𝐗𝐋𝐕
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Bis abends war es kälter geworden, und klarer, und dunkel. Herbst, der sich wie Winter anfühlte, badete den Abend in Nacht. Ich war längst durchgefroren – meine Mum hatte mich für meine Kleiderwahl getadelt. Und für meine tiefen Augenringe und die Selbsterniedrigung, was das Kreatives-Schreiben-Projekt anging. Und für meine Zappeligkeit. Die war das einzige, für das ich mich nicht rechtfertigen konnte. Es war gewesen, als würde ein kleiner Engel zwischen den Wänden meines Schädels Fangen mit meinen Gedanken spielen. Ein kleiner Engel, der lernen wollte, ein Mensch zu sein. Ich hatte mich nicht mehr als eine Minute am Stück konzentrieren können und meine Beine hatten auf ihrer eigenen Party getanzt.
Auf der Rückfahrt im Bus war es nicht besser geworden. So lange stillsitzen; unmöglich. Dann auch noch zu versuchen, ein wenigstens mittelmäßiges Gedicht zu schreiben, während ich alle paar Sekunden hatte aufsehen müssen, falls sich ein Schwarzfahrer in Weiß gerade wie Angst über luftdichte Wege eingeschleust hatte.
Unbrauchbare Schnipsel unbrauchbarerer Gesamtergebnisse:
𝗟𝗼𝗻𝗴𝗶𝗻𝗴 𝗳𝗼𝗿 𝘁𝗵𝗲 𝘀𝗶𝗴𝗵𝘁,
𝗮𝗹𝗹 𝗹𝗼𝘃𝗲𝗹𝘆 𝗮𝗻𝗱 𝗹𝗮𝗿𝗴𝗲,
𝗺𝗶𝘀𝘁𝗼𝗼𝗸 𝗹𝗼𝗻𝗴𝗶𝗻𝗴 𝗳𝗼𝗿 𝗳𝗿𝗶𝗴𝗵𝘁,
𝘀𝗹𝗲𝗲𝘃𝗲𝘀 𝘀𝘁𝗶𝗳𝗳 𝘄𝗶𝘁𝗵 𝘀𝘁𝗮𝗿𝗰𝗵.
und:
𝗜 𝗹𝗼𝗼𝗸 𝗮𝘁 𝘆𝗼𝘂𝗿 𝗳𝗮𝗰𝗲,
𝗶𝘁'𝘀 𝗵𝗼𝗿𝗿𝗶𝗯𝗹𝗲,
𝗶𝘁'𝘀 𝗽𝗿𝗼𝗹𝗶𝗳𝗶𝗰,
𝗼𝗿 𝗺𝗮𝘆𝗯𝗲 𝘁𝗵𝗮𝘁'𝘀 𝗺𝘆 𝗴𝗮𝘇𝗲
𝗼𝗻 𝘆𝗼𝘂.
oder – nachdem ich ein bisschen zu lange über Zayns Chaosgedichte seines fünfzehnjährigen Ichs nachgedacht hatte:
𝗕𝗹𝗶𝗻𝗸,
𝗲𝘅𝗰𝗲𝗽𝘁,
𝗱𝗼𝗻'𝘁 𝗼𝗽𝗲𝗻 𝘆𝗼𝘂𝗿 𝗲𝘆𝗲𝘀
𝗷𝘂𝘀𝘁 𝘆𝗲𝘁
𝘁𝗵𝗮𝘁'𝘀 𝗶𝘁,
𝗷𝘂𝘀𝘁 𝗱𝗮𝗿𝗸𝗲𝗿.
𝗠𝘆 𝗯𝗿𝗮𝗶𝗻 𝘀𝗸𝗶𝗽𝗽𝗶𝗻𝗴 𝗼𝘃𝗲𝗿 𝘁𝗵𝗲 𝘀𝘁𝗼𝗻𝗲𝘀 𝗼𝗳 𝗮 𝗿𝗶𝘃𝗲𝗿 𝗰𝗮𝗹𝗹𝗲𝗱 𝗳𝗲𝗮𝗿.
𝗪𝗵𝗼𝗼𝗽𝘀. 𝗦𝗹𝗶𝗽𝗽𝗲𝗱.
𝗜𝘀𝗻'𝘁 𝗶𝘁 𝘀𝗰𝗮𝗿𝗶𝗲𝘀𝘁, 𝘁𝗵𝗼𝘂𝗴𝗵,
𝘁𝗵𝗮𝘁 𝘁𝗵𝗶𝘀 𝗶𝘀 𝘄𝗵𝗲𝗿𝗲 𝗜 𝗳𝗲𝗲𝗹 𝗺𝗼𝘀𝘁
** ****
und als meine Kreativität besondere Höhen erreicht hatte:
𝗜𝘁'𝘀 𝗰𝗼𝗹𝗱 𝗼𝘂𝘁𝘀𝗶𝗱𝗲,
𝗺𝗼𝗿𝗲 𝗻𝗲𝗲𝗱 𝘁𝗼 𝗯𝗲 𝗯𝗼𝗹𝗱 𝗼𝘂𝘁𝘀𝗶𝗱𝗲.
Und das waren nicht mal die schlimmsten. Unvereinbare Zeilen und Wörter, deren Niederschreiben ich mir nie wieder verzeihen können würde. Wer das zu einem akzeptablen Gedicht machen konnte, war ein Held.
Es hatte eine Zeit gegeben, zu der ich auf dem Rücksitz eines Autos sitzen und schreiben konnte, als würden die Worte erst ab einer gewissen Mindestgeschwindigkeit greifbar werden. Als würde ein Blechdach über meinem Kopf mich vor all dem Nonsens in meinem Kopf beschützen wie vor einem Gewitter. Aber die Zeit war vorbei. Und Gedichte hatte ich noch nie schreiben können. Wie lächerlich von mir, zu denken, dass es etwas war, das ein Unikurs mir einfach so beibringen konnte.
Der einzige Trost; ich hatte noch einen Monat, um ein Endergebnis abzuliefern. Das war eine Menge Zeit, aber ich hatte trotzdem Panik. Kreative Inspiration war nichts Lineares und hielt sich nicht an Zeitpläne. Aber vielleicht würde ich Glück und einen halbwegs brauchbaren Einfall bis dahin haben. Deadline war erst in fünf Wochen. Aber schon jetzt war es dunkel, und kalt, und klar.
