𝐗𝐋𝐕𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Es war eine meiner eher raren spontanen Entscheidungen gewesen. Mitten in Literatur der Renaissance, frustriert von Dauerkonzentration und Lernen und dem harten Kontrast von Unistoff und der Aufregung mit Harry, hatte ich den Entschluss getroffen, die abwegige Überlegung von heute Morgen wirklich in die Tat umzusetzen, und zwar sofort.
Mit dem weichen Bleistift, der eigentlich Notizen in meine Bücher kritzelte, hatte ich stumm auf dem wirren Stichpunktblatt vor Zayn eine Nachricht hinterlassen.
𝗚𝗮𝗻𝘇 𝘀𝗽𝗼𝗻𝘁𝗮𝗻: 𝗶𝗰𝗵 𝗳𝗮𝗵𝗿𝗲 𝗵𝗲𝘂𝘁𝗲 𝗡𝗮𝗰𝗵𝗺𝗶𝘁𝘁𝗮𝗴 𝗻𝗮𝗰𝗵 𝗛𝗲𝗺𝘀𝘄𝗼𝗿𝘁𝗵.
Mit Zayns skeptischem Blick auf mir fügte ich hinzu:
𝗞𝗲𝗶𝗻𝗲 𝗦𝗼𝗿𝗴𝗲, 𝗳ü𝗿 𝘂𝗻𝘀𝗲𝗿 𝗗𝗮𝘁𝗲 𝗵𝗲𝘂𝘁𝗲 𝗔𝗯𝗲𝗻𝗱 𝗯𝗶𝗻 𝗶𝗰𝗵 𝘇𝘂𝗿ü𝗰𝗸.
Seine dunklen Augen waren groß und fragend. Und dann, aus noch mehr spontaner Laune, schrieb ich auch die letzten Worte:
𝗪𝗶𝗹𝗹𝘀𝘁 𝗱𝘂 𝗺𝗶𝘁𝗸𝗼𝗺𝗺𝗲𝗻?
Eigentlich hatten wir Bibliothekspläne gehabt, auch nicht grundlos. Zayns Überraschung war sicherlich nicht nur durch die Spontanität der Entscheidung ausgelöst, sondern ebenso durch die Leichtsinnigkeit. Ich hatte noch viel zu schreiben, viel zu lesen, und die Besuche meiner Mum zweimal pro Woche waren schon ein großer Zeitverlust. Spontan nach Hemsworth? Der Weg war zwar nicht weit, aber der restliche Tag wäre verloren. Andererseits konnte ich mich damit aufmuntern, dass es nicht half, wenn ich das Vorhaben weiter in Richtung Weihnachten schob. Je früher, desto besser. Und was mich noch mehr aufmunterte; Zayn, der mit seinem schwarzen Kugelschreiber unter meine Kritzeleien schrieb.
𝗔𝘂𝗳 𝗴𝗲𝗵𝘁'𝘀 ◡̈
Und so waren wir nach unserem gemeinsamen letzten Kurs aufgebrochen. Mittwochs waren die Veranstaltungen früh vorbei, was natürlich in meine verantwortungsbewusste Planung hereingespielt hatte. Noch verantwortungsbewusster war unsere brave Stille auf der Busfahrt gewesen; Zayn fleißiger Produzent und Lerner von Karteikarten zum mysteriösen Thema ›Zurück in die Zukunft: Die Ge- und Missbräuche der Geschichte‹ und ich Verfasser der Mail an Professor Adderley, was vielleicht nicht wie eine große Aufgabe klang, aber sehr wohl war. Was ich eigentlich in einem persönlichen Gespräch überzeugend für sie erläutert hätte, musste ich jetzt in einer mindestens genauso überzeugenden Mail auffächern, ohne zu langweilen oder zu verfehlen.
Ob es mir gelang, wusste ich nicht, aber im Bus konnte ich den Entwurf sowieso nicht abschicken und nutzte dann die Zeit, um meine Nan doch anzurufen und ihr von meinem Besuch zu erzählen. Die Vorstellung, sie zu überraschen, war zwar verlockend und mit minimalem Aufwand verbunden gewesen, aber Zayn hatte recht, als er mich daran erinnerte, dass sie vielleicht nicht mal da war. Auch wenn es für ein Umorganisieren unserer Pläne in diesem Fall sowieso zu spät war.
