unbegrenzt, das sollte er wissen. Ich musste ihn nicht daran erinnern. »Ja.« Ich sollte mit Liam reden. »Waren das deine zwei Fragen?«
»Mhm« – ein Wort, das ich nicht kannte, aber direkt gefolgt von Klarheit. »Ja.«
»Beantwortest du dann meine? Hast du Angst zu sterben?«
Louis dehnte sein Schweigen wie einen Wassertropfen und ich verstand, dass er lange vor mir gewusst hatte, dass ein Leben aus nichts als Fragen und Antworten bestand.
Sein Herz schlug langsam – langsamer, als wenn er lachte oder mir sagte, dass er mir zuhörte, wenn ich Dinge aussprechen wollte. »Ich weiß es nicht. Angst vor dem Sterben? Nein. Angst vor dem Tod? Ja. Oder ist das dasselbe? Ich denke nicht. Wie könnte ich keine Angst vor dem Tod haben? Selbst in Momenten, in denen ich mir für ein paar Sekunden einbilden würde, sterben zu wollen. Ich kenne nur die Komponenten einer Seite der Gleichung. Ich weiß nur, was ich verlieren würde. Nicht, was kommt. Wie sollte man keine Angst vor dem Tod haben?«
»Indem man dem Universum vertraut.« Die Worte hatten Louis' Ohr erreicht, bevor ich die Entscheidung treffen konnte, sie nicht auszusprechen. Ich erstarrte in der Luft. Louis' Menschlichkeit färbte ab. Ich hatte gesprochen, bevor ich nachgedacht hatte, wie die Menschen, obwohl es keinen nervlichen Zusammenhang von Reflexen zwischen dem Sprachzentrum und der Zunge gab. Worte waren immer eine Wahl. Was in mir war gestolpert? Ich hatte einen Fehler begangen.
Aber Louis blieb ruhig.
»Vielleicht.«, sagte er mit sanfter Stimme. »Wenn man genug Hoffnung in sich hat.« Er neigte den Kopf zu zwei Seiten, nacheinander, fand dann das die Balance wieder. »Ich weiß manchmal nicht, was ich dazu denke. Ist Optimismus gut oder naiv?« Er hob eine Hand in meine Richtung. »Nicht, dass das jetzt eine Wertung sein sollte! Hast du genug Vertrauen in das Universum, um keine Angst vor dem Tod zu haben, Harry?«
Dem Tod. Wie wahr das Wort auf seinen Lippen klang. Mein Leben definierte sich nicht durch ein unausweichliches Ende. »Ich fürchte den Tod nicht.«
Eine Aussage, die wahr wäre, mit allen Possessiven, außer Louis' Namen.
Louis lächelte und vielleicht fühlte er sich so erschöpft wie ich. »Entweder weise oder töricht.«, erklärte er in einem Tonfall, der mich an Johannah erinnerte. Sanft und...etwas anderes. »Ich sollte ›töricht‹ aus meinem nicht-auf-Uni-bezogenen Wortschatz streichen.«
»Ich mag das Wort.«, verkündete ich nicht allzu laut.
»Töricht?«
»Wortschatz.« Eines der passendsten Worte, das die Menschen verwendeten. Was ich nicht verstand, war, wieso Louis ihn willentlich ausdünnen wollte. Als gäbe es nicht genügend Wörter, die sein Gedächtnis täglich vergaß, manche für immer.
»Da muss ich dir wahrscheinlich recht geben.«, nickte er. »Es ist nicht das schönste Wort jemals – die Bildlichkeit ist fast stumpf – aber ich wäre ziemlich heuchlerisch, wenn ich es deswegen verachten würde.«
Damit schickte er gleich eines der schlimmsten Worte hinterher. Heuchlerisch. Auch wenn ich wusste, dass ich es weniger wegen des Wortes selber als wegen des Konzeptes missbilligte. Was mich störte, war der Fakt, dass die Menschen überhaupt ein Wort brauchten, um den Akt schamlosen Täuschens unter falschen Vorwänden zu beschreiben.
Oder vielleicht war das wirklich Schlimme, dass ich wusste, dass sie den unsagbarsten Dingen Namen gegeben hatten, als hätten sie keine Angst davor. Menschen hatten Heuchlerei nicht erschaffen.
Aber über nichts davon würde ich mit Louis reden.
