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𝐗𝐕

𝐋 ⋆

Die Karte war laminiert, obwohl sie nichts bis auf schwarze Buchstaben einer albernen Computerschrift und dünnes weißes Kopierpapier vorzuweisen hatte. Aus irgendeinem Grund hielt Harry sie mit Fingern fest, die aussahen, als hätten sie noch nie etwas festgehalten. Vielleicht war sein innerer Sinn für künstlerische Ästhetik so erschüttert von der lieblos gestalteten Café-Karte, dass er den physischen Kontakt mit ihr minimieren wollte.
Fast hätte ich diese Gedanken laut ausgesprochen, aber ich realisierte rechtzeitig, dass ich wahrscheinlich kein hübscheres Menü hätte designen können. Nicht mein Recht auf Spott.

»Es ist nicht die größte Auswahl jemals, aber ich bin hungrig.«, erklärte ich, während ich die Rückseite – war das andere eine Vorderseite? — zu ungeduldig überflog. Kartoffel-Porree-Suppe, Mulligatawny, London Particular. »Ich bin zu hungrig für Suppe.«, sprach ich meine Gedanken laut aus, übersprang den Rest der Suppen. Die volle Wahrheit war eine tief verankerte Abneigung gegenüber Suppen, aber sollte Harry darauf ähnlich reagieren wie Zayn, musste ich mich ja nicht gleich blamieren. »Bist du hungrig?«, fragte ich in der Hoffnung auf eine Antwort und realisierte zu spät, dass die Wiederholung desselben Wortes dreimal in Folge nur bedeuten konnte, dass ich jetzt uns beide darauf hingewiesen hatte, dass die Situation etwas unangenehm war. »›Hungrig‹«, schob ich mit einem etwas nervösen Lachen hinterher. »Ich wiederhole mich. Das ist mein Magen, der da spricht.«

Harry sah von seiner Karte auf. Vorsichtig legte er sie auf dem Tisch ab. »Dein Magen kann nicht sprechen.«

Ich lachte wieder, auch wenn Harrys Humor noch nicht ganz meinen Nerv traf. Aber was spielte das in diesem Moment schon für eine Rolle? Ich musste mich stark zusammenreißen, das Gesicht mit den vollen Lippen und wachen Augen nicht im gleichen Zustand wie vor nur drei Tagen zu sehen – der Kräfte beraubt durch Mojitos mit billigem weißen Rum und zwei schlafarmen Nächten. Auch wenn es verlockend war, sollte ich mir die nur Millimeter über der Tischplatte schwebenden Finger nicht verflochten mit meinen vorstellen. Wieso sah seine Haut so weich aus?

»Käse-Brunnenkresse-Sandwich«, traf ich meine Entscheidung und zwang meinen Blick zurück aufs Papier. »Und noch etwas zu trinken. Ich weiß nicht, ob du es schon gesehen hast – die Getränke sind auf der anderen Seite, glaube ich; ja, hier – jedenfalls haben sie eine wirklich gute Auswahl hier. Für ein billiges Studentencafé im Chemiegebäude.« Ich streckte meine Hand aus und drehte über den metallenen Serviettenhalter hinweg seine laminierte Karte auf dem Tisch um. Erst als mir wieder die Kartoffel-Porree-Suppe entgegen lächelte, verstand ich. Schnell drehte ich die Karte zurück. »Du warst schon auf der richtigen Seite! Oops. Tut mir leid.«

Entschuldigend lächelte ich und als Harry nichts dazu zu sagen zu haben schien, richtete ich meinen Blick abermals zurück auf die kleingedruckte Schrift, als wüsste ich nicht schon, was ich nehmen würde. Ich brauchte ein Gesprächsthema. Sonst würde die Stille uns in den Knochen kribbeln. Oder empfand Harry sie als angenehm? Würde es ihn stören, wenn ich mit dem Reden begann? Nein, das konnte nicht sein. Man ging nicht mit einem Quasi-Fremden in ein Café, um sich dann anzuschweigen. Es waren nur irrationale soziale Ängste, die gerade wieder anfingen, in meinem Kopf Haken zu schlagen. Er hatte gesagt, dass er mich kennenlernen wollte. Mit seinen eigenen Stimmbändern. Ich durfte nicht anzweifeln, was ich unmöglich falsch gedeutet hatte.

Harry war neu in Manchester. Er wollte Anschluss finden, Freunde. Sicher war ich der coole Literaturstudent aus dem dritten Semester, der wie ein vertrauenswürdiges Versprechen für einen bodenständigen sozialen Umkreis wirkte. Ganz eindeutig.

»Wie lebst du dich ein in Manchester, Harry?«, begann ich mit der Frage, die er sicher zwanzigmal am Tag zu hören bekam. Aber es war immerhin ein Einstieg. »Wie gefällt es dir?«

Ich senkte meine eigene Karte und war erleichtert, dass der Augenkontakt sich nicht wie ein Zwang anfühlte. Mehr wie eine milde Entschuldigung für die Möglichkeit, ihn anzusehen. Wie mich vor einem Jahr überforderte ihn die Frage ziemlich offensichtlich. Seine Augen schienen in meinen Gesichtszügen die Antwort zu suchen, die nicht existierte. Mir wurde bewusst, dass meine Stirn in Falten lag und ich entspannte sie.

»Manchester ist sehr aufregend.«, antwortete Harry schließlich mit beträchtlicher Unsicherheit in der Stimme. Natürlich hatte er keine tiefgründige Antwort auf eine oberflächliche Frage. »Es ist sehr laut.«

»Kommst du aus einer kleinen Stadt?«, fragte ich interessiert und musste an die Straßen Doncasters denken. Definitiv keine Kleinstadt, aber lange nicht so groß wie Manchester. Ich war seit einer Weile nicht dort gewesen.

Harry neigte seinen Kopf und musterte die Luft zwischen unseren Gesichtern, als könnte er die Staubflocken tanzen sehen. »Ich komme nicht aus einer Stadt.«, berichtete er, auch wenn es fast wie eine Frage klang. Wenn ich so darüber nachdachte; seine Stimme spielte die Noten seiner Worte ein wenig wie Princess Diana.