Aber wie erwartet war sie zuhause und konnte ihr Glück gar nicht fassen. Mich zweimal innerhalb eines Monats zu sehen; und es war nicht mal Dezember! Zayn hatte ich doch noch verheimlicht. Ein kleines Überraschungselement war immer schön.
Ich konnte es auch jetzt noch nicht ganz fassen, dass Zayn wirklich mit war. Als er vor einigen Wochen gesagt hatte, dass er sicher nicht auf die Einladung eingehen würde, hatte ich ihm vorwurfslos geglaubt. Und doch war er jetzt hier. Aber als ich auf meinem Fensterplatz ein paar Minuten lang still die vorbeiziehende Landschaft beobachtet hatte, hatte ich schließlich seinen Blick auf mir aufgefangen – auch wenn er direkt unschuldig gelächelt und weggesehen hatte. Aber es fühlte sich wie die eindeutigste Erklärung an; er hatte Mitleid mit mir. Und dass ich ihn in die aktuelle Situation mit den Albträumen eingeweiht hatte, minimierte die Sache garantiert nicht.
Aber er war hier, und das war mir im Moment erstmal das Wichtigste.
In Hemsworth war es neblig und während Zayn mir auf dem Weg von der Bushaltestelle zum Haus meiner Nan von einem kontroversen Telefonat mit Doniya über das Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern erzählt hatte, war ich nicht konzentriert genug gewesen, um mich nicht zu fragen, wie vertraut Hemsworth für Zayn war. Wie sehr erinnerte er sich an die Biegungen der Straße und die drei Häuser in Folge mit rot-bemaltem Holzzaun? Wie überrascht oder nicht überrascht wäre er beim Anblick meiner Nan; welche der Falten auf ihrem mageren Gesicht waren neu für ihn? Wie viele der Regeln zu den albernen Spielen, die wir Sommer für Sommer hier gespielt hatten, kannte er noch? Vermisste er diese Zeit der Unschuld so sehr wie ich?
Meine Nan hatte die Fassung behalten wollen, als sie Zayns unangekündigtes Gesicht sah, aber sie war komplett gescheitert. Als könnten wir ihr Weinen dann nicht sehen, hatte sie die Tränen mit einem magischen Alte-Leute-Stofftaschentuch verwischt, und ihren lila-rosa Lippenstift gleich dazu. Natürlich hatte sie sich auch über mich gefreut, aber Zayn bekam dieses Mal all die Lobhymnen ab, wie groß und hübsch und erwachsen er geworden war, und sogar die Küsse aufs Ohr. Ich war ganz froh darüber und Zayn hatte es sogar tapfer geschafft, die Komplimente passend zu erwidern. Mein Hauptertrag; Tadel dafür, uns nicht gebührend angekündigt zu haben, denn jetzt war es alleine meiner fehlenden Verantwortung zu verschulden, dass sie uns nur mit eingefrorenem Kuchen von letzter Woche bedienen konnte.
Ich fühlte mich tatsächlich ein bisschen schlecht, weil der alleinige Hauptgrund für diesen Besuch mein Bedarf nach der alten Kleidung meines Grandads war. Aber ich versuchte, mein schlechtes Gewissen damit zu beruhigen, dass ich die Möglichkeit jetzt erst recht nutzte, meiner Nan meine vorbildliche Enkelsohn-Aufmerksamkeit zu schenken. Außerdem sollte sie vorerst gar nichts von meinem Vorhaben erfahren; so mein weniger vorbildlicher Plan. Aber das hielt ich aus dem simplen Grund für nötig, dass Zayn anwesend war, der wiederum der Hauptgrund für die Konstruktion dieses Planes war. Ich hatte nichts gewonnen, wenn Zayn mir beim Raussuchen der Kleidung half und sie dann unweigerlich an Harry wiedererkennen würde.
Jetzt waren wir schon über drei Stunden hier, meine Nan hatte Zayn durchs ganze Haus geführt und ihm jede Veränderung erläutert, die seit seinen Kindertagen vorgenommen wurde, und uns sogar durch den feucht nebligen Garten geleitet. Über Tee und Kuchen hinweg – Kaffee extra für Zayn – hatte sie das Gespräch erstaunlich mühelos am Leben gehalten und jetzt war alles auf das Unausweichliche hinausgelaufen; ein dick eingebundenes Fotoalbum auf Zayns Schoß, ich zu seiner Linken, meine Nan zu seiner Rechten.