»Harry?«, fragte Louis vorsichtig und das ›y‹ war noch immer das ungewohnteste daran. »Ich würde dich gerne noch nach etwas fragen, über das ich schon ein bisschen nachgedacht habe, aber ich weiß nicht, ob es etwas ist, über das du reden willst. Ob danach zu fragen genau die falsche Sache ist. Also bitte stopp mich, wenn ich mich dumm benehme.«
Konnte es jemals eine falsche Sache sein, nach etwas zu fragen? Ich wusste es nicht genau. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich Louis nicht stoppen würde. »Bitte frag.«
Überdruck in Louis' Lunge, der explodierte, als er zu sprechen begann. »Ich bin neugierig wegen deiner Kleidung. Nicht falsch verstehen, bitte. Ich meine nicht das Kleid.« – so hatte er es auch schon als kleiner Junge in roten Hosen und roten Wangen genannt. »Eigentlich auch nicht die nackten Füße. Eher, dass du jeden Tag dasselbe trägst. Das Gleiche? Wenn das keine unhöfliche Frage ist, würde ich gerne erfahren, wieso du dich für ein festes Outfit entschieden hast..?«
Jeden Tag dasselbe. Jeden Tag dasselbe bis zum Ende meiner Zeit – bis zum Ende vieler Zeiten. Konnte Louis begreifen, dass es keine Wahl war, die ich traf? Oder, dass, was er für ein ›Kleidungsstück‹ hielt, keines war?
Am allerwenigsten könnte er verstehen, wie sehr es eine Strafe der Vergangenheit war – Verlorene des Himmels und der Erde.
Es gab nicht wirklich eine Antwort, und wenn schon, dann nicht für Louis' Ohren. Was würde ein Mensch antworten?
»Ich mag es.«, probierte ich das einzige, das mir einfiel.
Louis lächelte, aber mittlerweile glaubte ich zu wissen, wie seine Augenbrauen aussahen, wenn er noch nicht zufrieden war. Wenn ich die falschen Worte wählte. Meine Fehler in den winzigen Haaren über seinen Augen, wie ein Alarm. »Das verstehe ich.«, begann er den Start von weiteren Worten. »Ich finde das Konzept mit der eigenen Kleidung nur aus Kernstücken bestehend interessant. Aber das umfasst sonst trotzdem immer mehr als...ein einziges Kleidungsstück. Dachte ich. Also, ich verstehe, wieso du es magst. Du bist hübsch. In dem Kleid. Es steht dir, wollte ich sagen. Auch wenn das ein schlechter Ausdruck ist, natürlich. Wir sollten nicht kommentieren, was Menschen gut "steht" – nicht, wenn wir Schönheitsideale neutralisieren wollen und so weiter. Auch wenn das natürlich nicht das momentane Ziel ist! Erst Umpolung, dann Neutralisation. Ich sage diese ganzen Sachen übrigens gerade nur laut, weil ich schätze, dass sich das mit deinen Beweggründen überschneidet. Das sollte ich dir aber nicht vorwegnehmen. Okay, ich werde jetzt leise sein. Bitte leg los, wenn du mir etwas dazu erzählen willst, Harry. Es würde mich wirklich interessieren.«
Eine Menge. Einhundertvierunddreißig Wörter; Louis' Gehirn wie ein blutender Schwamm, der nicht halten wollte, was er halten konnte. Er sagte: du bist ein Mensch, du bist hübsch, du hast Beweggründe. Für ihn und seinen Puls waren drei dieser Fakten wahr. Für mich nur einer, und es war nicht der letzte.
Was ich ihm nicht sagen konnte.
Aber dazu kam es auch nicht mehr.
Das Licht hinter Louis begann zu schäumen. Er saß mit geduldigem Blick da, auf meinem Kragen, meiner Haut. Liam materialisierte sich inmitten von Stickstoff und Wasser. Als ich das Salz seiner Augen schmeckte, wusste ich, dass nicht nur er der Meinung war, ich musste zurückkehren.
Ich war zu lange geblieben.
Liams Hand schwebte über Louis' Kopf, Handfläche zur Decke.
»Hara.«, verkündete er leise und ernst und ich kannte jede einzelne Bedeutung, die dieses Wort mit sich trug. Louis blinzelte nicht einmal, als hätte auch er es vergessen.
»Du musst nicht antworten, wenn du nicht willst.«, stellte Louis klar. Liam hätte es gekonnt, aber er fällte kein Urteil. Ein Paar blendend weißer Flügel rahmte seine Schultern ein. Ihr Strahlen lag in meiner Macht. »War das eine doofe Frage, Harry? Habe ich mich aufgedrängt? Wir können das Thema wechseln.«
Liams Anwesenheit gab mir Sicherheit, und sie zog fast mehr als ein Verlangen meines Bewusstseins in Atmosphären, die nicht irdisch waren. Aber Louis war da, direkt vor mir, und stellte eine Frage nach der anderen. Welches ›Wie‹ erwartete Liam?
»Harry...« Louis runzelte die Stirn. Für ihn war es so menschlich wie das Atmen und Blinzeln. »Alles okay?« Er drehte sich um, schnell, als wollte er die Bänder seiner Wirbelsäule verraten. Ich konnte sein Gesicht gespiegelt in Liams sehen. Fast hätte dessen Hand die hellen, braunen Haare berührt. Louis drehte sich wieder um, mit einem Blick so verwirrt wie vorher.