Der Sternenhimmel über Manchester war verwaschen, zu leer. Ich sah nicht auf, als ich die Haustür aufschloss. Im Treppenhaus brannte noch Licht, aber ich konnte niemanden mehr hören oder sehen. Mit kalten Fingern erklomm ich die Treppen und schloss schließlich auch meine Wohnungstür auf.
Ich war froh, zurück zu sein. Es war erst kurz nach halb neun, aber die dunkle Busfahrt hätte mich fast eingeschläfert. Die Kälte hatte mich auf dem Heimweg wieder ein bisschen aufgeweckt, aber die Müdigkeit saß in meinen Knochen. Außerdem wollte ich nichts mehr für die Uni machen. Aber das konnte ich mir nicht leisten. Ich hatte einige Stunden in Leeds verschwendet.
Aber jetzt musste ich erstmal was essen. Ich hatte ein paar Reste, die schnell aufgewärmt waren, und aß ohne alles. Ohne Buch. Ohne Handy. Ohne Laptop. Ohne Gedanken. Ohne Kauen. Ohne Appetit.
Dann zog ich mir ein Paar dicke Socken über und machte es mir auf meinem Bett halb gemütlich; Wand im Rücken, Beine verkreuzt. Die Bettdecke spannte sich über meine Knie zu einem Zelt und musste als Ablage für Chaucer und meinen Laptop herhalten. Der Bildschirm war greller und heller als das Deckenlicht, aber mit weniger Helligkeit wären meine Augen zugefallen. Mein Bauch war warm und schwer vom Essen und ich stand kurz vor der großen Entscheidung.
Die Geschichten, die ich für meine Vergleichsanalyse wollte, waren sehr wahrscheinlich die der Priorin, der Zweiten Nonne und der Frau aus Bath. Was mich noch zurückhielt; ich wusste nicht, ob wir drei Geschichten vergleichen durften oder es zwei sein mussten. Ich würde nachfragen müssen. Aber meine Vermutung war, dass es laufen würde wie immer; zwei war die Empfehlung, aber wenn ich mir die zusätzliche Arbeit machen wollte, und mir bewusst war, dass ich in Qualität trotz Quantität keine Abstriche machen durfte, dann war es mir selbstverständlich erlaubt. Ich wollte mir keine zusätzliche Arbeit machen, aber unter meinem Vergleichspunkt wäre es nicht möglich, eine der Geschichten wegzulassen.
Um meine Chancen zu verbessern, würde ich schon ein bisschen vorarbeiten müssen; um überzeugend am Text argumentieren zu können, wieso meine Entscheidung die einzig sinnvolle war. Falls es mir dann doch nicht erlaubt sein sollte, dann wäre alles, was ich heute tat, verschenkte Mühe und Zeit. Und ich hoffte inständig, dass es dazu nicht kommen würde.
Also tippte ich. Formlos, in einem namenlosen Worddokument. Anderthalb Seiten, mit drei Klebezetteln an verschiedenen Teilen desselben Buches. Dann hieß es Feierabend für mich. Ich hatte keine Kerzen angezündet und jetzt, mit geschlossenem Laptop, schmeckte ich die sauerstoffarme, dumpfe, saure Luft. Ich zwang mich auf die Beine und riss ein Fenster auf, wickelte mich dann wieder in meine Decke ein, etwas über die Hüfte dieses Mal.
Ich las ein paar verpasste Nachrichten; Gute-Nacht-Wünsche meiner Mum, Aufgabenverteilung in der Angels-in-America-Gruppe, Orga-Fragen des ganzen Studiengangs. Nichts Spannendes, nichts Aufregendes. Und dann war da immer noch:
𝗥𝘂𝗳 𝗺𝗶𝗰𝗵 𝗮𝗻, 𝘄𝗲𝗻𝗻 𝗱𝘂 𝗭𝗲𝗶𝘁 𝗵𝗮𝘀𝘁, 𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀. 𝗡𝗶𝗰𝗵𝘁 𝘃𝗼𝗿 𝟭𝟳 𝗨𝗵𝗿.
17 Uhr war längst verstrichen und ich würde nicht anrufen und es war ein anderer Anruf, der mich davor bewahrte, mich vor dem Universum für diese Entscheidung rechtfertigen zu müssen.
»Hey.«, sagte ich in den Raum, Handy am Ohr.
»Hey.«, sagte Zayn zurück.
»Alles okay?«, fragte ich und versuchte, meine Beine zu bewegen, ohne mit der Decke zu rascheln.
»Ja. Bist du zurück aus Leeds?«
»Mhm. Schon eine Weile. Wie war dein Date?«
»Gut. Lecker. Louis, ich wollte fragen, was der Plan für morgen ist, weil wir irgendwie noch nichts abgesprochen haben. Und ob wir uns morgen mal wieder bei dir treffen wollen..? Mir ist vorhin aufgefallen, dass wir länger nicht bei dir waren. Kann das sein?«
Und wie das sein konnte. Sofort klebte mein Blick an der Matratze in der Mitte des Raumes. Die schäbige Matratze, auf der Harry mir vorgespielt hatte, seine Nächte hier zu verbringen. Neben Harrys unberechenbarem Erscheinen in meinem Treppenhaus war sie der Hauptgrund, wieso ich Zayn die letzten Wochen am Mittwoch immer in Richtung Wohnheim gedrängt hatte. Aber Harry hatte die Matratze nie benötigt und er würde es auch niemals tun. Ich konnte sie wieder einrollen und wegräumen. Zwischen meinen Fingern zwirbelte ich ein Stück Bettdecke.