»Das muss...2002 gewesen sein. Als ihr alleine losgezogen seid, ihr beiden Schelme. Ja, hier, Water Park. Mit Lens Kamera, der kleinen, und als ihr zurückkamt- Ihr wart so nass, von Kopf bis Fuß, und am nächsten Tag konnte ich euch direkt mit Fieber ins Bett stecken.«
»Aber die Kamera ist heil geblieben.«, merkte Zayn triumphierend an, warf mir ein Grinsen zu und lächelte dann auf die Bilder hinab, die wir geschossen hatten, bevor wir uns mit unserem Leichtsinn selbst ans Bett gefesselt hatten. Wir waren so vorsichtig gewesen, weil wir fest versprochen hatten, trocken zu bleiben. Aber eine Atlantisentdeckung zu inszenieren, ohne zu nah ans Wasser zu gehen, war schwierig, und als eine Schuhspitze nass geworden war, hatte das Versprechen sowieso keine Wirkung mehr gehabt. Auf den Fotos grinsten wir wie wildgewordene Tiere, getragen von einer Selbstgefälligkeit, die nur Kinder im Spiel für real halten konnten. Die mehr als 100 wackeligen Fotos, die Zayn und ich von Kieselsteinen, Wasserschnecken, Insekten, Moos und der Seemitte gemacht hatten, schienen es nach der Selektion meiner Nan aber nicht in das Fotoalbum geschafft zu haben. Wahrlich bedauernswert. All die Beweise der Existenz des versunkenen Königreiches übergangen.
Meine Nan lachte. »Ja, diese kleinen Digitalkameras; robust sind sie ja. Wenn ich da nicht schon wieder etwas durcheinanderbringe, ist mir das Ding letztens beim Aussortieren zwischen die Finger gekommen.«
»Hast du sie weggeschmissen?«, fragte ich und bereute direkt, sie nicht gefragt zu haben, ob sie die Kamera behalten hatte.
»Ich glaube nicht. Aber frag mich nicht, wo ich sie hingetan habe, Lou Lou. Das ganze Aufräumen hat nur noch mehr Unordnung geschaffen.«
»Der ewige Teufelskreis.«, kommentierte Zayn und blätterte um. Er begann, die altbekannte Geschichte unseres Chaosumzugs mit 17 zu erzählen, wie meine schlechte Schrift und ein Zufall unserer Mütter uns in heillose Panik versetzt hatten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und staunte stattdessen darüber, dass es sogar ein Bild von uns beiden sommerkranken Jungs begraben unter dicken Decken und Büchern in einem viel zu großen Doppelbett ins Album geschafft hatte. Nach zwei oder drei qualvollen und schlafreichen Tagen hatte sich das Fieber langsam gelegt und Zayn und ich hatten die strenge Bettruhe meiner Nan – nachdem pausenloses Fernsehen zu langweilig geworden war – damit verbracht, willkürliche Sätze aus dutzenden Büchern zu Nonsens-Geschichten zu kombinieren, bis das Lachen uns mehr schwitzen ließ als das fallende Fieber. Vielleicht durfte ich Harry keine Vorwürfe dafür machen, dass er meine Kindheit mit dem anstößigen Attribut ›glücklich‹ pauschalisierte, wenn niemand der Romantisierung meiner Kindheit schuldiger war als ich selbst.
Harry.
Zayn drückte sanft meinen Oberschenkel, als er wiedergab, wie ich barfuß und oberkörperfrei bei unter 8°C durch das neue Treppenhaus und nach draußen auf die Straße gerannt war. Hoffentlich unterhielt er hier nicht nur meine Nan und bereute nicht, mich begleitet zu haben.
»Bin gleich wieder da.«, fiel ich unter Zayns Lautstärke in seine Erzählung ein und drückte mich vom blassorangen Sofapolster auf. Meine Nan hing an Zayns Lippen, als hätte sie die Geschichte noch nie von ihrer lachenden Tochter gehört.
Leise ging ich die Treppe nach oben und fühlte mich verboten dabei. Obwohl im großen Kleiderschrank im Schlafzimmer meiner Nan die meiste Kleidung meines Grandads schlummerte, öffnete ich ohne weitere Überlegungen die eingelassene Klappe zum Dachboden. Ich war mir nicht sicher, wieso ich mich so seltsam fühlte, als ich die Leiter hochkletterte. Meine Nan würde mich offen mit dem Hochzeitsanzug meines Grandads hier rausspazieren lassen, wenn ich das nur wollte.