Es war unmöglich für Liam, Ungeduld auszustrahlen, aber die Geduld seiner Wärme war noch viel mächtiger. Ich atmete in Louis' Gesicht. »Ich muss gehen.«, seufzte ich in einem Bedauern, das ein Teil der Wahrheit war.
»Was? Wirklich?« Er kämpfte um die Kontrolle der winzigen Muskeln in seinem Gesicht, meins kribbelte.
Ich glättete die Ballen meiner Füße auf dem gemaserten Boden aus. »Ja.« Liam hob seine Hand mit der Verschiebung meines Schwerpunktes höher in der Luft. Ich stand auf meinen Füßen und Louis folgte so schnell, dass sein Knie der Fall des Wasserglases war. Mit einem dumpfen Knallen erreichte eine klare Flüssigkeit meine Zehen. Mein Mund fiel auf. Dunkel saugte sich das Wasser auch in das Kissen und färbte es in einem Weiß der Nacht. Das Schwarz konnte nicht noch dunkler werden.
Noch immer schien es Louis nicht zu stören, dass seine Wohnung uneben war, als das Wasser seinen Weg von ganz alleine fand. Ich starrte meine Füße an.
»Harry, tut mir leid!« Wie um mich und sein Innenohr weiter zu überfordern, fiel er zurück auf die Knie, Flecken in seinen Socken, Trinkglas in der Hand. Liam und ich teilten die Erleichterung, dass es keine Scherben gegeben hatte.
Nur meine Füße waren nass. Wasser war durchsichtig, aber genug davon konnte alles Licht der Sonne schlucken.
»Ich bin eigentlich kein großer Tollpatsch, das- ah, entschuldige, Harry. Möchtest du...ein Handtuch?« Sein Herz hämmerte, als hätte meines es gekonnt. Dieses Mal sah ich Liam nicht mal an, aber Louis drehte sich wieder zu ihm um. Mein Mentor hielt jetzt den Goldreif in der Hand, der eben noch in einer Zwischenmaterie irgendwo zwischen meinen Fingern und dem Zentrum des Himmels geruht hatte.
Ich bewegte meine Zehen langsam, der Schutz vor dem Regen war eine Bemühung der Vergangenheit. Louis stand wieder.
›Harry‹ verwirrte Liam, auch wenn er von seiner Existenz gewusst hatte. Das Gold in seiner Hand zitterte für mich.
»Ich muss gehen.«, wiederholte ich. Louis' Angebot eines Handtuchs schwebte für ihn immer noch in der Luft, aber meine Hände waren trocken geblieben. Konnte er das nicht sehen? »Ich habe gerne mit dir geredet, Louis.« Ich machte einen kleinen Schritt nach hinten. »Sei vorsichtig. Rutsch nicht aus.«, warnte ich ihn.
»Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Und ich wollte nicht...falls ich mich komisch benommen habe, tut mir das auch leid. Ich möchte dich nicht aufhalten, aber- okay, nein; ich möchte dich nicht aufhalten. Punkt. Ich bringe dich zur Tür..? Ja.« Mit langen Beinen kürzer als Liams überquerte er die gespannte Pfütze. Ich wusste, dass ich ihm folgen musste, und tat es.
Flur, Flur, Flur, Louis' Hand auf der Türklinke, Liam neben ihm, neben mir. »Es war schön, dass du da warst. Ich habe mich gefreut.« Er lächelte, aber es ließ meine Wangen in Frieden. »Vielleicht können wir das ja bald...« Kalte Luft strömte durch die Tür hinein, Louis hielt inne. »Wir sehen uns bestimmt auf dem Campus.« Es war dasselbe Lächeln.
Ich hätte geantwortet, aber ich wusste nicht, ob Liams Präsenz die Antwort zu einer anderen machte. Mein Kopf sehnte sich fast nach dem sanften Gewicht des Goldes. Liam würde nicht als erster aus der Tür treten.
»Danke, Louis.« Ich überquerte die niedrige Schwelle. Liams Erleichterung kribbelte.
Louis lehnte sich einarmig an die Tür. Sein Kopf kippte. »Tschüss, Harry.« Flügelzittern neben Louis' Oberarm.
Ich lächelte und drehte mich um. Ein paar Stufen mussten sein, um aus Louis' Sichtfeld zu kommen. Ein paar Stufen hinunter in den Himmel. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, klick – Tür zu.
»Hara«, seufzte Liam leise. »Wir kippen.«
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Vielleicht zählt es nicht, solange ich euch jedes Mal sage, wenn ich meine eigenen Regeln breche. Also shh :) So ein kleiner Zwei-Wort-Fehler
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