»Hm, ja. Du kannst gerne vorbeikommen. Hast du Lust auf Kochen? Und wenn ja; Ideen?«
Kurze Stille, die keine volle Stille in meinem Handy war. »Wir können kochen. Ich hab noch Zucchini im Kühlschrank, glaube ich, und vielleicht Porree..? Ja, ziemlich sicher. Vielleicht einfach mit ein bisschen Reis? Oder so? Falls du auch noch Gemüse da hast..?«
Ich bemühte mich, mir den Inhalt meines Kühlschranks vor mein inneres Augen zu rufen, aber vergeblich. Ich war gestern erst einkaufen gewesen. »Bestimmt. Klingt gut. Gehst du nachmittags in die Bibliothek?«
Zayns Antwort brauchte zu lang für eine so simple Frage. Etwas lenkte ihn ab. Vielleicht hatte er seinen Laptop vor sich stehen und arbeitete länger als ich. »Wahrscheinlich. Meinetwegen können wir direkt von dort aus zu dir fahren. Wenn du auch bleibst. Und dir das nicht zu viel wird. Falls du nicht eine kurze Pause alleine brauchst.«
Ich zuckte mit den Schultern ohne Publikum. »Ich denke nicht. Vielleicht können wir das spontan schauen.« Über die Bergkette meiner Fingerknöchel zogen sich kleine Risse wie Vorboten der kalten Jahreszeit. Ich sollte beim Fahrradfahren konsequenter Handschuhe tragen. Zayn war still. Ich blinzelte, um die Distanz zu klären, die nicht mit Augen überwunden werden konnte. »Das war alles, wieso du angerufen hast?«, fragte ich ungläubig, und kannte eine Version der Antwort bereits. Für unsere Mittwochspläne hätte Zayn mir einfach schreiben können.
Die Stille streckte sich einen Moment weiter, länger, dann sagte Zayn: »Niall möchte mit dir reden.«
Ich war mir für eine Sekunde nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, aber Geräusche wie von neuen Händen und dann war es wirklich Nialls Stimme. »Hi Louis.«
Keine Ahnung, wieso ich für einen Moment die Luft anhielt. »Hey Niall.«, echote ich dann. Meine Stimme klang anders als die, die ich mit Zayn benutzt hatte – ohne, dass ich es wollte. Ich räusperte mich so oberflächlich, dass Niall es hoffentlich nicht richtig hörte.
»Hi. Louis, ich wollte dich nur fragen, ob du am 29. Zeit hast..?«
Meine Zehen am Rand der Decke konnten gefährlich mit der Kälte spielen, sogar durch die Socken hindurch. Mein Gehirn war ein bisschen langsam und ich konnte nicht sagen, ob es an Chaucer oder Nialls Jumpscare lag. »Ähm...ich weiß nicht, was das für ein Tag ist.«
»Freitag, der übernächste.«, half Niall direkt aus. Es war das erste Mal, dass ich mit ihm telefonierte. Ich fühlte mich fast ein wenig heuchlerisch, so zu tun, als wären wir es gewohnt. »Nächste Woche.«
»Vor dem 30.!«, fiel es mir jetzt auch auf. »St. Andrew's Day. Freitag, ja, das hätte ich auch wissen können.«
Niall atmete in den Hörer. »Hast du da Zeit? Also eher gegen Abend..? Das muss auch keine finale Antwort sein, nur...ich wollte nur fragen.«
Ich kannte Niall definitiv noch nicht gut genug, um ihn hierbei einzuschätzen. ›Zeit wofür?‹, wollte ich fragen, aber ließ es sein. »Ich weiß es noch nicht.«, antwortete ich stattdessen vorbildlich. »Ich denke schon. Wahrscheinlich.«
»Zayn hat gesagt, dass du in Leeds sein könntest.«
Zayn steckte also auch mit drin. »Hm, ja...nein. Ich denke eher nicht. Aber wenn da etwas stattfindet, kann ich es auch explizit nicht als Leeds-Tag planen. Es mir freihalten sozusagen.«
»Eine Frage habe ich noch.«, fuhr Niall fort, anstatt meiner Intention zu folgen und mir zu verraten, um was es hier ging.
»Frag drauf los.«
»Warst du schon mal in Irland?«
Ich schälte mich aus der Decke, kam auf die Füße, wechselte die Handy-Hand. »Ja.«, berichtete ich vorsichtig. Wollte Niall mit Zayn und mir am 29. November nach Irland?! »Einmal, als ich klein war.«
»Okay. Hat es dir gefallen?«
Verwirrt lief ich von einer Zimmerecke in die andere. »Es war...naja. Nicht der beste Trip jemals, aber das lag nicht am Land, eher an meinen Eltern. Irland war bestimmt schön.«
Meine Antwort sickerte durch die Leitung, bis Niall sie aufgesaugt zu haben schien. »Alles klar. Danke, Louis. Hab noch einen schönen Abend!«
Ich war so verwirrt, dass ich auf eine der Linoleumnähte trat, die ich rhythmisch vermieden hatte. »Kommst du morgen auch?«, fragte ich hörbar überfordert.
Aber es war Zayns Stimme, die antwortete. »Ich war mir nicht sicher, ob du in Irland warst.«
»Was? Du-« Lag es an mir, dass ich hier nicht mitkam? »Bin ich laut gestellt, Zayn?«
»Nein.«
Ich atmete aus. »Deswegen hast du mich angerufen? Weil Niall mich fragen wollte, ob ich schon mal in Irland war?«
»Anscheinend ja. Und das mit dem 29.«
»Was plant ihr?«
»Können wir vielleicht morgen darüber reden?«
»Das ist gemein.«, protestierte ich.
»Was ist daran gemein?«, fragte Zayn und es war mehr ein Tadel als eine Frage.
»Ich hätte die Informationen gerne jetzt.«
»Und ich würde jetzt gerne auflegen.«
»Gemein!«
»Ich habe meinen Freund hier, Lou.«
»Ich bin dein bester Freund.«, klagte ich, auch wenn ich den Anflug eines Lächelns darüber, dass Zayn Niall offen als seinen Freund betitelte, nicht unterdrücken konnte.
»Ich lege jetzt auf. Schlaf gut, Louis. Bis morgen.«
»Bis morgen. Denkt an mich, wenn ihr-« Und aufgelegt.
Ich seufzte und wünschte, jemand würde es hören. Wo waren die Zuschauer? Wieso sah niemand dabei zu, wie mein bester Freund mich abwimmelte und meine Zehen sich auch beim Gehen nicht aufwärmen wollten? Wieso war ich so allein?
Es wurde Zeit zum Schlafengehen. Spätestens, wenn ich mich weigerte, die Welt durch eine andere Linse als die des tiefroten Selbstmitleids zu sehen, musste ich ins Bett. Und der Moment war gekommen.