»Ein Dorfkind? Als ich klein war, habe ich mir auch immer gewünscht auf dem Dorf zu leben. Oder ganz abseits von anderen Häusern. In einem Cottage in Cornwall. Ich habe Familie dort. Hatte. Sie sind nach Winnipeg gezogen.« Ich schielte kurz zur kleinen Cafétheke hinüber. Als wir vor ein paar Minuten angekommen waren, hätte eine kurze Schlange uns zum Warten verdammt. Jetzt hatte sie sich ganz aufgelöst. »Warst du schon mal dort?«

»In Winnipeg?«

»In Cornwall?«

»Nein.« Er schüttelte lange den Kopf, hin und her und hin und her und hin und her. Seine Locken waren nicht die Art von Locken zum Beneiden – armselig von mir oder nicht; sie waren die Art von Locken zum Verlieben. Allerdings konnte Liebe zwar auf optischer Ebene existieren, aber nicht entstehen. Dieses Wissen kriegte sogar mein Kopf auf die Reihe. Auch wenn ich dafür Platon und seine Theia mania opfern musste. Aber Liebe hatte im antiken Griechenland auch etwas anderes bedeutet als heute.

Eilig steckte ich meine Karte zurück in den dafür vorgesehen Metallschlitz direkt neben den Servietten. Liebe? Meine Gedanken verirrten sich in Gegenden, in die sie sich alleine nicht verirren sollten – zumindest nicht in Gegenwart Beinahe-Fremder, die ich ehrlich attraktiv fand.

»Cornwall!«, erinnerte ich mich mit meiner Zunge. »Ja, schade. Du solltest definitiv mal dort hin, Harry, wenn du die Möglichkeit hast. Es ist wunderschön.«, ratterte ich zu schnell herunter. Ich schob meinen Stuhl vom Tisch ab und stand auf. Harry musterte mich verwirrt. »Ich gehe bestellen. Gerade ist alles frei. Sagst du mir, was du möchtest?«

Wieso wurden seine Augen so riesig? Das silberweiße Deckenlicht verlor sich kaum in seinen Augenbrauen, nicht mehr als Spinnennetzschatten schwebten auf seinen oberen Augenlidern. »Was ich möchte?«, fragte er leiser als zuvor.

»Ja...hast du dich noch nicht entschieden? Tut mir leid, ich dachte... Tut mir leid.« Ich setzte mich wieder hin. »Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Entscheidungen treffen ist eine schwierige Angelegenheit. Gerade mit Essen.« Um meine Geduld zu symbolisieren, faltete ich die Hände auf der Tischplatte.

»Ich will nichts essen.«, beschloss Harry und bemühte sich, seine Karte zu meiner zu schieben. Nur schaffte er es nicht, den schmalen Metallschlitz zu treffen. Ich tat ihm den Gefallen und sah nicht hin.

»Wirklich nicht?«, fragte ich langsam, beschämt. »Harry, wir hätten nicht herkommen müssen, wenn du keinen Hunger hast! Ich wollte dich nicht hierhin verschleppen. Wir können wieder gehen! Bitte, lass uns wieder gehen, wenn du nicht herkommen wolltest. Wir können woanders hin! Oder nicht, natürlich, wenn du das nicht willst. Aber vielleicht irgendwohin, wo wir nur was trinken können? Ah, das hört sich an wie Alkohol, aber du weißt, was ich meine. Tee, Kaffee, was auch immer du magst..? Also ich wollte eigentlich nur, dass... Okay, ich halte den Mund; du willst etwas sagen. Oder?« Ich entfaltete meine Hände. Plötzlich fühlte ich mich wie ein fünzigjähriger US-Präsident in einer Hollywoodproduktion, bei einer Verkündigung der prozentualen Wahrscheinlichkeit für einen Atomkrieg mit extraterrestrischen Lebewesen, mit bitterer Miene am Schreibtisch des Oval Office. Mr. President, wir befinden uns am Rande einer Krise. Colonel Harry rudert die Mission zurück. Kein Essen im Café 204.

Ich hatte ihn einfach hergeschleppt.

»Ja, ich will etwas sagen.«, bestätigte Harry mit süßer Geduld. »Ich will sagen, dass ich nicht hungrig bin. Aber ich würde trotzdem gerne bleiben. Es ist sehr interessant hier. Außerdem ist dein Magen wirklich leer. Aber vor allem ist dein Hunger«, mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand tippte er sich wiederholend gegen die Stirn, »hier drin. Essen ist wichtig.«

›Es ist sehr interessant hier‹ hörte sich entweder wie die hohlste Höflichkeitsfloskel jemals oder pure Ironie an – nur konnte ich Harrys Ironie immer noch nicht ablesen. Dafür verriet sein Lächeln mir, dass er sich nicht umstimmen lassen würde. Ich unterdrückte ein Seufzen und beschloss, die Situation nicht noch unangenehmer zu machen als wahrscheinlich ohnehin schon.

»Na gut.« Wieder stand ich auf, bereit für die Theke. »Was möchtest du trinken? Ich kann bestellen gehen.«

Harrys Antwort war die schlimmste, für die er sich hätte entscheiden können. Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. »Nichts.« strahlte er in perfekter Reuelosigkeit.

Nichts essen, nichts trinken. Er wollte mir gegenüber sitzen und weich in den Grübchen lächeln, während ich sowohl essen als auch trinken würde. Aber es war zu spät meinerseits; ich hatte sehr klargemacht, dass ich das Essen brauchte. »Sicher?«, fragte ich mit einem schlechten Gewissen, das unter meiner Schädeldecke hing wie eine schwere Regenwolke.

Er nickte. »Ich bin nicht durstig. Aber ich will, dass du etwas trinkst, Louis!« Mein Gesichtsausdruck schien ihn nicht zu überzeugen. »Du musst immer auf deinen Körper hören. Er sagt dir, was du brauchst und ihn am Leben erhält.«

Hätte er jetzt einen Hilde-Bruch-Ratgeber auf dem Tisch präsentiert und mir einen Kurzvortrag gehalten; ich wäre nicht überrascht gewesen. Harry konnte für zehn Minuten einsilbig sein und dann mit Kraft in der Stimme über irgendein willkürliches Thema reden. Wie faszinierend musste es sein, ihn lange und gut genug zu kennen, um das Muster dahinter erkannt zu haben. Wenn seine Eigenheiten nicht mehr überraschten. Was für eine unbegreifliche psychische Intimität, einen so einzigartigen Verstand zu verstehen.

Wie es das Beste sein musste, nickte ich geschlagen und schob mich zwischen zwei Plastikstuhllehnen hindurch in Richtung der Theke. Noch immer war die Schlange aufgelöst. Ein Mädchen mit kurzrasierten Haaren lehnte gelangweilt neben einer roten Registrierkasse, die an einer Seite eine Handkurbel hatte und mit Sicherheit teurer gewesen war als die gesamte Sitzmöblierung auf den karierten Fliesen. Ich gab meine Bestellung auf. Käse-Brunnenkresse-Sandwich. Yorkshire Tea. Wie? Milch, kein Zucker, bitte. Zitrone? Nein, danke. 4.5£.