Oben auf dem Dachboden war es dunkel und ich brauchte ein bisschen, bis ich den Lichtschalter fand. Alles war ein warmes Chaos hier oben, beige und braun und staubig. Noch setzten sich die neuen Kartons allerdings von den alten ab, und ohne auf die verbotenen, unsicheren Stellen des Untergrundes zu treten, hatte ich schnell die Kartons gefunden mit der Kleidung meines Grandads, die meine Nan wahrscheinlich bald an den lokalen Charity Shop spenden würde.
Es brauchte ein paar Minuten länger, bis ich herausgefunden hatte, welches die Kartons waren, die wirklich in Frage kamen. In seinen späteren Jahren hatte mein Grandad definitiv die Proportionen überstiegen, die sich unklar unter Harrys Kleid versteckten. Aber auch das gelang mir. Ich wurde ein bisschen trauriger und ein bisschen glücklicher, als ich mit meinen orangen Dachboden-Händen durch die weichen T-Shirts und rauen Hemden suchte, die mein Grandad getragen hatte, als ich noch nicht mal auf der Welt gewesen war. Wenig selektiv sammelte ich zwei T-Shirts heraus, zwei Hemden, fand dann Pullover und Hosen. Spätestens jetzt war es selbst für mich ersichtlich, dass diese Sachen entweder fast alle noch aus den Siebzigern stammten oder mein Grandad dieses Jahrzehnt im Herzen nie verlassen hatte. Wenn ich wollte, konnte ich Harry mühelos wie Danny Zuko herumlaufen lassen. Ich musste meine Nan unbedingt mal nach älteren Bildern als denen aus Zayns und meiner ungezogenen Kindheit fragen.
»Hallo Louis.«
Seine Stimme kam von hinter mir und ich zuckte so stark zusammen, dass mein kleiner Kleiderstapel sich über den gesamten Boden verteilte.
»Harry! Du musst damit aufhören!«, keuchte ich und drehte mich zu ihm um. Noch vor seinem neugierigen Blick fielen mir die morschen Bretter unter seinen Füßen auf. »Vorsicht, der Boden!«
»Ich berühre den Boden nicht.«, sagte Harry beruhigend, ohne auch nur auf seine Füße hinabzusehen.
Natürlich berührte er den verdammten Boden nicht. »Was machst du hier?!«
Sein Kleid schien das einzige zu sein, das vom trüben Licht hier oben nicht überschattet wurde. Es strahlte schneeweiß. »Ich bin hier zur Supervi-«
»Shh!«, fiel mir plötzlich panisch ein.
»-sion.«, endete Harry verwirrt.
Ich hob eine Hand, um zu signalisieren, dass er schweigen sollte, und lauschte in die Stille. Von unten war nichts hörbar, nur ein leichtes Summen von Zayns Stimme, wenn ich meine Ohren anstrengte.
»Du musst leise sein, Harry.«, flüsterte ich, obwohl ich garantiert der Lautere von uns beiden gewesen war.
»Wieso?«, fragte Harry leise.
»Weil... Du kannst dich nicht einfach ins Haus meiner Nan teleportieren!«
»Deiner Nan?«
»Ja. Hast du ein Glück, dass du nicht einfach unten im Wohnzimmer aufgetaucht bist! Dann hätten wir das mit dem menschlichen Alibi jetzt vergessen können.« Ich sammelte langsam die heruntergefallenen Kleidungsstücke wieder auf.
»Wer ist deine Nan?«
Er bekam einen irritierten Blick von mir. »Die Mutter meiner Mum.«
»Ich bin im Haus deiner Großmutter?!«, fragte er und ich hörte ihm auch mit zugewandtem Rücken die großen Augen an.
»Ja. Siehst du jetzt das Problem?« Ich zog eine weitere helle Jeans aus dem Karton vor mir und schätzte nur grob meinen eigenen Hüftumfang ab. Musste passen.
»Darf ich sie kennenlernen?«
»Nein!« Wieso fuhr er so auf meine Familie ab? »Ehrlich gesagt solltest du jetzt am besten direkt wieder verschwinden.«
Es war eindeutig. Auch wenn es verlockend war, Harry hier ein paar der Kleidungsstücke durchprobieren zu lassen, wusste ich, dass es keine Option war. Ich konnte nicht einfach eine halbe Stunde verschwunden sein. Mehr hier oben verbrachte Zeit gefährdete nicht nur meine geheime Mission; es wäre auch garantiert nicht hilfreich, wenn meine Nan und Zayn mich hier mit einem Fremden finden würden.
»Wieso?«, fragte Harry seine Lieblingsfrage.
»Ich bin nicht alleine.«, zischte ich zurück. »Meine Nan und Zayn sitzen unten und du kannst nicht einfach überall so auftauchen, Harry!«
Ich erschrak ein zweites Mal, als er neben mir auf die Knie sank. Ich sollte ihn wirklich weniger aus den Augen lassen. »Darf ich Zayn kennenlernen?«, fragte er bittend.
Ich schüttelte den Kopf. »Bitte, Harry. Ich bin hier schon extra für dich hochgeklettert. Zeig deine Anerkennung, indem du nicht den ganzen Plan wieder kaputt machst. Bitte.«
»Für mich?«
Kapierte er wirklich nicht, was ich hier machte? »Darüber können wir später reden. Okay? Später. Aber nicht heute! Ich bin den Rest des Tages nicht mehr allein. Und du musst unbedingt erst überprüfen, ob ich alleine bin, bevor du dich einfach so aus heiterstem Himmel herbeamst! Das kriegst du doch bestimmt irgendwie hin, bestimmt.«
Erst jetzt schien ihm wirklich aufzufallen, dass meine Hände rege beschäftigt waren. Seine Augen folgten ihnen für eine Weile stumm. »Ich soll gehen?«, fragte er dann leise.
»Ja, bitte. Es tut mir leid, aber ich habe gerade wirklich keine Zeit für dich.«
Er senkte den Kopf langsam wie zu einem halben Nicken. »Also gut. Tschüss Louis.«
Und damit war er weg, ohne, dass ich auch nur die Bewegung seines Armes zur Schläfe hätte verfolgen können. Ohne auf eine Antwort zu warten. Einfach so.
Er würde mich noch vollkommen wahnsinnig machen.
Ich bemühte mich, nicht zu sehr über Harry nachzudenken. Dafür hatte ich sowieso keine Zeit. Stattdessen wählte ich mit Augenmaß ein paar weitere Kleidungsstücke aus und fand am Ende sogar eine braune Cordjacke – was ziemliches Glück war, denn von alleine hätte ich nie daran gedacht, Harry auch mit einer Jacke auszustatten.
Erst nachdem ich alle Kartons wieder verschlossen hatte, die Leiter vorsichtig und einarmig heruntergeklettert war und die Dachbodenklappe wieder geschlossen hatte, realisierte ich meinen Fehler. Ich hatte meinen Rucksack nicht mit hier hoch gebracht, aber war beladen mit einem Arm voller Kleidung.
Noch leiser als vor ein paar Minuten schlich ich die gewundene Treppe hinunter. Die letzte Stufe seufzte unter meinen Füßen.
»Louis? Wo warst du denn?« Meine Nan. Aber es war nur ihre Stimme, sie musste noch mit Zayn auf der Couch sitzen.
»Oben.«, rief ich kurzangebunden und nutzte die Chance, um zu meinem Rucksack an der Garderobe zu kommen. Mit übereifrigen Fingern zog ich den Reißverschluss auf und stopfte die Kleidung hinein. Als ich ihn wieder verschloss und aufatmete, war er zwar deutlich praller als zuvor, aber was sollte ich tun? Hoffentlich würde es niemandem auffallen. Falls nicht, dann wäre es mir gelungen.
Was für ein Aufwand, und das nur, weil der Himmel nicht dafür sorgen konnte, dass seinen Engeln mehr als ein Outfit zur Verfügung stand. Vielleicht sollte ich das Harry als einen weiteren meiner konstruktiven Vorschläge weitergeben. Wenn er über die Stock-Arme und das schockierte Gesicht hinweg gekommen war, sobald er etwas berührte, was nicht seine himmlische Seide war.
Ich richtete meine Frisur mit meinen Fingern, bevor ich wieder zu meiner Nan und Zayn trat. Beide hoben den Blick von dem Fotoalbum, das es unter ihren Fingern schon einen Sommer weiter geschafft hatte.
»Wo warst du denn so lange?«, fragte meine Nan nochmal, nicht bemüht, ihre Neugier zu verstecken. Sah man mir an, dass ich vor fünf Minuten noch mit einem himmlischen Wesen gesprochen hatte?