Ich lüftete die Wohnung bis in die Küche, machte mich fertig im Bad. Fenster zu und ich schloss die Vorhänge, zog mich mit flinken Füßen um, um nicht zu erfrieren. Gänsehaut unter dünnem Flanell, als würden meine Armhaare versuchen, den Stoff zu stemmen. Dann endlich richtig unter die Decke, Kissen unter dem Kopf. Die Süße in meinem Mund vom Zähneputzen wurde langsam sauer und ich tastete über meinem Kopf nach dem Schalter meiner Leselampe, fand ihn nicht. Ich akzeptierte das Opfer und rollte mich auf die Seite – aber mein Blick fand nicht den Schalter zuerst.
Da war jemand, in der Mitte des Raumes, jemand, der natürlich Harry war, aber ich zuckte so heftig zusammen, dass ich plötzlich wieder saß. Meine Finger hatten sich im Kabel der Lampe verhangen und rissen sie jetzt mit lautem, dumpfen Plastikknall von meinem Nachttisch. Es war der zweite Herzinfarkt in Folge. Mit der anderen Hand hatte ich die Decke hoch bis an meine Brust gezogen, mein Herz schlug in meinem Schädel, alle Muskeln spannten.
Selbst in dem dunklen Licht, das halb vom Boden geschluckt wurde, sah ich, wie Harrys sanftes Lächeln fiel, und dann die Hand mit Fingern an seiner Schläfe.
»Fuuuuck!«, keuchte ich lang gezogen, vergrub meine Augen in der Decke zwischen meinen Fingern. »Harry. Gott. Fuck. Hast du mich erschreckt.«
»Hallo Louis.«, sagte er verunsichert, besorgt, wackelig. Und mit dem Schrecken meiner Wortwahl so offen auf seinem Gesicht, dass ich am liebsten geschrien hätte. »Das wollte ich nicht.«
»Dann darfst du hier nicht einfach so aus dem Nichts auftauchen! Im Dunkeln. Ah, Hilfe, fuck- oh nein, tut mir leid, Harry. Mein Herz. Du hast mich wirklich- Du kannst mir nicht einfach so auflauern!«
Er stand noch immer wie angewurzelt neben der Luftmatratze, wie ein Geist, hier, um mich zu heimzusuchen. In dem verdammten weißen Kleid aus Seide. Waren Engel der Grund, wieso Menschen an Geister glaubten? »Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken, Louis. Ich wusste nicht, dass du so...reagieren würdest.«
»Wie sollte ich sonst reagieren, Harry?!« Ich presste die Decke noch immer gegen meine Brust, und auch wenn es irrational schien, konnte ich meinen Griff nicht lockern. »In jedem anderen Szenario wäre ich jetzt von einem Serienmörder umgebracht worden!«
»Aber ich bin es nur.«, sagte er, leise, und als wäre all die Unschuld keine Lüge. »Und ich würde mich bemühen, dass du nicht von einem Serienmörder umgebracht wirst.«
»Was für eine Beruhigung.«, sagte ich mit dem Zahnpastageschmack zu vergoren für den Sarkasmus. »Bitte mach das nie wieder.«
»Es tut mir leid.«
»Du hast Glück, dass ich nicht geschrien habe!« Langsam zwang ich mich, meine Finger vorsichtig zu bewegen. Sanft türmte ich die Decke um meine Taille auf und beugte mich vornüber, um die gefallene Lampe aufzuheben – ohne Harry dabei aus den Augen zu lassen. Als die Lampe wieder stand, warf ich Harry einen vorwurfsvollen Blick zu. »Was machst du hier?«
Jetzt war sein Moment der Überraschung gekommen. »Supervidieren.«, sagte er so selbstverständlich wie ein Kind, das
unbekannte Gesetzte brach.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Oder eher; sie zogen sich von alleine hoch, sie machten es selbst, wirklich. »Harry, so sehr ich auch eine Gefahr für mich und meine Mitmenschen und Mitengel sein mag; du musst mich nicht beim Schlafen bewachen. Ich werde im Traum nicht den Himmel stürzen. Keine Angst.«
Der Geist auf nackten Füßen bewegte sich jetzt doch. Auf Schritten ohne Geräusch trat Harry an mein Bett heran und als er vor mir auf die Knie sank, brannte sich mein Schlafanzug in meine dünne Haut. Sie war dünn und sich plötzlich nicht mehr sicher, wie sehr sie wirklich bedeckt werden wollte. Es war nicht der erste Abend, an dem Harry mich vor dem Schlafengehen sah und es war nicht der erste Abend, an dem ich mich deswegen verletzlich fühlte, aber es war der erste Abend, an dem er vor meinem Bett kniete. Er könnte den Kopf vorbeugen und mit seiner Nasenspitze meinen Bauchnabel direkt unter der Doppelnaht meines Schlafanzuges berühren. Ich zog die Decke wieder etwas höher.
»Also wenn du wirklich lernen willst, als Mensch durchzugehen, dann solltest du ernsthaft an deiner Serienmörder-Ausstrahlung arbeiten, Harry.«, sagte ich, um etwas zu sagen. Wenn ich mich nur einen halben Zentimeter zurücklehnte, berührte ich die Wand in meinem Rücken. Die Hälfte von Harrys Gesicht lag in schwarzem Schatten oder auch; die Hälfte seines Gesichtes wurde bestrahlt wie der Mond. Seine Nase zog die schwarze Grenze eines Schattengipfels und er blinzelte nicht einmal. »Musst du wirklich so nah sein, um zu supervidieren?« Vielleicht half es, die Dinge beim Namen zu benennen.
Oder auch nicht. Harry war kniend klein genug, um Augen wie eine Puppe zu haben. Als müsste ich ihn nur tief genug in den Arm nehmen, dass seine Augenlider mit einem Klicken zuklappten. Hände kalt wie Porzellan und die Wangen genauso straff. »Nähe ist nicht obligat, aber förderlich. Wenn du physische Nähe meinst.«
»Ich meine...egal. Harry, willst du jetzt wirklich da sitzen, während ich schlafe? Weil ich dir garantieren kann, dass ich dann kein Auge zumache.« Ich hatte das sehr starke Bedürfnis, mir mit den Fingern durch die Haare zu fahren, aber Harry würde die oberflächliche Geste sicher schneller durchschauen als die Wand meiner Blutgefäße.