Zwei Minuten und ich hielt ein schmales Tablett aus gepresstem Bambus in den Händen. Vorsichtig balancierte ich es zurück zu dem kleinen Tisch, an dem Harry und sein weitäugiger Blick auf mich gewartet hatten.

»Harry?«, fragte ich, das Tablett mit dumpfem Laut auf der Tischplatte landend. »Ich wollte dich etwas fragen.«

Er lächelte. Es schien, als wäre das etwas, das er gerne tat. Gerne in meiner Gegenwart? Hoffentlich. »Das ist schön, Louis.«, erwiderte er mit so ehrlicher Freude in der Stimme, dass ich hoffte, jemand anderes hatte es gehört. Aber ich wollte mich jetzt nicht umdrehen, um mich nach potentiellen Augen und Ohren auf uns umzusehen.

Denn natürlich nahm ich seine Aus- als Zusage. Irgendwie glücklich schloss ich meine Hände um die dampfende Teetasse. »Wie alt bist du?«

Der neugierige Blick auf die Kruste meines Sandwiches stürzte in einem Turbulenzregen seiner Augenlider. Für einen winzigen, naiven Moment dachte ich, er hätte etwas im Auge. Doch dann stoppte sein Blinzeln, keine Tränen benetzten das Grün. Ein langer Atemzug verließ seine Lungen; Konzentrizität auf der Teeoberfläche. War er okay?

»Alt?«, fragte er mit langsamer Zunge.

»Ja? Dein Alter?« Plötzlich verunsicherten seine starr gewordenen Lippen auch mich. »Oder ist das eine zu persönliche Frage?«

Als gäbe es keine Antwort, starrte Harry stumm durch mich hindurch. Es war keine schwierige Frage und Zayn schüttelte entschuldigend in meinen visuellen Gedanken den Kopf. Harry sollte mir ohne Hintergedanken antworten können. Das hier war nicht richtig.

»Harry?«, erinnerte ich ihn, unsicher, wie sehr mich sein Zögern beunruhigen sollte. Seine leicht geöffneten Lippen schienen verloren in seinem unbewegten Gesicht.

»Ich-«, setzte er an und blinzelte in das Licht der surrenden Deckenlampe. »Ich bin fast so alt wie du. Ein bisschen älter.«

Überrascht ließ ich mein unberührtes Sandwich sinken. Älter als ich? Das war gut, sehr gut! Aber ich hätte ihn eher ein oder zwei Jahre jünger geschätzt. »Zweiundzwanzig?«, erkundigte ich mich und musste meine Lippen zum Lächeln ermutigen. Dreiundzwanzig traute ich ihm nicht zu. Oder zumindest 24 nicht.

Er senkte den Kopf, als wäre ihm das Licht zu hell geworden. Durften sich weiche Locken so sehr der Schwerkraft fügen?

»Ja.«, bestätigte Harry. »Darf ich jetzt etwas anderes fragen?«

Erleichtert führte ich das krümelnde Brot jetzt wirklich zu meinem Mund. »Natürlich.« Ich nahm einen großen Bissen, so groß, wie ich mich traute, in Harrys Gegenwart den Mund zu öffnen. Aber ich war hungrig. Und allein die Existenz von irgendetwas auf meiner Zunge ließ meinen Magen irre werden.

»Louis. Wieso bist du hier?«, fragte Harry, ohne Neugier dieses Mal, nur...Unverständnis.

Ich kaute lange genug, um mir nicht wie ein Idiot vorzukommen – kurz genug, um...mir nicht wie ein Idiot vorzukommen. »Mh.«, setzte ich an, einen Finger als Bitte zur Geduld erhoben. Ich schluckte, zu trocken, aber mein Tee war heiß. »Jetzt. Tut mir leid. Wieso ich hier bin? Welches hier? Hier im Café?« Mit einer lockeren, ausladenden Bewegung des Handgelenks malte ich die Luft um uns herum nach.

»Nein. In Manchester.«, berichtigte Harry, aber meine Geste schien ihn jetzt fast genauso zu interessieren, wie seine Frage selbst. »In Manchester.«, wiederholte er entschlossener. »Du warst als Kind nicht hier..? Jetzt schon. Wieso?«

Obwohl ich es nicht sollte, schaffte ich es nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Weise, wie er redete, könnte eines unserer Theorie und Text Beispiele sein. Kurze Sätze, repetitiv. Weißes Kleid, große Augen, nackte Füße. Was sollte sein fliegender Blick uns symbolisieren? Seine Introversion? Die Überforderung der neuen Situation? Die Unsicherheit, mir in die Augen zu sehen, weil die Wölbung meiner Augenbrauen und die Form meines Kiefers ihn so sehr an seinen eigenen Vater erinnerten, der nicht nur seine Mutter, sondern auch ihn selbst zurückgelassen hatte, als die Welt ihr Gewicht für eine Sekunde zu lang auf die Schultern zweier hilfloser Menschen fallen ließ? Zu wenig Information, zu viel Spekulation. Wir würden weiterlesen müssen, um das herauszufinden. Jede Seite voran ein weiterer Schritt in die Vergangenheit. Einen Schritt vor, zwei zurück? In der Literatur das Beste, was passieren konnte.

Aber ich durfte Harry nicht wie einen auskalkulierten Buchcharakter analysieren.

Und ich hatte seine Frage vergessen.

»Wie bitte?«, fragte ich, bevor zu viel Zeit verstreichen konnte. Akustisches Unverständnis war keine volle Lüge, eigentlich schon, und ich hätte etwas anderes sagen sollen, zu spät, sah er mir meine Verlegenheit an? Hoffentlich nicht, das wäre nicht fair, mir würde es immer gelingen, alles kaputt zu machen. Ich lächelte entschuldigend. »Nicht ›wie bitte‹«, ruderte ich doch noch zurück. »Ich habe dich verstanden. Ich habe es nur vergessen. Ich war kurz in Gedanken, tut- Das mit den Ich-Sätzen ist wirklich eine Angewohnheit! Tut mir leid. Bitte wiederhol deine Frage nochmal, Harry. Dann kann ich antworten.«

Zurecht verwirrten meine Worte ihn, sein Mund stand für ein paar Sekunden offen. Dann riss er sich zusammen, zu meinem Glück. »Wieso«, begann er und schon mit dem ersten Wort war meine Erinnerung zurückgekehrt – aber zu spät, »bist du hier?«

»Ja! Stimmt! Tut mir leid, Harry, wirklich. Ich bin unaufmerksam. Wieso ich hier bin! Fürs Studium meinst du, oder?« Ich griff nach der großen, dampfenden Tasse. »Also...für mich kamen irgendwie alle Gründe zusammen. Ich komme aus Doncaster. Da wollte ich nicht bleiben.«

»Wieso?«, fiel Harry mir ins Wort, aber nicht wirklich.

Ich zuckte mit den Schultern. »Warst du schon mal dort? Es ist- du warst schon dort?«, fragte ich überrascht, als Harry etwas verzögert nickte.

»Ja.«, bestätigte er lächelnd.

»Hey, cool! Dann kannst du dir meine Gründe ja denken. Keine schlimme Stadt, immerhin mein Zuhause, aber kein Ort, an dem ich mein Leben verbringen will. Besonders nicht meine Zwanziger. Donny, Arbeiterstadt, alles schön und gut, ich liebe es, aber naja; es gibt Besseres, wenn man sein ganzes bisheriges Leben dort verbracht hat.«

Langsam pustete ich Minimumswellen in meinen Tee, er wäre schon trinkbar; die breite Tasse spannte die Oberfläche groß genug zum Abkühlen. »Außerdem wusste ich, was ich studieren wollte. Doncaster hatte nur ein College...wäre also sowieso nicht in Frage gekommen. Und jetzt denkst du dir vielleicht ›Englische Literatur? Wieso ist er nicht in Oxford?‹, aber da wurde ich nicht angenommen. Mein bester Freund auch nicht, und wir wollten gerne gemeinsam irgendwohin gehen. Ja, wie die Paare aus der Oberstufe, die nach dem Abschluss zu viel Angst haben, sich voneinander zu trennen. Für Cambridge standen unsere Chancen nicht schlecht, aber da wollten wir nicht hin. Je traditioneller die Uni, desto mehr Folter. Kompromisse für die Pädagogik unserer Studenten, damit sie ausgeglichen lernen können? Nein, danke! Und Cambridge ist winzig. Einfach nicht wirklich meine Vision.«

Harry schien an meinen Lippen zu hängen – wirklich an meinen Lippen? – und deswegen musste ich einfach fortfahren. »Die nächstbesten Unis für Englisch sind das UCL und King's, aber...nichts und niemand würde mich nach London kriegen. Nur über meine Leiche. Also ja; Manchester. Es ist wirklich eine gute humanwissenschaftliche Fakultät  hier. Sage ich jetzt so, aber ich weiß nicht, wie gut Kunst ist. Jedenfalls mag ich die Stadt. Es ist nicht zu weit weg von meiner Mum, die Menschen könnten schlimmer sein und, ja, alles in allem bin ich zufrieden mit meiner Wahl.« Ohne meinen Blick von Harry zu nehmen, schlürfte ich vorsichtig etwas von meinem Tee ab. Er war problemlos trinkbar. Milch über alles. »Wieso hast du dich für Manchester entschieden, Harry?«

Meinen Tee fand er so interessant wie das Sandwich – von dem ich jetzt beschlossen hatte, es in Stücken zu essen, die ich vorsichtig mit den Fingern abbrach. Das erschien mir wie eine gesprächstauglichere Variante. Noch unruhiger als das Essen selbst machte mich allerdings Harrys ruheloser Blick. Ich könnte ihm etwas anbieten, aber das bei Tee aus derselben Tasse und einem angebissenen Sandwich zu tun, war vielleicht unangenehmer, als es nicht zu tun..? Außerdem hatte er ausdrücklich gesagt, dass es okay war, wenn ich aß und er nicht. Es wäre einfacher gewesen, wenn er auch etwas bestellt hätte. Aber war das nicht der Punkt? Sollte ich nicht lernen, mich unabhängig davon zu verhalten, was mein eigenes Gehirn mir vorspielte, wenn Harry selbst gesagt hatte, dass es ihm nichts ausmachte? Wieso vertraute ich mir selbst mehr als Harry, wenn es um Harry ging? War das Egoismus, in seiner hübschesten Form?

Vielleicht. Aber es spielte keine Rolle, denn mein Egoismus wurde mir nur eine Sekunde später in anderer Form bewusst, als Harrys Zunge gegen seinen Gaumen schlug. Ich hatte ihm eine Frage gestellt, und zu lange gebraucht, um zu bemerken, dass er zu lange brauchte, um zu antworten.

»Ich habe mir Manchester nicht ausgesucht.«, sagte er zögerlich.

Ich zog ein rundes Blatt Brunnenkresse zwischen den Brotscheiben hervor und legte es mir auf die Zunge – und versuchte abzuwägen, wie ich seine Miene deuten sollte. Gar nicht, wahrscheinlich. Ich sollte einfach fragen.

»Magst du mir erklären, was du damit meinst?«, hakte ich vorsichtig nach. »Wurdest du nur hier angenommen oder, ähm, konntest du nur aus einem anderen Grund hierher? Ich weiß nicht; Familie..?« Es war eine Frage, die ich nicht hätte stellen sollen, aber zu spät. Ich sah ihn entschuldigend an und griff wieder nach meiner Tasse.

Harry war überfordert, schmerzhaft offensichtlich. »Ja«, antwortete er auf meine ›Oder‹-Frage, und ich wusste, dass es nicht ›Ja, ich wurde nur hier angenommen‹ oder ›Ja, es gibt noch einen anderen, familiären Grund‹, sondern einfach nur ›Nein, ich mag es dir nicht erklären, aber lass es mich nicht aussprechen müssen‹ hieß. Ich war ein Idiot. Themenwechsel!

»Wie war deine Woche, Harry?«, fragte ich so munter wie möglich, und brach mir ein großes Stück Sandwich ab, schob es mir in den Mund, um ihm zu signalisieren, dass ich bereit für eine ausführlichere Antwort von ihm war. Ich redete zu viel über mich, oder nicht? Was hatten unsere bisherigen Gespräche über Harry verraten? Nicht viel.

Aber er legte nur seinen Kopf schief. »Wieso stellst du dieselbe Frage nochmal?«

Sofort hielt ich im Kauen inne. Hatte ich ihn wirklich schon danach gefragt? Ich konnte mich nicht erinnern, und wahrscheinlich war das das Schlimmste daran. »Oh«, war alles, was ich mit halbvollem Mund herausbringen konnte. »Tut mir leid.«, schob ich nach behelfsmäßigem Schlucken hinterher. Meine Finger klebten. »Ganz vergessen.« Er hatte recht. Vorhin, auf der Bank, hatte ich ihn gefragt.

»Wie weißt du so viel«, fragte Harry amüsiert, »wenn du so viel vergisst?«

»Das ist der Irrtum, Harry. Ich weiß nicht viel.«

Große grüne Augen geweitet vor Schock; Harry wirkte auf einmal höher auf seinem Stuhl. »Du weißt so viel mehr als ich! Wenn es um die Dinge geht, die du gelernt hast.«

Ich krümelte ein bisschen an meiner Sandwichkruste herum. »Nein, Harry. Meinst du Sachen, die ich im Studium lerne? Erstens zählen die nicht und zweitens ist dein Studium viel anspruchsvoller, in der Hinsicht. Wir haben darüber geredet, im ersten Semester; über Kreativität und Intelligenz. Dass Kreativität die höchste Form von Intelligenz ist, weil man Wissen nicht nur abruft, sondern neu erschafft. Ich glaube, da ist etwas dran.«

Jetzt hing Harry wirklich an meinen Lippen, ohne Zweifel. Ich konzentrierte mich auf seine Augen. »Aber ich habe nicht von Intelligenz geredet.«, erwiderte er mit langsamer Zunge. »Sondern Wissen. Das ist nicht dasselbe.«

Fast hätte ich den Mund geöffnet, um ihm zu erklären, dass er mit seiner sicher nicht mit meiner vergleichbaren Kreativität eine unendliche Quelle von neuem Wissen hatte, aber dann war ich mir doch nicht sicher, ob das wirklich stimmte. Also benutzte ich meinen Mund dazu, jetzt doch wieder direkt von meinem Sandwich abzubeißen. Ich kaute ein bisschen, ließ mir Zeit, dann nickte ich. »Das stimmt.«

»Ich weiß.«

Ich lächelte, schluckte. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, mich so weit nach hinten zu lehnen, dass ich seine nackten Füße unter dem Tisch sehen konnte. Nicht möglich, nicht angemessen, nicht, was ich wirklich wollte. Aber ich sollte es tun, oder nicht? Harry brach die Regeln und was hätte es für einen Sinn, wenn nicht, um wahrgenommen zu werden? Nein, natürlich nicht. Es wäre dumm von mir, das auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu denken.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter.

»Harry, darf ich noch etwas fragen?«

Seine Zunge schien sich so langsam zu bewegen, als er sprach. »Ja.«

»Als Vorwarnung; es ist wieder eine der Fragen, die du wahrscheinlich zu oft beantworten musst. Die beweist, was für ein naiver, neugieriger Mensch ich bin, und wie interessant und individuell du bist. Die Alliteration war beabsichtigt. Merkt man mir an, dass ich zu viel lese? ›Originell‹ wäre aber natürlich das bessere Wort gewesen. Aber kein ›I‹. Obwohl, eigentlich auch nicht die beste Wahl. Einmal ist es nicht wahr, weil ich eine zweidimensionale Sicht auf das Thema habe, und außerdem will ich individuell – oder originell – nicht mit interessant gleichstellen. Oder eher; ich will nicht-originell nicht mit nicht-interessant gleichstellen. Ohne sagen zu wollen, dass ich interessant bin, weil ich Schuhe trage.«

Harrys Mund schwebte verwirrt, seine Unterlippe berührte die geraden, oberen Schneidezähne. »Was ist die Frage, Louis? Ich verstehe dich nicht.«

Ich Idiot. »Ja. Also nein; natürlich verstehst du mich nicht.« Ich klammerte mich an meine Teetasse und beschloss, dieses Mal wirklich auszustrahlen, dass ich eine längere Antwort erwartete. »Ich wollte fragen, wieso du keine Schuhe trägst.«

Vor meinem inneren Auge sah ich, wie seine Zehen sich nacheinander auf den kühlen Fliesen unter die schützenden Ballen der nackten Füße rollten. Und wie Zayn hochkant mit seiner zerfledderten, gold-gelben Ausgabe von Tanizakis ›The Tattooer‹ nach mir werfen würde, wenn er meine Gedanken lesen könnte. Berechtigt, aber unwahr.

Harry schien meine Gedanken auf die eine oder andere Weise – vermutlich eher die andere – zu teilen, denn in einer wackeligen Bewegungen rutschte er mitsamt seines Stuhles vom Tisch ab. Langsam beugte er sich hinab und musterte unsere Füße; seine, meine; seine Pupillen zuckten. »Ich habe noch nie Schuhe getragen.«

»Noch nie?«, fragte ich ehrlich interessiert und versuchte, aus seiner konzentrierten Miene die Art von ›noch nie‹ herauszulesen, die er meinte. »Und wieso? Kommt das von...deiner Familie?«

Grenze überschritten? Sein Blick war unlesbar. Hübsche Augenbrauen, hübsches Pokerface.

»Nein.« Harry rückte ein wenig ungeschickt wieder zurück an den Tisch heran. Die Gummifüße seines Stuhls quietschten. »Aber meine Mutter hat auch keine Schuhe getragen.«

Die Zeitform ließ den Satz in meinen Ohren nachringen und ich wusste nicht, um wen von uns beiden ich mir mehr Sorgen machte. Und natürlich traute ich mich nicht, zu fragen. Nicht direkt zumindest. Harrys Mutter hatte keine Schuhe getragen? Lebte er die Angst, die mich nachts zitternd einholte? Ohne Frage würde ich keine Antwort bekommen, aber ich würde nicht fragen. Und vielleicht wollte ich die Antwort nicht mal wissen. Lieber beim Thema Schuhe bleiben.

»Also bist du schon barfuß gelaufen, als du noch klein warst?«, hakte ich nach und hoffte, dass er mir die verdrängte Frage nicht ansah. Oder vielleicht hoffte ich doch das Gegenteil. Wäre es möglicherweise hilfreich, mit jemandem wie Harry darüber zu reden? Ich hatte nicht den blassesten Schimmer.

»Gelaufen?«, fragte er in dem sanften Ton, den seine Stimme auf gewisse Weise erschaffen zu haben schien. »Ja.«

»Wow.« Ich nahm noch zwei Schlucke von meinem Tee, der sinkende Flüssigkeitsspiegel erinnerte mich für einen kurzen Moment an die Vergänglichkeit von allem, aber ich blinzelte sie weg. »Ich bin ganz empfindlich. An den Füßen.«

Harry nickte mit müden Augen, als wäre das ein Fakt, der ihm alle Kraft raubte. Wahrscheinlich bekam er das alle drei Stunden zu hören. Ich konnte mich trotzdem nicht dazu bringen, meine weitere Ausführung zurückzuhalten.

»Ich konnte noch nie gut barfuß laufen. Nirgendwo. Heiße Straßen im Sommer? Wie machst du das, Harry? Und hast du keine Angst vor Scherben?« Auch die dritte Standardfrage lag mir noch auf der Zunge, aber ich verkniff sie mir: Findest du es nicht eklig?
Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, mein viel kleiner gewordenes Sandwich weiter zu zerpflücken. Und zu beobachten, wie Harry lange für eine Antwort brauchte, die er schon zu oft hatte geben müssen.

»Ich bin noch nie auf einer heißen Straße im Sommer gegangen.«, verkündete er nach ein paar Sekunden einer Fixierung seiner hübschen, grünen Augen auf den Brotkrumen zwischen meinen Fingerspitzen; zwischen meinen Lippen.

Fast hätte ich gelacht. Harry benutzte seine ›Noch nie‹s anscheinend inflationär. Oder er war einfach so hart. Mit der Variante ging ich. Denn ich war mir nicht sicher, wie falsch er ein Lachen interpretieren konnte. »Dann bist du wirklich nicht empfindlich!«

»Nicht so empfindlich wie du.«, schlussfolgerte er nüchtern. »Du spürst schon Schmerz bei ein paar kleinen Kieselchen.«

Ich grinste und knabberte am letzten Stück Brotkruste herum, bevor ich zum letzten, besten Mittelteil kommen würde. »Ja. Genau so einer bin ich. Ein paar Kieselchen schalten mich aus.« Mit der Fingerspitze versuchte ich ein plattgepresstes Stück Brunnenkresse von dem glatten Brett zu pulen. Das Bild vor meinem inneren Auge tauchte auf, bevor ich es verhindern konnte. »Wie bei ›Findet Nemo‹. Obwohl. Da ist das Kieselchen nicht die Gefahr, sondern der Schutz, oder?«

Harry legte verwirrt den Kopf schief. »Wer ist Nemo?«

Verloren versuchte ich, seine Mundwinkel zu lesen. Es war nicht sein trockener Humor. Er meinte es ernst. »Nemo? Aus dem Film? Der Clownfisch?«

»Clownfische müssen schwer zu finden sein. Sie sind sehr klein.«, stellte Harry fest, und dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass es ein humorvoller Kommentar war.

Ich gab mir Mühe, weich zu grinsen. »Ja. Aber weißt du, was ich gerade realisiert habe? Ich hab mich selbst als Literaturstudent disqualifiziert. Jules Vernes Herz wäre gebrochen.«

»Wer ist Jules Verne?«

Ich konnte nicht gegen das Lächeln ankämpfen. Wieso brach Harry alle Regeln, die mein Unterbewusstsein jemals aufgestellt hatte? Wie? Ich hatte immer angenommen, Kunst und Literatur würden in derselben Blase existieren. Vielleicht, weil ich wusste, wie Zayn fast vierzig Minuten vor dem ›Paint-Pot Angel‹ in der Banksy-Ausstellung gestanden und seine Second-Hand-Ausgabe von ›Wall and Piece‹ auseinandergenommen hatte. Literatur war Kunst. War Kunst Literatur? Nicht unbedingt.

Aber Harry? Er hatte eine Wolke künstlerischer Mystik um sich schweben; die Spitze über seinen Handgelenken, sein Gang, das vage Lächeln. Doch hatte er die Wolke je verlassen? Wie war er aufgewachsen, dass er weder Jules Verne noch ›Findet Nemo‹ noch Gower kannte? Einhundertprozentig ruhte in seinem Kopf die unendliche Tiefe, stundenlang über van Goghs und Matisses Pinselstriche und Tode zu reden, aber es sprengte meine Vorstellungskraft, dass es eine scharfe Linie als Abgrenzungen zu Kunstformen wie der Literatur gab. Visuell. Verbal. Vielleicht würde ich ihn wirklich zu Banksy fragen müssen.

»Jules Verne.«, begann ich, weil die Fragezeichen nicht aus seinen Augen schwanden. »Ein berühmter französischer Schriftsteller. Du kennst bestimmt was von ihm. ›Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‹? ›Reise um die Erde in 80 Tagen‹? Nein? Beides nicht? ›20.000 Meilen unter dem Meer‹? Auch nicht? Ein Hauptcharakter ist Kapitän Nemo. Deswegen habe ich- nicht so wichtig. Darf ich dich was fragen, Harry? Ohne, dass es klingen soll, als wäre ich ein Snob?«

Harry nickte. »Ja. Darf ich auch etwas fragen?«

»Ja!«, erwiderte ich schneller, als ich es mir zugetraut hätte. Es wäre eine Erleichterung, Harry ein wenig der Gesprächsführung übernehmen zu sehen. Ganz abgesehen davon, dass ich seine Gedanken hören wollte, ohne das Gefühl haben zu müssen, sie selbst indiziert zu haben. »Frag du zuerst bitte.«

Harrys Finger sortierten sich sanft auf der Tischplatte neu. Seine Fingernägel waren rund und sauber. Der Herbst war noch nicht weit genug fortgeschritten, um seine Haut auszutrocknen. »Es waren Werke eines Schriftstellers, die du gerade aufgezählt hast? Das hast du gesagt..? Jules Verne?«

Ich nickte eilig, weil ich wusste, dass die eigentliche Frage noch anstand. »Ja; Romane. Er hat aber auch anderes geschrieben. Dramen? Glaube ich. Es gibt ein Essay von ihm über Edgar Allan Poe! Verrückt, ich sag's dir. Ein absoluter Zusammenstoß der Welten. Wenn du-«, ich biss mir rechtzeitig auf die Zunge. Das ›Wer ist Edgar Allan Poe?‹ stand ihm deutlich auf die Stirn geschrieben – und ich realisierte, dass ich das Gespräch schon wieder an mich gerissen hatte. Harry machte mich zu einem Gespräch-an-sich-Reißer. Das bedeutete nicht nichts. »Entschuldige. Was wolltest du fragen, Harry?«

Er überspielte meine Respektlosigkeit gut. »Worum geht es in ›20.000 Meilen unter dem Meer‹?«

Ich versuchte, ihm anzusehen, ob er nur aus Höflichkeit fragte, weil er sehen konnte, dass ich gerne über Literatur redete. Aber er schien zu fragen, um die Antwort zu hören. Die würde ich ihm nicht verwehren. »Kapitän Nemo. Und Aronnax, einen Meereswissenschaftler. Aronnax ist Jules Verne. Sie suchen ein Meeresungeheuer, aber finden Nemo und seine Nautilus. Aronnax und seine Begleiter, meine ich. Nemo lässt sie nicht mehr weg und sie erleben eine Menge Abenteuer auf dem Meer.«

»Unter dem Meer?«

Ich lächelte. Mein Sandwich hatte sich auf einen kleinen Rest reduziert, der unter dem Druck meiner Fingerspitzen an den Rändern hervorquoll. »Mal so, mal so. Aber ja; auch unter dem Meer.«

»20.000 Meilen?«, stocherte Harry weiter.

Etwas verwirrt schob ich mir das verbliebene Brot in den Mund. »Ja?«, erwiderte ich gedämpft und begann erst danach mit dem Kauen.

Harry betrachtete verloren meine matschigen Finger. »Aber das Meer ist nicht 20.000 Meilen tief!«

Ich hatte mir keine Serviette mitgenommen. Großartig. »Vielleicht war das noch nicht bekannt zu Jules Vernes Zeiten.«, gab ich zu Bedenken und traute mich genauso wenig wie Harry, meine Finger aus den Augen zu lassen.

»Das Meer ist nirgendwo tiefer als 7,41544381 Meilen.«, argumentierte Harry weiter, leidenschaftlich, und ich staunte nicht schlecht über sein Fachwissen. »Der Erddurchmesser ist mehr als das Tausendfache. Fast 8000 Meilen. Aber das ist trotzdem nur ein Bruchteil von den 20.000 Meilen! 20.000 Meilen unter dem Meer wäre schon längst im Weltall. Außerhalb der Erdatmosphäre.«

Ich nahm das etwas schamlose Fingerablecken als Ausrede, mein Lächeln verstecken zu können. Also war Harry doch nicht nur ein rein kreativer Kopf; er konnte mathematisch denken. »Hey, eigentlich passt es gut. Weißt du, worum es in seinen nächsten Büchern geht? Mondflüge.«

Harry setzte sich gerader auf. »Als Mensch zum Mond zu fliegen ist sehr gefährlich.«

Ich nickte. »Ja. Das ist wohl wahr. Aber das wussten sie wahrscheinlich sogar schon zu Jules Vernes Zeiten.«

Harrys Augen flatterten für eine Sekunde, er schielte wenig unauffällig in meine fast leere Teetasse.

»Harry«, begann ich so sanft wie möglich. Sein Name war weich an meinem Gaumen. »Darf ich was fragen, ohne, dass ich etwas damit andeuten will?«

Er zögerte, oder auch nicht. »Ja.«

Ich griff nach meiner Teetasse. Vielleicht würde es so wie ein beiläufigerer Kommentar klingen. Und keine unterschwellige Beleidigung. Es fiel mir ganz und gar nicht schwer, mich das vor meinem inneren Auge vermasseln zu sehen. »Bist du müde? Du...«, ich wollte abbrechen – den Satz sollte ich mir sparen – aber jetzt hatte ich sowieso schon angesetzt und die Frage selbst war die logische Folgerung des Gedankens. »Du siehst müde aus.«, schob ich also vorsichtig hinterher.

Anderen zu sagen, dass sie müde aussahen, war nie ein Kompliment. Ich wurde jedes Mal unsicher, wenn ich das zu hören bekam. Danke, dass du mich auch noch auf meine tiefen Augenringe aufmerksam machst, wirklich nett.

Aber bei Harry war es nicht mal unterschwellig oder -bewusst negativ gemeint. Ganz abgesehen davon, dass ich es gar nicht genau benennen konnte; unter seinen Augen lagen keine Schatten, sein Rücken hing nicht durch. Er sah einfach unerklärlich müde aus. Fertig. Kraftlos. Und meine Vernunft schaltete sich erst eine Sekunde zu spät ein, als sie mich für diesen Gedanken verurteilte, aber; seine Müdigkeit war ästhetisch. Er war hübsch in seiner Müdigkeit. Tragische, verborgene Müdigkeit.

Aber nein. Nein nein nein. Das war kein fairer Gedanke. Gelegentlich holte all das Lesen mich ein, und es waren keine Glanzmomente. Harrys Augen waren glasig, aber es waren keine bodenlosen Traumsphären. Er war einfach müde.

Doch natürlich, genau wie ich es hätte erwarten sollen, schüttelte er den Kopf. »Ich bin nicht müde.« Und ich war das Arschloch. Ganz toll. Wieso verleiteten angenehme Atmosphären mich immer dazu, etwas zu tun, das sie aufs Spiel setzten? Ich hatte es gewusst! Es wäre so einfach gewesen, Harry nicht mit einer Unterstellung zu beleidigen, die nicht mal wahr war.

Doch jetzt sahen sogar seine Schultern schwer aus. Ich konnte nicht anders. »Harry, ich will nicht gemein sein, wirklich nicht«, hier das Salz. »Aber; geht es dir wirklich gut?«, da die Wunde.

Harrys Kopf sank langsam zu einer Seite, seine Augen hätten alles wissen können. Es ging ihm nicht gut. Und ich kannte ihn zwar erst seit einer Woche, aber ich wusste, dass er mir dieses Wissen nicht auferlegen würde. Ob es an fehlendem Vertrauen, Unsicherheit oder Schutzmechanismen lag; keine Ahnung.

Aber ich wusste, was zu tun war. Während Harry mit einem hübsch gelogenen ›Ja, Louis.‹ meine Frage beantwortete, leerte ich die Teetasse über prall gefüllte Wangen. Wärme rann weichend durch meine Brust, verlor sich mit meinem Unwissen über meine Speiseröhre irgendwo in meinem Oberkörper. Ohne weiteres Zögern stand ich auf.

»Ich denke, ich will nach Hause fahren.«, verkündete ich die Halbwahrheit, die ihn vor seiner eigenen Bescheidenheit retten würde. Wenn ich ihm den Eindruck gab, dass ich nicht mehr bleiben wollte, dann könnte auch Harry ohne schlechtes Gewissen gehen. Ich würde ihn nicht festhalten. Weil mir kein allzu plausibler Grund auf die Schnelle einfiel, klammerte ich mich an die blühende Re-Projektion in all ihrer Offensichtlichkeit. »Ich bin wirklich müde.«

Skeptisch — zumindest in meiner Paranoia – öffnete Harry seinen Mund, schloss ihn wieder. Auch er stand auf, holprig. »Louis?«

»Ja?« Ich griff nach meiner Jacke über der dünnen Stuhllehne und schlüpfte hinein.

Harry trug keine Jacke. Wer brauchte schon Schuhe und Jacken? Hatten die 60-er es uns nicht besser gelehrt? Zayn würde lachen. »Wieso lügen Menschen?«

Kurz erstarrte ich in meiner Bewegung, aber entschied mich schnell genug dazu, nicht einzufrieren. Ich wollte nicht auf Harry reagieren, wie der Rest der Menschheit es tun musste. »Ähm«, setzte ich an – brillant, wie ich sein konnte. Harry stellte Fragen, die ich in zwanzig-seitigen Hausarbeiten nicht endgültig beantworten konnte. Wie konnte ein Kopf angetrieben von Paradoxen und Zweifeln funktionieren?

Und, was mich in dieser Sekunde fast noch mehr interessierte; wie übersetzte sich Harrys geniale Willkürlich- und Tiefgründigkeit in seine Kunst?

»Weil sie Fehler machen.«, setzte ich an. Volles Bewusstsein des vernachlässigten Denkprozesses. »Fehler machen werden. Und das wissen. Lügen retten uns vor der Wahrheit.«

Etwas an dieser Antwort ließ ihn fundamental empört aussehen und erschrocken reflektierte ich über meine Worte. Was hatte ich gesagt, das er falsch verstanden hatte? »Keine Ahnung, ich weiß es nicht.«, schob ich hinterher. »Menschen machen selten Sinn, oder?«

Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder. Mit dem Klappern eines zweckentfremdeten Windspiels verließen wir das Café. »Du hast recht, Louis.«

Ich grinste. »Meine Lieblingsworte. Danke.«

»Bitte.« Auch Harry lächelte – wieder, endlich. Seine Augen wirkten auch unter milchigem Himmel noch glasig, aber seine Lippen formten das entspannte Gesicht zu einer neuen Komposition von Frieden. »Du gehst jetzt nach Hause.«, wiederholte er meine Ausrede, als ich über die großen Steinplatten hinweg mein angeschlossenes Fahrrad ansteuerte. Meine Ausrede für ihn.

»Ja, ich denke schon. Ich bin müde. Es wird gut tun, meine Schuhe ausziehen zu können und etwas zu essen. Ach nein, ich habe ja gerade eben etwas gegessen. Aber ich muss noch ein bisschen lesen. Hast du noch was zu tun heute? Lernen?«

Suchend glitt Harrys Blick über die Fahrradständer. Es waren sicher nicht mal 15 Fahrräder vor uns, aber Harry schien sich nicht mehr daran erinnern zu können, welches meins war. »Ich habe den ganzen Tag gelernt.«, erklärte er mit einem flüchtigen Blick auf meine Wangen, die langsam auskühlten.

Ich führte Harry zu dem Fahrrad, das er nicht fand. »Also war es das jetzt? Mit dem Lernen? Oder musst du noch mehr machen?«

Er beobachtete die Bewegungen meiner Finger, als ich das Schloss öffnete. Es wäre mir fast unangenehm gewesen. Fast. »Ich muss zurück nach Hause.«, berichtete Harry mit einer Stimme, die ihm Recht gab. »Wie du. Dann werde ich noch einen reflektierten Bericht über den Tag geben müssen.«

»Einen Bericht über den Tag?«, fragte ich neugierig und einen Tick zu schnell. »Oh!« Ich begriff es doch. Er schrieb Tagebuch. Wie schön. »Schon verstanden.«, versicherte ich.

Gerne hätte ich mich mit ihm darüber unterhalten – wie sah Harrys Schrift wohl aus? – aber ich wollte gehen, weil er es wollte. Er sollte nach Hause kommen, sich ausruhen, in seinem Tagebuch in einer kalligraphischen Schrift meinen Namen schreiben. Louis. Es war ein schöner Name, wenn ich darüber nachdachte, wie Harrys Finger ihn mit Tinte formten. Illusionen waren meine Lebensretter.

Mit rötlichen Fingerkuppen schlang ich das Fahrradschloss um den Lenker. Abschiede waren am wenigstens unangenehm, wenn sie kurz waren. »Na dann.«, sagte ich in einem hoffentlich eindeutigen Tonfall. Übereilig, ja. Aber ich würde Harry nicht weiter aufhalten. »Es war schön mit dir. Im Café. Vielleicht können wir ja nächstes Mal gehen, wenn du auch hungrig bist.«

Er blinzelte der Wolkendecke entgegen. »Ich fand es auch schön mit dir, Louis.«

Gute Worte, keine Phrase, ich wiederholte es in meinem Kopf. Wenn ich nicht glaubte, dass er es ernst meinte, erkannte ich ihm seinen Willen ab. Und konnte das warme Gefühl in meiner Brust genießen. »Das freut mich. Danke, Harry.« Im nötigen Winkel schwang ich mein Bein über den Sattel. »Wir laufen uns bestimmt bald wieder über den Weg. Das hat in letzter Zeit ja gut geklappt.«

Konnte er hören, was meine Stimmlage verraten sollte? Vielleicht. Beim Anblick seiner nackten Füße schlich sich eine Gänsehaut an meinen Handgelenken hinauf. Er nickte. »Bestimmt.« Er trat einen Schritt zurück, als müsste er mir und meinem Fahrrad den Weg frei machen. »Ich hoffe es.«

Ich lächelte ehrlich, und nutzte den Moment. Aufhören, wenn es am schönsten ist. Mit einem leichten Tritt stieß ich mich vom Boden ab. Langsam rollte ich an Harry vorbei. »Ich auch.«, bemühte ich mich, beide Worte zu betonen. Ich trat in die Pedale und merkte mir Harrys Gesichtsausdruck so gut wie möglich. »Bis dann, Harry! Komm gut nach Hause!« 
Und so ließ ich ihn stehen.

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Für lange Fahrten und kurze Pausen von lauten Familien und ganz, ganz viel Schokolade! Frohe Ostern, nochmal :)

(+) Das Gespräch macht keinen Sinn
Nicht in Manchester. Aber vielleicht können wir das ignorieren..? Es wird Kompromisse geben müssen und Deutsch und Englisch sind leider nicht dasselbe. Wenn ihr das auch könnt, sehe ich darüber hinweg :) Jules Verne brauchen wir nicht zu fragen.

((16. April? I belong to no one like the watermelon))

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