»Nur oben.«, wiederholte auch ich. »Wollt ihr noch etwas trinken? Ich würde mir noch einen Tee kochen.«
»Noch etwas? Nein, Louis, danke, ich nicht. Was ist mir dir, Zayn Liebling?«
»Ein bisschen Wasser vielleicht, Louis, danke.«, bestellte Zayn und sah nicht allzu skeptisch oder empört darüber aus, dass ich ihn gerade zehn Minuten mit meiner Nan alleine gelassen hatte. Dafür glaubte ich, in seinen etwas glasigen Augen die langsam wachsende Bitte zu sehen, wieder zurück nach Manchester zu fahren. Er würde es niemals aussprechen, nicht mal ohne die Anwesenheit meiner Nan, aber auch ich wäre ganz froh, irgendwann hier los zu kommen.
Aber erstmal kochte ich Tee. Vielleicht beruhigte es mich einfach, die Alltäglichkeit und Routine. Für Zayn füllte ich ein Glas Wasser; meine Nan schrieb vor, dass es gefiltert sein musste. Dann suchte ich den nächsten Bus raus, den ich verkündete, als ich die Getränke servierte.
»So bald schon?«, fragte meine Nan schockiert – ob ehrlich überrascht oder nur für ihre herausragende Performance einer Großmutter, wusste ich nicht. »Dann müsst ihr mir vorher unbedingt noch helfen, meine Waschmaschine zu bewegen! Mein Ring ist mir letzte Woche darunter gefallen. Der goldene mit dem grünen Stein von deiner Mum, Louis, weißt du? Das schaffe ich alleine nicht. Und vielleicht könnt ihr dann im Keller auch gleich einmal schauen, ob ihr das kleine Fenster zum Garten hin aufbekommt, das klemmt irgendwie und es ist auch einfach zu hoch für mich. Oh, und mein Handy hat ein neues Update, hat Penny von nebenan auch gesagt, aber das kriege ich nicht hin. Vielleicht könnt ihr euch das auch noch ansehen. Wollt ihr euch eigentlich ein bisschen Kuchen mitnehmen?«
Wir bewegten die Waschmaschine, fanden den Ring in Staubumkleidung. Wir öffneten das Kellerfenster mit ein bisschen Mühe und schlossen es aber direkt wieder, weil meine Nan das alleine auch wieder nicht geschafft hätte, und installierten ihr Update. Zayn packte ein bisschen Kuchen ein, ich nicht – weil ich keinen Platz mehr im Rucksack hatte, aber das gab ich nicht als offiziellen Grund an.
Erst als Zayn vor unserem Aufbruch nochmal auf Toilette ging, erwähnte ich meiner Nan gegenüber, dass ich letztens beim Aussortieren ein Auge auf einiges der alten Kleidung meines Grandads geworfen hatte und; könnte ich mir davon vielleicht mal etwas mitnehmen?
»Immer, Louis, mein Liebling, mein Engel.«
Ihr Engel. Das kam der Wahrheit nah genug.
Wir verabschiedeten uns, als wären wir wochenlang hier gewesen. Zayn verabschiedete sich, als würde er meine Nan nächste Woche wiedersehen. Meine Nan verabschiedete sich, als wüsste sie, dass unser Bus mit uns in Flammen aufgehen würde. Ich verabschiedete mich, als verbärge mein Rucksack 5 Kilogramm Kokain.
Und dann ließ sie uns gehen. Wir winkten brav bis zur nächsten Straßenbiegung.
»Danke«, war das erste, womit ich die Stille brach. »Fürs Mitkommen.«
Zayn lief in entspanntem Schritt, obwohl wir gar nicht mehr so viel Zeit hatten, bis der Bus kam. »Du hast mich nicht mal darum gebeten. Ich bin aus freien Stücken mitgekommen.«
Der Held, der Märtyrer. »Denkst du.«, erwiderte ich trotzdem leicht ironisch. »Du hast ja keine Ahnung, was ich dir heute Morgen in dein Wasser geschüttet habe.« Ich zog meine Hände aus den Jackentaschen, um die Kälte zu testen. »Danke auf jeden Fall, Z.«
Er lächelte mich flüchtig von der Seite an. »Es war doch ganz schön, oder? Sie ist immer so lieb. Und aufgeregt. Das ist neu.«
»Sie liebt dich.«
»Zurecht.«
»Wahr.«, stimmte ich zu, in vollem Ernst. Meine Fingerkuppen protestierten gegen die Kälte, aber der Nebel hatte sich in die Ferne verzogen. Ich ging ein bisschen schneller, um Zayn mit meinem Tempo mitzuziehen.
»Wo warst du so lange? Vorhin?«, fragte er; der Held, der Aufmerksame.
»Nur ein paar alte Sachen durchschauen.«, antwortete ich mehr oder weniger wahrheitsgemäß. Ich belog Zayn nicht gerne. Ich mochte zwar nicht wie Harry sein, der nach ein paar Lügen sein Inneres nach außen umkrempelte, aber so ganz einfach fiel es mir auch nicht. »Von meinem Grandad. Hat meine Nan dir ein Ohr abgekaut?«
»Nein. Sie hatte Angst, du wärst vielleicht im Klo ertrunken.«
»Plausible Befürchtung.«
»Dir traue ich viel zu.«
»Danke. Gleichfalls. Wenn einer von uns beiden mal ertrinkt, dann bist das immerhin du.«
»Und hast du etwas gefunden?«
»Was?«
»In den Sachen von Len?«
Na toll. Er ließ sich doch nicht so einfach abbringen. Ich konnte nicht einfach verneinen, denn dann wäre der Bogen zu meinem vollen Rucksack kein weiter mehr für ihn zu spannen. »Ich würde gerne alte Fotos sehen von ihm.«, sagte ich und versuchte mich davon zu überzeugen, dass es nicht wirklich eine Lüge war. »Mehr als die in den Bilderrahmen. Die alten. Als er jung war.«
Zayn nickte. »Ja. Es ist immer komisch, darüber nachzudenken. Unsere Großeltern hatten ein ganz eigenes Leben. Eine eigene Jugend. Und wir wissen nichts. Außer ein paar Geschichten vielleicht.« Er lachte und ich konnte es nicht einordnen. »Bedrängend, irgendwie, darüber nachzudenken, dass es für uns genau sein könnte. Wenn wir mal Enkelkinder haben sollten.«
Eigene Enkelkinder; was für eine seltsame, befriedigende, mulmige Vorstellung. Aber ich musste Zayn von dem Thema abbringen, bevor er mich noch mehr durchlöcherte. »Sag mal«, fiel ich also ein und hoffte, nicht zu verdächtig zu klingen, »was wollte Niall eigentlich gestern von mir? Was hat er vor am... Wann war es? Nächsten Freitag. Er will nicht wirklich nach Irland, oder? Mit uns beiden?!« Irland mochte global-perspektivisch nicht weit entfernt sein, aber ein Tagestrip war es von Manchester aus auch nicht unbedingt. Ganz abgesehen davon, dass Niall und ich noch nicht die tiefgründigste aller Freundschaften aufgebaut hatten, so nett und unkompliziert er auch war.
»Nein. Nein. Er will uns einladen. Zu sich.«
»Uns?«
»Ja.«
»Sucht ihr noch jemanden in eurer Beziehung?«
»Haha.«, erwiderte Zayn trocken. »Er möchte sich nur revanchieren, denke ich, weil er Mittwochs häufiger mal dabei war. Und außerdem haben wir jetzt sowieso ein paar Sachen zu dritt unternommen. Er mag dich, Louis. Und nicht nur, weil ich dich mag.«
»Dann hätte er ja nur mich einladen können.«
»Ganz ehrlich?«, grinste Zayn. »Ich glaube, das hat er sogar in Betracht gezogen.«
»Wow. Ich fühle mich geehrt.«
»Sei nicht so zynisch, Louis.«
»Ich meinte das ernst! Und du klingst wie meine Mum.«
»Deine Mum ist eine weise Frau.«
»Über Weisheit können nur weise Menschen urteilen.«
»Dankeschön.«
»Nein, ah... Okay. Das hätte ich kommen sehen sollen.«
»Meinst du, dir ›hat die Weisheit gefehlt‹?«
»Ich muss es heute wirklich noch den ganzen Tag mit dir aushalten?«
»Ich kann auch gleich wieder umdrehen. Jen weiß mich wenigstens zu schätzen.«
Die Bushaltestelle kam in Sicht und der Bus war noch nicht da, zum Glück. »Du musst sie nicht mehr Nan nennen?«
»In ihr Gesicht schon. Aber in dritter Person ist es seltsam, oder?«
»Keine Ahnung.«, gab ich zu. »Der Bus!«
Der Bus kam langsam angefahren und wir verfielen in einen Laufschritt. Mein Rucksack sprang unangenehm auf meinem Rücken auf und ab und fiel mit dem neuen Gepäck umso schwerer.
»Louis?«, rief Zayn im Laufen.
»Ja?«
»Wenn Niall dich einlädt, für den 29.«, er atmete flach von Wort zu Wort, »dann musst du so tun, als hätte ich es dir noch nicht erzählt.«
»Geht klar.«, versicherte ich.
Wir kamen gleichzeitig mit dem Bus an, die Tür öffnete sich langsam. Wir präsentierten leicht keuchend unsere Tickets und schoben uns dann auf einen mittigen Zweierplatz, dieses Mal mit Zayn am Fenster.
»Aber wenn Niall uns zu sich einlädt«, begann ich wieder, als ich meinen prallen Rucksack zwischen meinen Beinen platziert hatte, »warum- Warte. Er will uns nach St. Anselm's Hall einladen?!«
»Ich schätze mal.«
»Oh mein Gott!« Ich stützte mich aufgeregt auf die Armlehnen. »Der Moment ist endlich gekommen! Zayn! Kannst du es glauben?«
»Du Glückspilz.«, grinste er mit amüsiertem Seitenblick.
»Ich werde die Eliten infiltrieren! Endlich! Louis Tomlinson in St. Holy Hell! Oh Gott. Ich könnte weinen.«
»Tu dir keinen Zwang an.«
Der Bus setzte sich sanft und mit einem Zischen in Bewegung. »Weißt du, Zayn, ich wusste immer, dass ich es schaffen würde. Jahrelang habe ich dafür gearbeitet-«
»Ein Jahr lang.«
»Ein Jahr und anderthalb Monate lang habe ich auf diesen Moment hingearbeitet und endlich zahlt sich die Arbeit aus. Es ist soweit!«
»Wenn er dich nicht wieder auslädt.«, bemerkte Zayn knapp.
»Sei nicht so zynisch, Zayn.«
Er verdrehte die Augen, aber sein Ohr zuckte, wie immer, wenn er mit einem Grinsen kämpfte. »Ich muss jetzt Zurück in die Zukunft lernen.«, verkündete er und kramte nach seinen Karteikarten.
»Warte, nein, was ich eigentlich fragen wollte; Wenn Niall uns nächsten Freitag zu sich einlädt, nach St. Anselm's Hall – oh mein Gott –, wieso hat er dann wegen Irland gefragt?«
»Das, mein lieber Louis, kann ich dir auch nicht sagen.« Die oberste der Karteikarten auf dem kleinen Klapptisch im Sitz vor uns verkündete: 𝗞𝗶𝗿𝗰𝗵𝗲: 𝗟𝗮𝘁𝗲𝗶𝗻 𝗮𝗹𝘀 𝗨𝗻𝘁𝗲𝗿𝗱𝗿ü𝗰𝗸𝘂𝗻𝗴𝘀𝗶𝗻𝘀𝘁𝗿𝘂𝗺𝗲𝗻𝘁. »Er hat ziemlich Heimweh zurzeit, glaube ich. Aber wieso er gefragt hat...keine Ahnung.«
»Hat er dich auch gefragt?« Ich wollte nicht nachziehen und mich auch meinem Unizeug widmen.
»Nein. Aber er weiß auch, dass ich noch nie da war.«
»Vielleicht will er auch einfach alleine mit mir nach Irland.« Ich stieß Zayn vorsichtig in die Seite, ohne Gefahr für die Karteikarten. »Eifersüchtig?«
»Ja. Fürchterlich.« Er hob die oberste Karte an und schielte auf die Rückseite, die eng beschriftet war. Schnell schob er sie unter den Stapel zurück. »Ich muss jetzt lernen.«
»Wieso ist Latein ein Unterdrückungsinstrument in der Kirche?«, fragte ich. »Klassismus?«
»Auch. Aber ursprünglich vor allem, weil es das Römische Reich und alles, was damit zu tun hatte, romantisiert und höher gestellt hat. Und alles andere wurde automatisch barbarisch. Alle anderen. Daraus entstand der heutige kulturelle Bias der westlichen Welt gegenüber der römischen Antike. Also nicht daraus alleine. Aber unter anderem.«
»Aha.«, kommentierte ich. Wahrscheinlich würde ich noch eher Zayns kompletten Stapel historischer Karteikarten auswendig lernen, als dass ich mit meinem eigenen Stoff anfing.
»Ich muss jetzt wirklich lernen, Louis.« Er blätterte eine weitere Karteikarte um – irgendwas mit Watergate.
»Okay.«, gab ich nach und starrte aus dem Fenster auf ein Hemsworth, das wir jetzt hinter uns ließen. Kleine Häuser, kleine Gärten und die großen Sehnsüchte meiner Nan.
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