Seine Hände ruhten sanft in seinem Schoß. »Nein. Ich wusste nicht, dass du jetzt schlafen würdest. Ich wusste nur, dass du wach bist. Und nicht mehr bei Johannah – oder zumindest nicht mehr in Leeds. Ich bin nicht gekommen, um deinen Schlaf zu überwachen. Nicht heute.«
»Du wirst in Zukunft meinen Schlaf bewachen?«
Harrys Blick wanderte über den dreieckigen Ausschnitt, der vielleicht doch zu viel meiner Brust offenbarte. »Das ist das Geheimnis einer guten Supervision. Nicht nur da zu sein, wenn Geschehnisse vermutet, sondern wenn sie nicht vermutet werden.«
Wenigstens log er nicht. Vielleicht war es weniger schlimm, einen himmlischen Stalker zu haben, wenn er reflektiert genug war, seine eigenen Maschen anzuerkennen. Und wenn der himmlische Stalker Harry mit den irren Lippen und der weichen Stimme war, änderte sich die Situation vielleicht sowieso nochmal ein bisschen. »Wieso bist du dann hier?«
»Ich dachte, wir könnten reden.«
Ich seufzte, weil ich es nicht verhindern konnte. »Ich würde gerne reden, Harry. Aber ich wollte gerade schlafen gehen und falls das hier so läuft; deine Supervision... Ich habe ein Leben. Und ich habe keine Ahnung, was du den ganzen Tag so machst, aber ich kann mich nicht nur nach dir richten. Nicht falsch verstehen; ich finde es wahnsinnig aufregend...von dir zu wissen. Und ich rede gerne mit dir. Aber du kannst nicht immer einfach so auftauchen und davon ausgehen, dass ich alles stehen und liegen lassen kann und...ja. Ich habe ein Leben und hier spielen noch ein paar mehr Faktoren eine Rolle.«
Harry legte eine Hand auf den Rand meines Bettes, einfach so, seine Finger auf meiner Matratze. »Du hast recht, Louis. Ich will dich nicht von deinem Leben und deinem Schlaf abhalten. Ich werde gehen und wiederkehren.«
Ich blinzelte, weil ich irgendwie auch das nicht erwartete hatte. Nichts an dieser Situation hatte ich erwartet. Und ich nickte nur zögerlich, weil ich wusste, dass auch das heuchlerisch von mir war. Denn sobald er mich jetzt alleine ließ, würde ich trotzdem für eine ganze Weile kein Auge zubekommen. Aber vielleicht ging es hier mehr um Prinzipien – oder so. »Danke.«, sagte ich also, und wusste nicht, was es sonst noch zu sagen gab.
Harry stand in einer viel zu glatten Bewegung auf. Womit auch immer seine Gelenke geölt waren; irdisch konnte es wirklich nicht sein. »Schlaf gut, Louis. Ich bin bald zurück.«
Es gab wirklich nichts zu sagen; ich hatte das Drehbuch für diese Szene nicht erhalten und meine Improvisationsfähigkeiten waren noch vor meinem neunten Geburtstag aus mir verblutet. »Bis bald.«, gelang mir doch irgendetwas und dann lächelte ich sogar.
»Tschüss Louis.«, lächelte auch er und sofort schloss ich die Augen, um nicht zu sehen, wie er verschwand wie Licht bei einem Stromausfall. Es gab kein Geräusch und ich starrte das unendliche Schwarz meiner Augenlider an, um mich auf mein Zimmer vorzubereiten. Denn das war leer, als ich die Augen wieder aufschlug. Kein Harry, nur ein unsichtbares Harry-Loch. Ich senkte den Blick auf meine Matratze, aber auch dort hatte er keinen Abdruck hinterlassen. Das konnte er einfach so; kommen und wieder gehen, wie es ihm gefiel.
Aber zu viele Gedanken über seine An- oder Abwesenheit oder die von Abwesenheit gefolgte Anwesenheit brachten mich jetzt nicht weiter. Also legte ich mich wieder hin, auch wenn der Schock noch in meinen Knochen saß. Noch etwas, das Harry in über 120-Jahren-Engelsein vielleicht mal hätte lernen können; nachts im Dunkeln aus dem Nichts aufzutauchen, half nicht mit der Ruhe, die er immer prädigte. Aber diese Liste war sowieso lang. Die Hälfte von Harrys Verhaltensweisen hatte Herzinfarktpotential.
Ich machte endlich das Licht aus, aber die Dunkelheit war zu hell. Das Geräusch der fallenden Lampe echote in meinen Gehörgängen und etwas auf meiner Netzhaut hielt noch immer den weißen Schatten von Harrys Kleid fest, wie ein Omen seiner Wiederkehr, als wäre es der Schimmer seines Körpers, doch wieder hier in meinem Zimmer; Hallo Louis, ich bin zurück, denn du schläfst immer noch nicht. Wollen wir jetzt reden?
Aber ich beschloss, die Netzhaut-Erinnerung zu besiegen, indem ich sie nicht weiter bekämpfte. Ich rollte mich auf die Seite, zog die Knie fast bis an meine Brust. Die Wohnung war ohne wie mit Harry zu leise und ich zog mir einen Zipfel der Decke über mein freies Ohr. Blinzeln, blinzeln, blinzeln, blinzeln, blinzeln, bis die Augen müde wurden. Sie wurden müde, ich kniff sie zu und irgendwann stolperte die Müdigkeit auf meinen Kopf über. Es dauerte zu lange und ich fürchtete die Landschaft meiner Träume, aber ohne auf die Uhr zu schauen, schlief ich schließlich ein.
✩
Ich wachte auf, wie ich nicht eingeschlafen war; schnell und effektiv. Mein Handywecker schaffte es konstant, das brutalste Geräusch in meinem Leben zu sein und ich schaltete ihn so schnell und bewegungsarm wie möglich aus. Obwohl ich es mir nicht leisten konnte und das auch wusste, drehte ich meinen Kopf zurück ins Kissen, atmete die warme Welt ein, die dort gespeichert war. Ich musste meine Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass es nicht hell war; nur ein grausamer Wintermorgen. Meine Augenlider waren schwarzes Blei und ich hielt an dem Gefühl fest, dass mein Kopf so warm war wie mein Bauch, und mein Bauch so warm wie meine Zehen, eine riesige, homogene Masse, müde, träge, sicher in meinem weichen Bett, Ich in primitivster Simplizität.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich aufrappelte. Erst ein Zeh unter der Decke hervor, dann zwei, ein tieferer Atemzug, meine Wade, mein Bein. Ich setzte mich langsam auf und spürte trotzdem, wie mein Blut irgendwo in meinem Körper verloren ging. Vorsichtig blinzelte ich, milchige Dunkelheit, immer noch zu hell. Ohne viel Sicht griff ich nach dem kleinen Schalter meiner Leselampe, eigentlich der einfachste Akt im Muskelgedächtnis, aber nach dem Sturz gestern stand die Lampe anders und ich tastete verloren eine Weile umher, bis ich das Kabel endlich fand, und dann; Licht. Es half nicht.
Mit leisem Protest auf den Lippen presste ich meine Handballen gegen meine Augen, rieb sanft, dann gröber, um mich dafür zu bestrafen, aufstehen zu müssen. Mein Hände sanken langsam und schwer, wie durch echtes Wasser, zurück auf meine Oberschenkel, warm und noch schwerer als meine Hände, als das Bild vor mir sich änderte, als wäre ich jetzt erst aufgewacht.
Und dieses Mal sprang ich auf. Meine Schultern gehörten nicht mehr zu meinem pochenden Inneren und mein Fuß knickte um.
»Harry! Du- ahhhh. Wieso?!«
Er kniff die Augen zusammen, ein zartes Lächeln rutschte über sein Kinn von seinem Gesicht, als könnte seine Erscheinung so plötzlich wie ein Hologramm es nicht aufrechterhalten. »Louis, dein Knöchel.«
Mein Knöchel tat nicht stark weh, nicht stärker als der Schreck und ich wollte Harry eine Rede entgegenwerfen, Beschwerde und Belehrung, Empörung bis in seinen tollen Himmel, aber mein Mund war trocken und verschlafen und ich entschied mich dagegen. Stattdessen versuchte ich, ihm diese Dinge in einem ungläubigen und genervten Blick zu vermitteln. Blut in meinen Ohren rauschte und ich drehte meinen linken Fuß vorsichtig, er war okay. Mit vorsorglich über mein Becken streifender Aufmerksamkeit drehte ich mich von Harry weg zu meiner Kommode und kramte frische Kleidung zu der Jeans von gestern heraus. Ich musste dringend Wäsche waschen.
»Ich sollte dich anzeigen.«
Seine Füße waren wie immer lautlos, aber ich wusste, dass er neben mir stand. »Worauf?«
»Worauf? Harry, Anzeigen bedeutet- egal. Du bist auf jeden Fall eine Gefahr für die Allgemeinheit.«
Er schwieg, als würde er zustimmen. Zumindest war das meine präferierte Interpretation.
»Und mit Allgemeinheit meine ich mich. Hausfriedensbruch. Stalking. Fahrlässige- ah. Mein Mund ist eklig. Ich gehe ins Bad, Harry. Warte hier oder flieg in den Himmel oder ist mir egal. Ich mach mich jetzt fertig.« Und mit meiner Kleidung unterm Arm spazierte ich an ihm vorbei. Als wäre er mir gleichgültig.
Weil er das nicht im geringsten war – und weil ich noch zu lange mit Gesicht im Kissen dagelegen hatte – beeilte ich mich im Bad mit jahrelanger Übung. Ich fühlte mich nicht besonders wach oder frisch, als ich mich wieder ausschloss, aber wenigstens hatte sich der Schock von Harrys plötzlicher Ankunft gelegt. Vielleicht konnte man Zeit mit Harry als Gesundheitsrisiko hochrechnen wie Pack Years beim Rauchen. Jeder Morgen und Abend mit Harry erhöhte mein Herzinfarktrisiko um 1%. Oder verkürzte meine Lebenszeit um einen Monat.
Er saß im Flur, aber zum Glück nicht direkt vor dem Bad. »Versuchen alle Schutzengel, ihre Schützlinge umzubringen?«
Augen groß, sein Blick fiel. »Keiner.«
»Außer dir.« Ich schob mich an seinen Beinen vorbei, vergrub meinen Schlafanzug unter der Bettdecke.
»Ich wollte nicht...« Harry war aufgestanden und mir gefolgt, aber trat zurück, als ich die Decke ausschüttelte. »Ich wusste, dass du wieder wach bist. Und du wolltest erst schlafen, bevor ich zurückkehre. Du hast geschlafen.«
»Woher weißt du, dass ich schlafe?« Auch das Kissen erhielt eine wenig sanfte Behandlung.
»Potentiale in deinem Gehirn. Wellen. Delta, wenn du tief schläfst. Jetzt habe ich darauf gewartet, dass Theta stoppt.«
Das war zu viel so früh am Morgen, und zu jeder Tageszeit. »Aber woher... Wie liest du meine Gehirnwellen? Gibt es im Himmel...ich weiß nicht; wie darf ich mir das vorstellen? Ist der Himmel eine große Schaltzentrale für die Körper aller Menschen? Kannst du einfach die Informationen abrufen, die du brauchst? Mein Gehirn? Mein Herz, mein Blut?«
Harry schlich immer noch hinter mir her, als ich die Vorhänge aufzog und ein Fenster öffnete. »Ich spüre es, Louis. In meinem Körper und Bewusstsein. Keine Schaltzentrale. Wir sind verbunden.«
»Wie verbunden?«, fragte ich und machte mich auf den Weg in die Küche. Ich wollte stehenbleiben und jede Emotion von Harrys Gesicht pflücken, während er mir von diesen Dingen erzählte, aber wie zu oft war ich einfach ein bisschen zu sehr in Eile vor der Uni. Oder mit anderen Worten; Harry sollte zum Reden nicht ungefragt hier auftauchen, wenn noch nicht mal die Sonne aufgegangen war.
»Über unsere Herzen.«, erklärte Harry und als ich mich kurz zu ihm umdrehte, sah er mir in die Augen, als würde er wirklich mein Herz sehen.
»Das klingt kitschig.«, kommentierte ich, weil es wahr war, und um zu kompensieren, dass ich keine Ahnung hatte, was es bedeuten sollte. »Ich spüre nicht, wann du schläfst.«
»Ich schlafe nicht.«
»Ach ja. Da war ja was.«
»Du spürst die Signale meines Körpers nicht, weil mein Körper... Ich bin ein Engel, Louis.«
»Also funktioniert es nur in eine Richtung.«
Ich öffnete meinen kleinen Kühlschrank und holte die offene Milch heraus. Harry lehnte leicht am Tisch. »Du bist ein Mensch und ich bin ein Engel. Für uns funktioniert es nur in eine Richtung, ja.«
»Hm«, summte ich, weil ich kein verbales Urteil parat hatte. Harry war also über unsere Herzen mit mir verbunden, was auch immer das heißen sollte. »Du möchtest nichts essen..? Oder trinken? Tee?«
»Nein.«
Also nur eine Schüssel, eine Tasse, ein Löffel. Ich griff nach dem Wasserkocher. »Isst du im Himmel? Was gibt es da?«
»Ich esse nicht.«
Keine große Überraschung, aber trotzdem absurd zu hören. Worte, die in die Kategorie ›Direkt gegen meinen Willen von meiner Vernunft als unwahr abgestempelt‹ fielen. »Gar nicht?«
»Gar nicht.«
»Und trinken?«
»Auch nicht.«
»Wovon lebst du dann?«
Harry antwortete nicht und so warf ich ihm wieder einen Schulterblick zu. Er schien, wie so häufig, verwirrt. »Nur weil Menschen einen offenen Energiestoffwechsel haben, heißt das nicht, dass das für andere Wesen ebenso gilt.«
»Essen ist lecker. Ich würde auch essen, wenn ich es nicht zum Leben bräuchte. Es ist gut.«
»Weil dein Geschmackssinn dir hilft. Er indiziert dir die Lebnensnotwenidgkeit. Oder warnt dich vor Gefahr.«
»Schon klar. Aber...hast du noch nie etwas gegessen?«
»Nein.«
»Getrunken?«
»Nein.«
»Du verpasst was, Harry. Wirklich.«
»Ich brauche kein Essen.«
»Habe ich schon verstanden. Trotzdem.« Ich zog einen Teebeutel heraus und hängte ihn in meine Tasse. »Verrückt.«
Dazu schien Harry nichts mehr zu sagen zu haben. Er beobachtete still, wie ich meinen Tee aufgoss und weißgrauen Porridge aufkochte. Ich wollte nicht schweigen, ich hatte unzählige Fragen an ihn, aber ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich anfangen sollte und außerdem keine Ahnung, worauf er hinauswollte, wenn er sagte, er wollte reden. Außerdem beschäftigte das Porridgerühren mit dem Rücken zu Harry mich genug, um ihm nicht meine volle Aufmerksamkeit schenken zu können, und ich wollte ihm meine volle Aufmerksamkeit schenken. Und, vielleicht am entscheidendsten; wenn Harry nicht redete, wusste ich, dass er darin kein Defizit sah. Für ihn war Stille Stille. Nichts darüber hinaus, keine soziale Ebbe, kein Negativindikator, keine Abwesenheit von Wörtern oder Bestimmung oder Atmosphäre. Nur Stille. Ich wusste es, weil er das Gefühl, ohne irgendwas zu tun, auf mich erweiterte. Es war erleichternd. Als hätte er ein Loch in meinem Inneren gestopft. Harry wartete nicht, vielleicht supervidierte er nicht mal. Er existierte nur, und ließ mich existieren.
Als ich mich dann schließlich wieder zu ihm umdrehte, Teetasse und Schüssel mit versinkendem Löffel in den Händen, musste ich lachen – was so früh am Morgen fast absurder war als die Ursache dafür. Harry lehnte nicht mehr am kleinen, rechteckigen Küchentisch, sondern saß mit verschränkten Beinen darauf. Er musste sich mal wieder lautlos bewegt haben oder der Wasserkocher hatte ihn gedeckt.
»Du hast einiges zu lernen, wenn es darum geht, ein Mensch zu werden.«, grinste ich und wollte die warme Schüssel abstellen, aber Harrys Knie verhinderten den Plan. »Ich brauche den Platz da bitte, Harry. Vielleicht kannst du dich lieber auf den Stuhl setzen.«
Er folgte meiner Bitte sofort und wir saßen uns gegenüber, wie Fremde. Wie Vertraute. »Es geht nicht darum, ein Mensch zu werden.«, korrigierte Harry und musterte den dampfenden Haferbrei. »Ich kann kein Mensch werden. Ich bin ein Engel.«
»Wie ein Mensch zu werden dann eben. Als einer durchzugehen.« Ich ließ den Löffel wie ein Ruder durch den Porridge schwimmen. »Möchtest du probieren?«
»Ja.«
»Ja?« Ich lächelte überrascht und fischte mit dem Löffel nach einem Stück Apfel. Es war schwer, Porridge gut aussehen zu lassen, aber Apfel, Haferflocken und Zimt waren ein gutes erstes Essen jemals. »Hier.« Ich hielt ihm den Löffel hin.
Harrys Augenbrauen arbeiteten, er starrte den Löffel an. »Nicht das Essen probieren. Als ein Mensch durchzugehen, das muss ich probieren.«
Ich Idiot. »Ah. Ja. Na gut. Willst du trotzdem«, ich hob den Löffel weiter, »das hier probieren? Lohnt sich, wirklich.«
»Danke, Louis, nein.«
»Okay.«, akzeptierte ich und aß, was ich Harry angeboten hatte, bevor ich kleckerte. »Was ist mit Tee? Du hast noch nie einen guten Morgen verbracht, wenn du noch nie Tee zum Frühstück hattest.«
»Ich möchte keinen Tee, Louis. Trink du.« Er lächelte ermutigend oder entschuldigend. Vielleicht war das eine weitere Sache, die einen Morgen deutlich aufwerten könnte; ein Lächeln von Harry. »Aber können wir darüber reden, wie ich besser als ein Mensch durchgehe? Hilfst du mir dabei?«
Hatte ich eine Wahl? Gestern hatte Harry gesagt, es wäre meine Aufgabe und das hatte nicht sonderlich fakultativ geklungen. Aber so oder so; die Antwort war dieselbe. »Natürlich.«
»Ich habe mir überlegt«, sein Blick folgte den Maserungen des Tisches, »dass ich heute mit dir in die Universität gehen könnte.«
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe und als Harrys Lächeln fiel, verfluchte ich meine Mimik sofort. »Ähm...in die Uni? Harry, ich weiß nicht, ob das die beste Idee ist.«
»Wieso nicht?«
Ich unterdrückte ein Seufzen. »Ich weiß nicht, Harry, du- Ich habe auch nachgedacht. Über die Supervision und dass du so tust, als wärst du ein Mensch. Das ist ja alles...gut. Ich verstehe, dass das mit der Supervision sein muss – weil dein Komitee es so beschlossen hat oder warum auch immer – und dass du deswegen mehr Zeit mit mir verbringen wirst und du idealerweise nicht von uns Menschen zu unterscheiden bist. Alles logische Gedankengänge und ich helfe dir wirklich gerne dabei. Ich«, ein kleines bisschen Mut sammeln, »freue mich, dass du an meiner Seite bist. Aber ich habe auch ein richtiges Leben.«
»Ich bin Teil von deinem richtigen Leben.«, fiel Harry verwirrt ein. »Du hast im Moment nur ein Leben, dein richtiges, und von dem bin ich Teil.«
»Ja, so meinte ich das nicht.«, beschwichtigte ich schnell. »Aber ich habe andere Menschen- Menschen, Harry. Ich habe Menschen, die mir etwas bedeuten und denen du...früher oder später begegnen würdest, wenn du hier bist und... Wenn ich keine Wahl habe und deine Identität schützen muss, heißt das, dass ich den Menschen in meinem Leben ins Gesicht lügen muss. Und ich verstehe, dass das notwendig ist, wirklich; es wäre wahrscheinlich schlimmer, wenn ich allen verklickern müsste, dass du ein Engel bist – egal. Lügen, Harry, darum geht es mir, ich werde lügen müssen. Wenn ich bisher von dir erzählt habe, wusste ich nicht, dass... Naja, ich wusste irgendwann das mit der Wohnungslosigkeit und dass du kein Student bist und das habe ich natürlich auch für mich behalten, aber- ah. Das ist schwierig. Du weißt doch, was ich meine, oder?« Ich umschloss meine Teetasse mit beiden Händen und wusste, wie genau Harry mir zuhörte. »Das waren zwar große Sachen, aber das hier ist...größer. Dass du ein Engel bist, Harry, das ist... Es fühlt sich nicht klein an für mich. Ich werde lügen müssen und das werde ich auch tun, aber ich möchte...ich will, dass es funktioniert. Was ich sagen will; wenn ich andere anlüge, muss die Lüge überzeugend sein. Weil, wenn sie das nicht ist... Niemand wird denken, dass du ein Engel bist. Das ist nicht die Erklärung, die sich irgendwer von selbst herleiten würde. Du hast es ja bei mir gesehen. Ich möchte, dass mir immer noch vertraut werden kann. Es muss eine gute Lüge sein. Und wir werden daran arbeiten. Aber heute ist zu früh für die Uni.«
Sein Mund war rund und offen. Diese verdammten Lippen. Vielleicht irrte ich mich und andere Menschen würden nur einen einzigen Blick auf Harrys Lippen werfen und es wissen. Ein Engel und ein unvorsichtiger noch dazu.
Ich trank einen Schluck Tee und noch einen, aber Harry hatte entweder noch nicht alle meiner Worte verarbeitet oder sich seine Antwort nicht zurechtgelegt. Ich aß ein bisschen von meinem Porridge, den Rand herum und die Mitte sank. Aber Harry sah mich noch immer an, als könnte er eine Wiederholung meines Monologes von meinen Wangen ablesen.
»Harry, hier ist ein Vorschlag.«, sagte ich schließlich, weil ich nicht mehr weiterwusste und es dieses Mal nicht einfach Stille als Stille war. »Du kommst heute nicht mit in die Uni. Ich habe sowieso nur zwei schnelle Kurse. Du gehst wieder in den Himmel oder irgendwohin oder du kannst auch hier bleiben, wenn du möchtest. Aber dafür planen wir jetzt – und später vielleicht – alles, was wir planen müssen. Deine Identität als Mensch. Und alles, was dazugehört. Ich habe mir schon Gedanken gemacht. Okay?«
Es war überraschend einfach, Harry das Angebot zu stellen, hierzubleiben, obwohl ich ihn sonst immer mit mir aus der Wohnung rausgeschmissen hatte, aber da hatte ich ihn auch noch für einen Menschen gehalten, der erstens Motive hätte, alleine in meiner Wohnung sein zu wollen, und zweitens; den das Abschließen meiner Tür daran gehindert hätte, in meine Wohnung einzudringen. Aber sich zu jeder Tageszeit und ohne die leiseste Ankündigung hier hereinzubeamen, schien ja Harrys leichteste Disziplin zu sein. Da brauchte ich ihn gar nicht erst rauszuschmeißen. Und dass mein Schutzengel nicht plante, mich auf den letzten Penny auszurauben; davon ging ich einfach mal aus.
»Na gut.«, erwiderte Harry dann glücklicherweise. Ich lächelte und begann ein bisschen schneller mein Frühstück zu löffeln, während Harry fortfuhr. »Ich werde in den Himmel zurückkehren. Aber wir sollten die Identität und die Festigung der Lüge so schnell wie möglich klären. Im Himmel herrscht das Wissen, ob ich dort bin oder hier. Und gerade jetzt, zu Anfang, wird meine Supervision nicht undetektiert bleiben. Ich muss bei dir sein, Louis. Es hat immerhin einen Grund.«
Ja, daran konnte ich mich bestens erinnern. Immerhin war ich anscheinend eine Gefahr für mich und eine Masse anderer Entitäten, die ich nicht definieren konnte. »Wir werden unser Bestes geben.«, versicherte ich lächelnd, aber wohl wissend, dass ich damit genau dem widersprach, was ich eben noch gesagt hatte. Trotzdem war ich erleichtert, dass ich Harry heute nicht zu Literatur der Renaissance mitschleppen und dann vor Zayn setzen und sagen müsste: ›Hey, das hier ist Harry, von dem ich erzählt habe, und bitte erzähl ihm niemals, unter welchem Beinamen du ihn kennst.‹
Das konnte jetzt ein Problem für einen anderen Tag sein. Harry sah mich gespannt an, seine Hände lagen auf dem Tisch. »Dann lass uns beginnen.«, verkündete er. »Schritt Nummer 1: Blinzeln und Atmen.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro