𝐗𝐋𝐈𝐗
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
»Wieso ist der Fluss eingemauert?«
Harry stand mit großen Augen über das graue Wasser geneigt – und hätte er nicht den Titel Schutzengel besessen, hätte ich Angst gehabt, er könnte reinfallen. Lüge. Ich hatte trotzdem Angst, dass er reinfiel.
»Weil es ein Kanal ist.« Ich musste wirklich dem Drang widerstehen, nach seiner Hand oder einem Zipfel seiner Jacke zu greifen. Nur zur Sicherheit. Wieso war es auch mein erster Instinkt gewesen, Harry in Richtung Cottager's Cove zu führen? Nicht, dass es eine bewusste Entscheidung gewesen wäre. Aber sobald Harry das Wasser gehört hatte, war die Navigation mir entrissen worden.
Er war vor acht Minuten vor meiner Wohnungstür neben mir aufgetaucht, als ich gerade auf dem Weg nach draußen für meinen kleinen Spaziergang als Schreibpause gewesen war. Und weil es ein ruhiger Sonntag zu sein schien und er mit seinem Timing die letzten beiden Tage eher Pech gehabt hatte, war ich nicht mal zögerlich gewesen, ihn als meine Gesellschaft einzuladen. Er war so schnell in seine neue Kleidung geschlüpft, dass ich mir sicher war, dass er einen sehr viel himmlischeren Weg gefunden hatte, das zu tun, als noch vor drei Tagen.
»Ein Kanal.«, wiederholte er und sah eindeutig zu sehr aus, als würde er gleich auf die Knie fallen und seine Finger durch das rauschende Wasser fahren lassen.
»Ja. Kanäle hat Manchester viele.« Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Zwar war die schnell schwindende Sonne tapfer genug, sich immer mal wieder zwischen den Wolken hervorzuschieben und wenigstens für die Illusion eines goldenen Herbsttages zu kämpfen, aber die Kälte ließ sich davon nicht beeindrucken. Alleine Harrys nackte Füße unter dem Saum der Hosenbeine zu sehen, verstörte meine Temperaturrezeptoren.
Und fast noch schlimmer; ich war mir sicher, dass Harry mit seinen unschuldigen Füßen wahrscheinlich keinen 20-Meter-Abstand zu mindestens drei benutzten Kondomen – und womöglich Schlimmerem – hatte. Ob er den Boden berührte oder nicht; das Wissen gefiel mir gar nicht. Cottager's Cove als Harrys erstes Ausflugsziel in einem Manchester, das er jetzt mit einer neuen Zusammenstellung menschlicher Kleidung hinterging, war eine Wahl, die ich so gerne anders getroffen hätte. Aber was konnte ich dafür, dass ich nur zwei Straßenecken entfernt wohnte? Wir würden auf jeden Fall nicht tiefer hineingehen. Kein Holz unter unseren Füßen. Wenn irgendwer nichts in den tiefen, dunklen Mauern zu suchen hatte, dann ein Engel.
Harry sah immer noch aus wie einer. Auch wenn er nicht mehr wie ein Kirschbaum im englischen November strahlte, sondern jetzt in der Kleidung meines jungen Grandads steckte. Es war ein bisschen lustig, wie Harry wirkte, als wäre er aus einer verwaschenen Version der Siebziger Jahre gestolpert. Er sah immer noch viel zu gut aus. Nur seine Bewegungen wirkten manchmal noch ein bisschen steif. Aber die Fortschritte waren groß und schnell. Wenn er Schuhe getragen und ein bisschen weniger perfekt und ätherisch ausgesehen hätte, wäre kein Blick auf der Straße ihm mehr gefolgt.
Naja. Wir hatten ja gerade erst begonnen.
»Es gibt keine Fische.«, stellte Harry nach seiner forschenden Stille fest.
Ich lachte, ohne auch nur zu versuchen, es zu verhindern. »Nein. Nicht hier.«
»Ich würde gerne mal einen Fisch sehen.« Er beugte sich noch ein bisschen weiter nach vorne und ich musste mich sehr explizit daran erinnern, dass er wahrscheinlich nicht mal den Boden berührte und deswegen auch nicht das Gleichgewicht verlieren konnte, aber meine Fingerspitzen kribbelten unter der Anspannung. Es war ganz einfach die schlimmste Vorstellung jemals; Harry in den sündhaften Fluten von Cottager's Cove.
»Kannst du nicht einfach... Kannst du dich nicht einfach an den nächsten See teleportieren?«
»Ich könnte.« Harry lehnte sich endlich wieder ein Stück zurück, um mich anzusehen. Was für ein ungewohnter Anblick; die Drehung seines Hals im braunen Kragen einer Jacke. »Es ist Materialisieren und Dematerialisieren, Louis.«
»Wo ist der Unterschied?«
»Ich weiß es nicht. Ich kenne das Wort ›Teleportieren‹ nicht.«
Noch bevor ich überrascht sein konnte, ergab es Sinn. »Es bedeutet dasselbe, schätze ich. Eure Sprache ist nur...pragmatischer. Du materialisierst und dematerialisierst dich. Teleportation.«
»Teleportation.«, wiederholte Harry und trat endlich ein paar Schritte von der Wasserkante weg. »Das verkünde ich.«
»Im Himmel? Was bedeutet das?« Experimentell trat ich noch ein bisschen weiter zurück und es klappte. Harry folgte mir.
»Ich speise es in die Archive ein. Dann geht es in das kollektive Wissen über. Ich habe es gelernt und ermögliche den anderen, es auch zu lernen.«
»Den anderen?«, fragte ich vorsichtig und führte uns langsam wieder höher, weiter aus dem Uringeruch heraus. »Wer sind die anderen?«
Ich spürte Harrys Seitenblick auf mir. »Die anderen Engel.«, sagte er, als wäre es ganz selbstverständlich.
Ich fragte trotzdem weiter. »Außer den Engeln...gibt es noch andere...Wesen im Himmel?«
»Wir Engel. Und Gott.«
Gott. Gott. Harry konnte es so oft sagen, wie er wollte; es würde niemals normal klingen. Niemals real. »Engel und Gott und...was ist mit den Menschen?«
»Ihr seid auf der Erde.«, erinnerte Harry geduldig und wir waren wieder oben an der Straße.
»Ich meine...nach dem Tod. Wenn der Himmel existiert...gehen dann nicht die...ich weißt nicht; die Seelen..? Gehen die dann nicht in den Himmel? Wer sich gut benommen hat?« Was für absurde Fragen. Wie naiv, sie einfach so auszusprechen. Eigentlich seltsam, wie sehr ein einziger schwebender Engel mein Realitätsverständnis so schnell kippen konnte. »Was passiert nach dem Tod?«
Harry blieb stehen. Ich tat es ihm sofort gleich. »Das darf ich dir nicht sagen.«, verkündete er dann.
Enttäuschung lief in meinem Bauch aus. »Bitte, Harry? Ich behalte es auch für mich.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Sein Blick folgte einem Auto, das an uns vorbeifuhr. »Das geht nicht.«
Ich folgte ihm. Nicht zufrieden mit der fehlenden Transparenz. »Also erzählst du mir, dass es einen Himmel gibt, aber nicht, ob ich dort nach dem Tod hinkommen kann?«
»Es gibt Dinge, die die Menschen nicht wissen dürfen, Louis.«
»Wieso? Wenn du mir erzählen würdest, dass es ein Leben nach dem Tod gibt – oder wie auch immer, oder eben auch nicht – inwiefern würde mir das schaden?«
»Louis.«
»Harry.« Es war Quengeln, aber was blieb mir anderes übrig? Er klang ernst und als würde er wirklich an dieses Konzept glauben; ein Verbot für eine ganze Spezies. Ein sinnvolles Verbot für eine ganze Spezies.
»Ich darf es dir nicht sagen.«, wiederholte er.
»Aber wieso?«, wiederholte ich.
»So ist es, Louis. Du darfst es nicht wissen.«
»Das ist kein Grund.«, beschwerte ich mich. »Das ist kein Argument.«
»Aber es ist die Wahrheit.«
»Dann begründe mir die Wahrheit!«
Harrys Augen waren traurig, oder zumindest bedauernd. »Du musst mir hier vertrauen, Louis.«
»Vertrauen und ›Müssen‹ ist eher ein Widerspruch.«, bemerkte ich trocken, aber dann waren da die großen, grünen Augen in diesem orange-braunen Herbst. »Egal.«, seufzte ich. Es brachte mir jetzt nichts, mit Harry über Dinge zu streiten, über die er sich längst eine Meinung gebildet hatte. Dass meine Neugier jetzt entfacht war und sich bestimmt nicht so schnell wieder legen würde, war etwas, das ich erstmal akzeptieren musste. Welche Umstände konnten Harry so sehr davon überzeugen, dass ich und alle anderen Menschen auf keinen Fall davon erfahren durften, was nach dem Tod kam oder auch nicht kam? Und, wenn Engel real waren, war es dann so abwegig, dass es irgendeine Form von Existenz nach dem Tod gab? Schaffte ich es, mir das vorzustellen?
»Warte.«, sagte ich und blieb stehen. Harry stoppte auch. Meine Knie wollten ein bisschen mehr Halt. Alles an mir. »Werden Menschen zu Engeln? Warst du ein Mensch?«
Er sah mich an, als hätte ich ihn nochmal unangekündigt einen Engel genannt. Na gut, nicht ganz so geschockt. Für einen Moment war ich mir sicher, ich hatte eine weitere fundamentale Wahrheit mit mehr Glück als Verstand zufällig aufgedeckt, aber dann verzog sein Gesicht sich zu einer ungläubigen Maske. »Nein.«, sagte er, nicht laut, nicht kraftvoll, aber er hätte es genauso gut schreien können und es wäre nicht eindeutiger oder empörter gewesen. »Ich bin als Engel entstanden.«
Entstanden. Es klang dumm, aber nicht dümmer, als ich mich fühlte. Also nickte ich, als wäre es keine Enttäuschung. Und was gab es jetzt noch für mich zu sagen? »Also kann ich kein Engel mehr werden?«
»Du bist ein Mensch, Louis.«, erinnerte Harry nachdrucksvoll. Wieso musste er das immer so sagen, als wäre ich ein Kind, das seine eigene tödliche Krankheit noch nicht begreifen konnte? Schon klar, dass es wahrscheinlich cooler war, ein Engel zu sein als ein langweiliger Mensch, aber es wäre schon ziemlich deprimierend, wenn Engel der eindeutigen Meinung waren, dass das Menschsein ein einziger bemitleidenswerter Fluch war. Ich bemitleidete mich selbst genug. Das Letzte, was ich brauchte, war die Zustimmung von meinem Schutzengel.
Wir überquerten Portland Street. »Es ist frustrierend.«, gestand ich.
»Was?«, fragte Harry, aber sein Blick blieb regelmäßig an Fenstern, Menschen und Unkraut zwischen den Steinen hängen. Ob er bemerkte, wie alle zwanzig Sekunden ein fremdes Paar Augen auf seine nackten Füße aufmerksam wurde?
Meine rechte Hand in der Jackentasche schloss sich um einen kleinen, abgegriffenen Bleistift. »Siehst du den Hund da drüben? Auf der anderen Straßenseite? So welche haben hier alle. Wirklich. Manchesters populärste Hunderasse, wette ich.«
»Das ist frustrierend?«, fragte Harry verwirrt.
Ich gewährte mir für ein paar Sekunden den Luxus, meine Augen zu schließen. »Nein. Ich wollte nur das Thema wechseln.«
»Oh.« Harrys sanfte Stimme. »Okay.« Es klang immer noch wie ein fremdes Wort, wie eine Sprache, in deren Zunge er seiner eigenen nicht traute. Wie als Olivier mich wieder und wieder ›Croissant‹ sagen lassen hatte, weil ich mich dabei angeblich unvergleichlich dämlich anhörte. Aber ich würde Harry nicht darauf hinweisen. Auch wenn ein bisschen mehr Unsicherheit wahrscheinlich die wichtigste Lektion in Menschlichkeit sein würde, die er bekommen könnte.
»Ich vergesse den Namen.«, sagte ich stattdessen. »Ich kenne mich mit Hunderassen nicht aus. Nach irgendeinem Shire benannt. Vielleicht ist es nur Gay Village. Aber wirklich; jeder zweite Hund.«
»Ich habe noch nie eine andere Hunderasse gesehen.«, berichtete Harry und schien wirklich ganz fasziniert von dem Tier zu sein. »Darf ich sie kennenlernen?«
»Sie? Nein.« Ich wandte den Blick wieder von der anderen Straßenseite ab.
»Wir müssen sie nicht anhalten.«, beschwichtige Harry.
»Nicht heute, Harry. Nicht hier. Meine Nachbarin gegenüber hat einen Hund, vielleicht begegnen wir dem Mal im Treppenhaus. Den kannst du streicheln.«
»Ich möchte ihn nicht streicheln.«
Ich musste ein bisschen lächeln. Was wollte er sonst tun? Sich telepathisch mit ihm unterhalten? Vielleicht nicht mal telepathisch. Ich sah Harry an, die dünne Haut seines Halses, ein weicher Kehlkopf. »Wie viele Sprachen sprichst du?«
Harry hatte wesentlich sein Tempo reduziert, auch wenn der Hund mittlerweile schon an uns vorbei war. »Sprache, wie du meinst; verbal und menschlich? Eine.«
»Eine?« Keine Ahnung, mit welcher Antwort ich gerechnet hatte, aber irgendwie nicht damit. Sollte ein Schutzengel nicht mindestens trilingual sein? »Bist du deshalb mein Schutzengel? Damit wir miteinander kommunizieren können? Andere Schutzengel sprechen Mandarin und Spanisch?«
»Ich bin nicht dein Schutzengel, weil wir die gleiche Sprache sprechen. Wir sprechen die gleiche Sprache, weil ich dein Schutzengel bin.«
»Du hast sie nur für mich gelernt?«, fragte ich, ohne ganz sicher zu sein, was ich hören wollte.
»Ja.« Er sah noch einmal dem Hund nach. Ich widerstand stur. »Wenn mein nächster Schützling brasilianisch ist, lerne ich Portugiesisch. Wenn er finnisch ist, lerne ich Finnisch. Wenn er libanesisch ist, lerne ich Arabisch.«
Ich ließ ihn noch ein paar mehr Länder und Sprachen aufzählen. Was für ein irres System und die bedrängendste Vorstellung von allen; dass Harry nach mir einfach zu seinem nächsten Menschen übergehen würde. Natürlich war das logisch. Harry war unsterblich und ich hatte nur noch ein paar mehr Jahrzehnte übrig. Die Menschheit würde noch eine Weile weiterbestehen und das Leben auf der Erde würde garantiert nicht sicherer werden. Harry würde hochgefragt sein. Er würde zum nächsten Menschen übergehen, und zum übernächsten, und er würde vergessen, dass er mich jemals bis 72 hatte zählen lassen.
Ich schluckte die unbehagliche Vorstellung herunter, die so viel größer als mein Kopf war. »Dann hoffe ich mal, dass ihr Engel genetisch zum Sprachenlernen veranlagt seid.«
»Genetisch?« Harry warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu. Manchmal war es so schwer, herauszuhören, was er dachte. Für ihn gab es keine Kopplung zwischen Bewusstsein und Körper, das hatte er gesagt. Welche Emotionen würde er vor mir verstecken können, wenn er es nur wollte? »Ich werde die Sprachen in den Archiven lernen.«
»In welchen Archiven?«
»In den himmlischen Archiven. Dort lassen sich Sprachen transferieren.«
Ich war mir sicher, dass, was auch immer er gerade sagte, meinen Mund auffallen lassen sollte. Aber noch empfand ich nur Neugier. »Was heißt das?«
»Die menschlichen Sprachen sind dort archiviert. Wenn ich das möchte, kann ich sie aus den Archiven in mein Gedächtnis transferieren.«, erklärte er ganz simpel, als wäre es nichts.
»Du kannst alle Sprachen der Welt einfach so...wissen?«
»Ja. Es sind wichtige Kommunikationsgrundlagen.«
»Harry! Das ist so cool!«
»Es ist nützlich.«
Die Vorstellung machte mich so glücklich, dass ich lachte. Ein Ort, an dem alle Sprachen der Welt existierten, und die Möglichkeit, einfach alle Daten in ein einziges Gehirn herunterzuladen. Wie perfekt war das?!
»Ihr habt alle Sprachen gespeichert, aber kennt nicht das Wort ›Okay‹?«, fragte ich ungläubig, und fast noch glücklicher über diese absurde Mangelhaftigkeit.
»Eure Sprachen entwickeln sich sehr schnell weiter.«, sagte Harry verteidigend. Seine Finger friemelten an dem Saum seiner Jacke. »Ihr kreiert viele Neuschöpfungen.«
»›Okay‹ ist das meistgenutzte Wort der Welt! Es existiert mindestens seit...keine Ahnung. Seit den Siebzigern? Den Sechzigern? Sicher länger!«
»Ihr kreiert so viele Neuschöpfungen, dass es nicht nachhaltig oder weise wäre, sie alle aufzunehmen.«, erklärte er und ich wollte protestieren, dass mindestens 50 Jahre Nutzung in Sachen Sprache nicht mehr unbedingt, als wackelige neue Trendvokabel galt, aber dann begriff ich, was Harry wirklich meinte. Ich konnte froh sein, dass er nicht einen warmen Mix aus frischer, unetabliertester Jugendsprache nutzte – und eine Horde an Engeln mit ihm. Er hatte recht; so funktionierte Sprache nicht. Auch wenn der Himmel vielleicht ein kleines bisschen mehr Streben zur Modernität zeigen könnte. Außerdem; Harrys Grammatik war ziemlich neuzeitlich.
»Wie lange braucht ein Transfer?« Irgendwas in meiner Brust hüpfte immer noch aufgeregt herum.
»Zeit kann in den Archiven relativ sein, Louis.«
»Okay, okay.« Oder auch; keine Ahnung, was das bedeuten sollte. »Aber...könntest du jetzt in die himmlischen Archive gehen und, sagen wir...in einer Stunde wieder hier sein und Finnisch, Portugiesisch und Arabisch sprechen?«
»Ich könnte in einer Minute wieder hier sein, Louis.«
»Eine Minute?!«, fragte ich viel zu laut. »Und Finnisch, Portugiesisch und Arabisch sprechen können?!«
»Ja.«, bestätigte Harry so leicht, dass es nur die Wahrheit sein konnte. »Aber du sprichst diese Sprachen nicht, oder?«
»Schön wär's.«
»Dann brauche ich sie nicht.«
»Kluge Zungen würden behaupten, ich bin nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten, der zählt.«
»Kluge Zungen?«
Natürlich. »Andere Menschen. Alle anderen Menschen.«
»Mit allen anderen Menschen muss ich nicht kommunizieren, Louis.«
»Das ist lieb und aufregend, dass du das so sagst, und mein Ego fühlt sich wirklich geschmeichelt, aber du könntest so viele Sprachen sprechen, wie du willst!« Begriff er nicht das Potential? Wie konnte es ihn nicht in den Fingern jucken? Wie konnte er hier barfuß auf den Steinen stehen, einen halben Fuß im Himmel, und dann sagen: ich spreche nur eine Sprache?
»Es gibt nicht unendlich viele Sprachen.«
Auch wenn sich darüber streiten lassen könnte, nickte ich es ab. »Ja, aber...viele! Alle. Du könntest sie alle sprechen. Alle! Einfach so! Ohne Lernen! Ohne Fehler!« Ich war wirklich viel zu aufgeregt für diesen Sonntagnachmittag. Aber ich konnte mich nicht einfach so abregen. »Außerdem möchtest du doch mit Menschen reden! Mit anderen. Du willst sie alle kennenlernen, ständig! Sogar die Hunde auf der Straße.«
»Ich bin neugierig.«, erklärte er, als wäre das eine ausreichende Erklärung.
»Ha.«, sagte ich, als wäre es eine ausreichende Reaktion. »Du bist absolut irre, Harry, weißt du das?«
»Nein.«, war seine hilfreiche Antwort. Was für ein Wunder ein Nicht-Mensch sein konnte. Ich fing seitlich eines seiner Blinzeln auf. In der Öffentlichkeit trainierte er sie fleißig, ebenso die vagen Atemzüge, weil er beides für obligatorisch hielt, um nicht auf einem Scheiterhaufen zu landen. An den beiden letzten Tagen waren wir alleine gewesen. Am Freitag hatte er mich in der Bibliothek erwischt, zum Glück bei den Waschbecken einer ansonsten leeren Toilette, aber mein Herz hatte trotzdem aus meiner Brust springen wollen. Weil ich ihm direkt versichern konnte, dass ich keine Zeit für ihn hatte, war sein Kompromiss in Kraft getreten; er hatte mich unsichtbar für eine Weile begleitet. Eine Weile war hier ein unbestimmter Begriff, denn ich hatte keine Ahnung, wann seine Unsichtbarkeit zu Abwesenheit geworden war. Was für ein Nervenkitzel.
Gestern hatte er mich in meiner Wohnung erwischt, aber leider auch mitten im Lernen, und so hatte er sich auf meine Nachfrage hin stumm auf den Kleiderschrank gesetzt und mich ohne mein Zutun beobachtet. Nach etwa zwei Stunden hatte er sich mit einem simplen ›Tschüss, Louis.‹ verabschiedet. Harry; Enigma.
»Das ist ein großes Haus.«, bemerkte er und hob seinen Arm, um mir bei der Identifizierung zu helfen. Wir waren an der Zentralen Bibliothek mit ihren hohen, runden Wänden angekommen. Die Fenster waren rechteckig und dunkel. Sie war eine der Bibliotheken, die an Sonntagen schloss.
»Es ist eine große Stadt.«, war mein bestes Angebot einer Erklärung.
»Ihr wollt hoch hinaus.«
»Du kannst nicht immer die komplette Menschheit verallgemeinern, Harry.«
Er warf mir einen fragenden Blick zu. Seine Locken lebten mit dem sanften Wind. »Ich möchte nicht verallgemeinern. Aber es ist ein Muster. Menschen sammeln sich zu Tausenden und Millionen an den gleichen Orten und bauen Häuser, die sie das Leben kosten könnten.«
»Das gehört wirklich nicht zu den dümmsten Dingen, die wir so tun. Nicht ansatzweise.«
»Ihr seid sehr rätselhaft.« Vielleicht hatte er die Kritik mit der Verallgemeinerung nicht verstanden. Oder er hatte einfach recht.
»In der Bibliothek kann man heiraten.«
»Ist sie umgezogen?«
»Wer?«
»Die Bibliothek. Ist sie umgezogen? Vorgestern war es ein anderes Gebäude.«, erinnerte er mich, als würde er es wirklich für eine Möglichkeit halten, dass ich komplett dämlich war.
»Manchester hat viele Bibliotheken. Über 20, glaube ich. Das hier ist die älteste. Glaube ich..? Obwohl; Chatham's ist uralt. Ich weiß nicht, welches die älteste ist, aber das hier ist die berühmteste. Deswegen die Hochzeiten. Sie gehört aber nicht zur Uni. Quizfrage: Wie heißt die Universität, an der du vorgibst, zu studieren?«
»University of Manchester.«, verkündete Harry vorbildlich. »Der Spitzname ist U-O-M.«
»Die Abkürzung.«, berichtigte ich. »Aber sehr gut. Ich wollte nur sicher gehen.«
»Ich kenne meine Identität.«, versprach Harry. »Ich habe mir alles gemerkt. Ich bin bereit, dich in die U-O-M zu begleiten.«
Ich wollte seufzen, aber ließ es sein. »Das hier ist der Cenotaph. Irgendwer hat gesagt, den wollen sie jetzt bewegen.« Ich deutete auf die grauen Säulen, Harrys Blick folgte. »Ich weiß nicht, ob du schon bereit bist, Harry. Für die Uni.«
»Ich bin bereit! Ich trage die schwere Kleidung und habe in der letzten Minute zehnmal geblinzelt und elfmal geatmet!«
Wenn es so einfach wäre. »Pass auf, Harry. Ein Vorschlag. Du kommst nicht mit in die Uni. Das wäre sowieso alles ein bisschen unsinnig, weil du mich nicht begleiten könntest. Du bist Kunststudent. Du gehst nicht in meine Kurse. Ja, du könntest in einer Pause dazustoßen, aber die sind manchmal hektisch. Hier der Vorschlag; Mittwoch. Dann darfst du Zayn kennenlernen. Mittwochabend. Und ich werde fragen, ob Zayn Niall einlädt. Vielleicht sind die beiden dann mehr mit sich beschäftigt. Was denkst du?«
»Ich denke, das ist sehr gut!«, strahlte Harry mit Grübchen, die sich viel zu gerne versteckten. »Ich wollte Zayn schon sehr lange kennenlernen. Und Niall? Wer ist das?«
»Zayns Freund.« Es war süß, wie sehr Harry sich freute, und ich hoffte inständig, dass ich hier nicht voreilig war. Mit der Idee, Niall und Zayn zu kombinieren, um sie von Harry abzulenken, belog ich mich selbst. Wenn Zayn Harry nach all der Zeit vor die Augen bekommen würde, dann wäre sein Interesse garantiert geweckt – vor allem, weil er daran glaubte, dass Harry und ich miteinander schliefen, oder Ähnliches. Aber vielleicht musste ich hier einfach in den sauren Apfel beißen. Harry würde garantiert nicht aufhören zu quengeln und mit Zayn machte ich es wahrscheinlich schlimmer mit jeder weiteren Stunde, in der ich ihm Harry vorenthielt.
»Auch dein Freund?«, fragte Harry neugierig und eine schwindende Wolke gewährte ferne Strahlen auf seine Wangen. Natürlich wählte die Sonne unter all den Gesichtern hier Harrys aus. Seine dunklen Wimpern glänzten schwer.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder die Augen verdrehen wollte. »Ich bin auch mit Niall befreundet, ja. Ich kenne ihn aber noch nicht so lange. Zayn ist sein fester Freund.«
»Fest?«
»Sie sind in einer Beziehung.«, half ich weiter. Noch eine Lücke im himmlischen Wortschatz anscheinend.
»Aber du doch auch. Du hast Beziehungen mit ihnen.« Harry klang nicht, als könnte er falsch liegen. Lag er ja auch nicht.
»Das ist nicht gemeint. Es ist...« Wie konnte ich Konzepte für Harry beschreiben, wenn er das entsprechende Vokabular nicht besaß? »Es ist eine romantische Beziehung. Zwischen Zayn und Niall.«
»Romantisch?«
»Romantik, ja? Weißt du, was das ist?«
»Ja. Eine menschliche Kulturepoche.«
Ich lächelte, überrascht von Dingen, die mich langsam nicht mehr überraschen sollten. »Du kennst dich ja doch mit Kunst aus.«
»Wir lernen irdische Geschichte.«
Das war ein Thema, über das ich definitiv mehr wissen wollte, aber erstmal musste ich die Beziehungssache aufklären – bevor es am Mittwoch zu ganz unangenehmen Missverständnissen kam. Wusste Harry wirklich überhaupt nicht, wovon ich sprach? Hieß das, Engel verliebten sich nicht? Kannten sie kein Verlangen?
»Zayn und ich sind platonische Freunde. Das hört sich schlimm an.« Homophob fast. Machte das Sinn? »Zayn und Niall...sie sind auch Freunde, aber auch mehr.« Fühlte es sich so an, seine eigenen Kinder aufklären zu müssen? Wenn ja, dann Hut ab an meine Mum. »Sie fühlen sich zueinander hingezogen. Körperlich und romantisch – nicht im Sinne der Kulturepoche. Weißt du, was es bedeutet, sich zu verlieben?« Die mutigste aller Fragen. Nicht, dass ich Zayn und Niall unterstellte, sie wären schon am Punkt vom Verlieben angekommen – Zayn würde ich das eigentlich schon unterstellen. Aber wie sehr ging es bei der Frage um Niall und Zayn? Ich traute mich nicht, Harry anzusehen.
»Ja.«, bestätigte Harry.
Ein kleiner Stein in meinem Herzen, ein großer Fall, unbegründet, idiotisch. »Keine andere Kulturepoche?«, versicherte ich mich trotzdem, fast leichtsinnig.
»Nein. Verlieben wie Liebe. Natürlich weiß ich, was das ist.« Wahrscheinlich hatte er das Recht, das einfach so zu sagen, aber die Selbstverständlichkeit war empörend, wenn ich all die sehr offensichtlichen Dinge bedachte, die Harry mit der gleichen Selbstverständlichkeit nicht wusste. »Zayn und Niall sind verliebt?«
»Entweder das oder sie sind auf einem guten Weg dahin.«
»Es gibt einen Weg?«
»Metaphorisch, Harry. Emotional. Wenn du mich fragst, sind sie sehr bald sehr verliebt ineinander.« Was für ein seltsames, indiskretes Gespräch. Aber mit Harry war es etwas Anderes. Oder?
»Woher weißt du das?«
Ich zuckte leicht mit den Schultern und dachte an Harrys Imitation. »Ich kenne Zayn. Und ich sehe die beiden.«
»Menschen können keine Gefühle sehen.«, stellte Harry schnell klar, als könnte ich sonst aus Versehen die biologischen Regeln meiner Spezies brechen.
»Kannst du Gefühle sehen?«
»Nein.«
Irgendwie enttäuschend, irgendwie erleichternd. »Du wirst sie ja kennenlernen. Dann kannst du selbst urteilen.«
»Darauf freue ich mich sehr!«, versicherte Harry. War er ein paar Zentimeter größer geworden? »Danke Louis!«
»Du musst auf dem Boden bleiben. All das Blinzeln bringt dir gar nichts, wenn du einen halben Meter in der Luft schwebst.«
»Oh.«, war sein ganzer Kommentar dazu, und wirklich; er schrumpfte direkt wieder ein bisschen. Ein leichtes Rosa legte sich auf seine Wangen, dann, plötzlich, mit großen Augen legten sich seine Hände auf das leichte Rosa. »Oh.«, sagte er nochmal.
»Ist es so schlimm, die Erde zu berühren? Dass du immer einen Sicherheitsabstand brauchst?«
»Es ist leichter ohne Berührung.« Vorsichtig ließ er seine Hände wieder sinken. »Was ist das, Louis?«, fragte er mit auf den Boden gerichteten Blick.
Ich brauchte eine Sekunde. »Schienen. Für die Bahnen.« Sein Blick wurde nur noch fragender und ich hörte förmlich schon das ›Bahnen?‹ oder ›Schienen?‹ von seinen Lippen, und ich war bereit für eine tiefere Erklärung, aber ein bekanntes Klingeln zerschnitt meine nächste Überlegung nach engelgerechten Worten.
Harrys Augen wurden so groß, sie waren fast rund, kugelrund, und weil ich plötzlich intuitiv Angst hatte, er könnte mich zu Boden ringen, hob ich schnell eine beschwichtigende Hand. »Nur mein Handy!«, versicherte ich und brachte es mit der anderen Hand zum Vorschein. »Hier, nur mein Handy, es ist nur...oh... fuck.«
Harrys Schultern zuckten, aber das war meine kleinste Sorge. Ich starrte den einzelnen Buchstaben auf dem sonst dunklen Display an, und noch obszöner der grüne Hörer darunter. Träumte ich?
»Was bedeutet das?«, fragte Harry, der in eine nicht fest definierbare Alarmposition gegangen war.
»Nichts.«, log ich. Das Klingeln ertönte erneut und Harry war mir auf einmal sehr nah. Sollte ich abnehmen? Ich musste. Oder? »Warte kurz.«, sagte ich zu Harry, Stimme schon jetzt härter, und brachte schnell ein paar Schritte zwischen uns.
Meine Finger waren plötzlich zu kalt. Ich blinzelte auf das bildlose Anruferprofil herab, wollte Worte suchen, aber mein Kopf war leer. Das fünfte Klingeln erstickte ich mit dem grünen Hörer. Langsam führte ich das Handy an mein Ohr. Begrüßungen? Was waren Begrüßungen? War das, wie Harry sich fühlte? Hatte ich diese Sprache jemals gekannt?
»Hallo.«, gelang es mir schließlich, nachdem ich schon das raue Atmen herausgehört hatte.
»Louis?«
»Wer sonst?«
»Louis, ich bin es.«
›Wer sonst?‹, wollte ich wieder fragen, aber zwang mich zur Beherrschung. »Ich weiß.«, sagte ich stattdessen trocken. »Warum rufst du an?«
»Ich habe dir geschrieben.«
»Ich weiß.«
»Ja?«, fragte mein Dad. »Warum hast du dann nicht angerufen?«
Ich warf Harry einen Blick zu. Er verfolgte aufmerksam jede meiner Bewegungen. »Keine Zeit.«, log ich.
»Die ganze Woche nicht?«, fragte er skeptisch mit seiner Stimme wie Stahl, der nicht rosten sollte, aber es doch tat.
Harrys rote Herbstwangen. Ich musste nicht mal mit meinem Vater in einem Raum sein, um eine Person zu werden, die ich selbst verachtete. »Wieso rufst du an?«
In meinem Kopf ging ich die theoretischen Möglichkeiten durch, die ich mit Zayn angeschnitten hatte, eine unrealistischer als die andere – vielleicht hatte er auch einen Monatsdreher mit meinem Geburtstag und triumphierte mit einem Nach-15-Uhr-Anruf am 24.11. – aber als mein Dad antwortete, war ich trotzdem überrascht. »Ich würde mir wünschen, dass du am 3. Dezember nach London kommst.«
Es ging zu schnell, er hatte die Worte gesagt, und ich lachte, bevor ich mich vor irgendeine andere Wahl gestellt hätte. Er hätte genauso gut Arabisch oder Portugiesisch oder Finnisch – oder alle drei Sprachen – sprechen können; ich wäre nicht weniger überrascht gewesen.
Charakter eines Lachens; es ließ alles andere verstummen. Was auch immer er jetzt noch hätte hinzufügen können, ich hatte es erstickt. Und was auch immer ich jetzt noch sagen konnte; es hatte nicht nicht mal die Chance, überhaupt zu entstehen. Hilflos sah ich wieder zu Harry. Er sah so verloren aus, in der hellen Jeans, der warmen Cordjacke und tapferen Füßen auf eisigen Schienen. Würde Harry verstehen, dass er sich wegbewegen müsste, wenn eine Bahn kam? Hoffentlich. Das würde ich sonst an die Spitze meiner Liste konstruktiver Kritik an den Himmel setzen und im Eingang der nächsten Kirche verbrennen.
Harry hielt meinen Blick fester, als ich mich an das Handy krallte. Dann, langsam, hob er eine Hand und führte zwei der Finger gegen seine Schläfe. Für den Bruchteil einer Sekunde traute ich mir das skrupellose Auflegen zu. Tat es doch nicht.
»Was?«, sagte ich dann endlich.
Er atmete aus, statisches Zittern gegen mein Ohr. »Es gibt ein Bankett. Ein Dinner. Um 18 Uhr.«
Lunch, wie sie in Manchester sagten. Nein, wie Söhne illusionierter Väter sagten.
Mir fehlte ein bisschen Luft, eine winzige Menge, aber ich sagte es trotzdem. »Du willst mich zum Essen einladen?«
»Es wäre gut, wenn du dir am 3. Zeit nehmen könntest, Louis. Hast du noch deinen Anzug, den dunkelblauen?«
Wow, also hatte er wohl mal Fotos von meinem Schulabschluss gesehen. Respekt. »Wollt ihr mich opfern und essen? Soll ich vielleicht vorher in Ziegenmilch baden? Thymian?«
Er wurde eindeutig zu leise. Vor viel zu vielen Jahren hatte er verlernt, mit mir zu reden. Er musste sich erst räuspern, bevor er wieder etwas sagen konnte. »Louis. Bitte.«
Es war kein ›Louis, bitte: komm nach London.‹, sondern ein ›Louis, ich bitte dich. Rede nicht, als wärst du in Doncaster aufgewachsen.‹; eine Ermahnung, metallischer Ekel.
»Ich denke nicht, dass ich nach London kommen will.«, erklärte ich, weil er dann vielleicht wenigstens die Wahrheit hatte.
»Es ist wichtig, Louis.« Er sagte meinen Namen immer, als würde er ihn ablesen. Von meiner Geburtsurkunde. Ich existierte wirklich.
»Du verstehst sicher, dass ich keine besonders große Lust auf ein Bankett habe, aber danke für die Einladung. Ich fühle mich geehrt.«
»Gordon Brown wird da sein. Und es gibt Gerüchte...David, wenn er es schafft.« David. Als könnte er mich damit beeindrucken. »Die Presse, auf jeden Fall. Es würde mir viel bedeuten, wenn du-«
»Nein.« Wie konnte es sein, dass ein Gehirn so funktionierte? Dass mein Gehirn mit seinem verwandt war? Er hatte es mit ungewaschenen Händen modelliert, noch bevor ich gelernt hatte, meinen eigenen Namen zu schreiben. Wie kam ich hier wieder raus? Ich hätte den Anruf nicht annehmen sollen. Was hatte ich auch erwartet? Dass er mich fragte, wie es mir ging?
»Ich denke, du verstehst nicht, worum es hier geht.«
Da mochte er recht haben. Oder auch nicht. Vielleicht verstand ich ein bisschen zu gut um unsertallerwillen, worum es hier ging. »Gibt es noch mehr, wieso du angerufen hast?«
Wieder kurze Stille. Er führte ein hartes Leben. Ich hätte Mitleid gehabt, hätte ich nicht vom Besten gelernt. »Ich denke, du solltest nochmal hierüber nachdenken, Louis. Andere Junge in deinem Alter-«
»Ich bin erwachsen. Und wenn die anderen Jungen in meinem Alter sich um diese Stelle reißen, lasse ich einfach einem von ihnen den Vortritt. Ich suche dir einen, keine Sorge. Bügelfalte und so weiter. Mein Anzug hat sowieso einen Whiskeyfleck.«
»Wenn deine Mutter dich so reden hören könnte-«
»Ich wünsche dir noch einen wunderschönen Sonntagabend. Danke für den Anruf.«
Da war seine Stimme, sie redete noch gegen kalte Luft, als ich das Handy schon von meinem Ohr genommen hatte. Ein Befehl meines Daumens und mein Dad war wieder so fern wie vor wenigen Minuten noch. Nur leider nicht ganz.
Verlockende Handlungsoptionen; schreien, seufzen, Laub treten. Stattdessen stellte ich mein Handy leise und vergrub es in einer Innentasche meiner Jacke. Harry wartete noch immer. Mit meinem Blick erneut auf sich, ließ er die Hand an seiner Schläfe sinken. Ich schloss den Abstand zwischen uns, schnell, und lief an ihm vorbei. Er lief hinterher.
»Du hast dich in meine Ohren geschlichen, um mitzuhören?«, fragte ich bitter. Frustriert über Harry, über den Nachmittag, der in Nacht versank, über meine frostigen Fingerspitzen, über meine am Ansatz schon fettigen Haare wie dickes Schilfgras im Wind, über das House of Lords, über das schwere Sonntagsgefühl in meinem Bauch wie jeden Sonntag und auch jeden Sonntag danach.
»Nein!«, beteuerte Harry, seine magischen Hände an seinen Seiten schwingend, als er versuchte, mit mir Schritt zu halten. »Das würde ich nicht tun! Ich nutze deine Sinne nicht, ohne dich zu fragen. Oder im Notfall.«
An Harrys Notfalldefinition war ich überaus interessiert, aber ich schnaubte nur unzufrieden gegen kommende Dunkelheit. »Was hast du dann gemacht?«
»Ich habe mein Gehör verschärft. Ich konnte nicht verstehen, was dein Handy übertragen hat. Ich habe nur mein Gehör genutzt, nicht deines!«
Was für ein Hinterhalt, ein einziger Verrat. War es ein Scherz? Ich wusste, dass Harry nicht wusste, was es bedeutete, Ironie zu benutzen, aber ich wusste auch, dass er es lernen würde. Und das erste Mal würde mich möglicherweise umbringen. Metaphern verboten. »Das macht es nicht besser.«, erklärte ich ihm trotzdem, auch wenn ich gerade wirklich keine Lust mehr hatte, ihm noch mehr Dinge zu erklären.
»Mit wem hast du geredet?«, fragte Harry, entweder ohne Einsicht oder zumindest ohne Reue. »Wer will dich opfern und essen? Das ist ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Was auch?
›Harry, du Idiot.‹?
›Harry, du bist zu naiv.‹?
›Harry, halt den Mund.‹?
›Harry, du Verräter.‹?
›Harry, nichts hiervon ist deine Schuld. Ich kann nur Emotionen für verschiedene Menschen in meinem Leben nicht getrennt voneinander halten und muss unfairerweise meinen Ärger auf dich projizieren.‹?
»Mein Vater.«, sagte ich mit meiner Zunge.
»Dein Vater möchte dich essen?«
»Nein.«, half ich ihm doch, denn noch weniger, als ihm mehr erklären zu müssen, wollte ich in endlosen Kreisen reden. »Das war nicht ernst gemeint. Er will mich zu einem Abendessen einladen.«
Harry ließ mein Gesicht nicht aus den Augen. Ich musste seinen Blick nicht erwidern, um zu wissen, wie dringend er verstehen wollte. »Eure Kommunikation war sehr verwirrend.«, bemerkte er.
Einige Sachen konnte er also doch begreifen. »Das haben Gespräche mit meinem Vater so an sich.«
»Dein Vater hat sehr große Hände.«
Und dieses Mal blieb mir keine andere Wahl. Meine Mundwinkel wurden weich. Wut, falls sie es gewesen war, verpuffte wie eingebildet, vielleicht ganz. Ich musste doch Harrys Augen suchen, finden. »Du kennst meinen Vater?« Noch bevor ich die letzte Silbe befreite, verstand ich nüchtern. »Das Farbenpicknick.«
»Er war da, ja. Aber weit von meinem Baum. All die erwachsenen Menschen waren weit weg.«
»Hast du mit den anderen Kindern geredet? Außer mir?«
Ich mochte mich nur brüchig an den Tag erinnern, an Harrys weiches Gesicht, das strahlende Weiß im Baum, aber alles außer ihm war eine unbestimmte Lüge verwoben aus all den Farbenpicknicks über die Jahre hinweg. Hatte die Sonne wirklich geschienen? Waren die Blätter so frisch gewesen, dass sie giftig aussahen, oder verdrehte ich die Jahreszeiten? Ich wusste nicht, welche Kinder noch da gewesen waren – Nachbarskinder, einige meiner Cousins? – aber es waren immer andere Kinder dabei gewesen.
»Ich habe nur mit dir geredet.«, versicherte er. Es war absurd, die Vorstellung, dass Harry damals nicht viel älter als ich ausgesehen hatte, wie ein zu junges Kind auf viel zu hohen Ästen, aber das ganz und gar nicht gewesen war. Dass seine Erinnerung meine eigene – fast nicht vorhandene – so weit übertraf.
»Darfst du überhaupt mit anderen Menschen reden?«
»Ja.« Natürlich. Sonst würde er ja nicht versuchen, jede Person kennenzulernen, mit der ich jemals ein Wort gewechselt hatte. »Ich darf ihnen nur nicht meine Identität offenbaren. Und du auch nicht.«
»Dafür trägst du ja dieses tolle Outfit.«, stimmte ich zu. Mein Handy war schon ein bisschen leichter gegen meine Brust.
»Es ist immer noch sehr ungewohnt.«, berichtete er wie für eine Umfrage. »Ich verstehe nicht, wieso ich meine Arme doppelt bedecken muss. Und meinen Rücken. Meine Haut ist intakt. Es ist wie eine Strafe.«
Er war kein Fan der Jacke. Er weigerte sich auch, den Reißverschluss zuzumachen. Er war ebenfalls kein Fan von Reißverschlüssen. Ich war froh, dass ich ihn davon überzeugt hatte, wenigstens den Reißverschluss seiner Hose zu schließen. Er weigerte sich überzeugt, zu verstehen, wofür der gut war. Der Knopf hielt den Hosenbund schon über Harrys Hüften, mehr brauchte er nicht. Ich hielt mich an der Dankbarkeit fest, dass er sich auf die Unterhose eingelassen hatte. Dann gab es wenigstens einen kleinen Puffer für den Fall, dass er sich irgendwann dazu entscheiden würde, gegen den Hosenreißverschluss zu rebellieren. Sogar in der Kälte bestanden meine Wangen darauf, heiß zu werden.
Harrys Gesicht sprang mir direkt wieder zu. Seine Augen tanzten über das vermutliche Rot hinweg. Er spürte, was meine Blutgefäße nicht für sich behalten konnten. »Raus aus meinem Körper.«, wies ich an, mit einer Autorität, die ich nicht besaß.
»Das geht nicht.«, sagte Harry mehr neugierig als alles andere. Ich bemühte mich, meine Wangen wieder zu zähmen, denn vorher würde er mich nicht aus den Augen lassen. Natürlich scheiterte das Vorhaben.
»Du hast gesagt, du suchst nach den Informationen! Such einfach nicht danach!« Es waren Imperative, aber mit dem Feuer in meinem Gesicht fühlte es sich wie Lügen an. Wieso konnte Harry nicht Mensch genug sein, um wenigstens taktvoll wegzusehen?
»Einige Informationen muss ich suchen.«, erklärte Harry wirklich viel zu leichtherzig. »Andere nicht. Deine wichtigsten Vitalzeichen sind immer in mir. Ich könnte sie nicht ausschließen, wenn ich wollte. Dein Herz; dein Blut. Dein Atem. Hier.« Mit gekrümmten Fingern symbolisierte er Strukturen in seinem Hals und meinte meinen. »Unter anderem. Spezifisches muss ich suchen. Jetzt zum Beispiel. Jetzt habe ich deine Katecholamine. Weil ich sie spüren will.«
»Meine was?«
»Hormone, Louis. Adrenalin. Noradrenalin. Du bist aufgeregt. Du würdest gerne wegrennen. Vor mir?«
Das mit dem ›Raus aus meinem Körper‹ schien bei ihm nicht angekommen zu sein. Aber meinen Wangen schien es vielleicht schon ein bisschen besser zu gehen. Nicht darauf achten. »Nein.«, seufzte ich, und es war wahr. Ich wollte nicht vor ihm weglaufen.
»Wovor dann?«
»Vor mir selbst.«
Sofort sah ich ihm an, dass ich seine Neugier damit nur geschürt hatte. Wunderbar. Wieso musste er jedes Wort aufsaugen, jede Silbe, als wäre sie Gold wert? So lächerlich benahmen sich sonst nur Literaturstudenten. »Das ist unmöglich.«
Selbst Menschen kategorisierten nicht so schnell und einfach, wie Engel es anscheinend taten. Oder war das nur Harry?
Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf sagen sollte. Vielleicht hatte ich auch gelogen. War es mein Vater, vor dem ich fliehen wollte? Wollte ich überhaupt fliehen? Ein potentielles Essen in London? London? Wie ich die Stadt hasste. Wenn es eine Stadt gab, die es genoss, Familien zu zerbrechen wie verkokelte Streichhölzer, dann war es die Hauptstadt dieses unehrlichen Landes.
Ich wollte nicht fliehen. Zumindest nicht in dieser Sekunde. Meine Wangen hatten sich beruhigt und ich war froh, hier zu sein. Einen Schritt vor den anderen und die Zukunft konnte noch nicht mehr sein, als wozu ich sie machte. Die Sonne hatte sich selbst versenkt, oder zumindest gaukelten die Häuser und Wolken mir das vor. Es ging so schnell im Herbst. Herbst. Noch war es Herbst. Noch war ich 21 Jahre alt. Ein Monat blieb mir. 31 Tage. Oder 30? Ich konnte es noch schaffen. 21 zu sein und es zu sein.
»Harry?«, fragte ich und sein Name war gut auf meiner Zunge. Wo war die Leichtigkeit hergekommen? Mit den hohen Straßenlaternen über meinem Kopf aufgeleuchtet? Schwankende Emotionen waren das Erkennungsmerkmal jedes guten Sonntags. »Wenn du über 120 Jahre alt bist und ich dein erster Schützling- whoa! Harry!« Ich erwischte ihn am Ärmel. Seine Füße taumelten, als ich ihn zurück zu mir auf den Bordstein zog. Das Auto kam und hätte ihn sehr sicher nicht erwischt, aber Unglauben hatte meinen Herzschlag trotzdem hochgepeitscht. »Es ist Rot!«
Ich gestikulierte wild zu der Ampel, die er übersehen haben musste, Augen jetzt rund wie seine Ignoranz, und erst, als er sein Starren nicht unterbrechen wollte, hielt ich wirklich inne.
Meine Stimme war tief, noch bevor ich sie benutzte. »Erzähl mir jetzt bitte nicht, dass ihr im Himmel nicht lernt, was die Ampelfarben bedeuten.« Alles an ihm war Antwort genug. »Was lernt ihr überhaupt?!«
Er riss sich von der Ampel los, sah aus, als würde er potentiell gleich in Tränen ausbrechen. »Ampelfarben?«, fragte er so leise, dass ich es nicht verstanden hätte, hätte ich ihm das Wort nicht selbst in den Mund gelegt.
»Rot; Stehenbleiben! Grün; Gehen! Harry! Ich dachte-« Ich wollte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich wünschte, das wäre etwas, das Menschen wirklich taten. »Ich habe die ganze Zeit versucht, mir vorzustellen, wie das so ist, wenn ihr lernt, Schutzengel zu werden; wie ihr in goldenen Tempeln sitzt und so vieles nicht versteht. Die Sprache. Die Kultur. Aber ich dachte, die eine Sache, die einzig wichtige Sache...ist sowas. Ist das hier. Rote Ampel: Stopp, Stopp, Stopp! Hast du irgendetwas gelernt? Oder hörst du nur meinen Herzschlag in meiner Brust und gerätst dann auch in Panik, wenn ich in Panik gerate? Ampeln! Das lernen wir im Kindergarten! Grundlegender geht es nicht!«
Ich wollte noch mehr sagen, noch empörter sein; Wozu hatte ich mein Realitätsverständnis umgekrempelt, um an Schutzengel zu glauben, wenn ein Schutzengel nicht mal an einer roten Ampel anhielt? Aber es brachte nichts. Entweder hatte Harry mich längst verstanden oder er würde es auch nicht mehr tun.
Die Ampel sprang auf ein verwaschenes Grün um. Ich deutete wieder auf das Licht, mit einem Blick, der sagen musste, was ich ihm sonst ersparte.
»Grün.«, sagte Harry, noch immer leise. Er sah mich nur vorsichtig an. »Gehen?«
»Ja!« Erst jetzt spürte ich wieder den Cordstoff seines Ärmels zwischen meinen Fingern. Ich zog ihn noch sanft mit mir auf die Straße, damit er die Lektion wirklich verstand, dann ließ ich ihn los. »Unglaublich.«, seufzte ich.
»Grün; Gehen. Rot; Stehenbleiben.«, wiederholte Harry mit langsamen Schritten und Tunnelblick auf das grüne Männchen, wie hypnotisiert. »Gegen die Autos. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme..? Sehr klug.«, gestand er und klang viel zu überrascht. Aber vielleicht musste man die Menschen für dämlich und unvorsichtig halten, wenn man die Aufgabe hatte, ihr Leben zu schützen. »Sehr simpel. Funktioniert es?«
»Wenn nicht gerade ein Engel durch das Verkehrsgeschehen läuft, dann ja.«
»Ich muss lernen.«, verkündete Harry beschämt und warf der Ampel einen letzten Schulterblick zu. Wir hatten die Straße überquert.
»Es funktioniert. Mehr oder weniger. Es ist gesetzlich gesichert. Bei Rot über die Straße zu gehen, ist verboten. Aber natürlich hält man sich nicht immer daran. Manchmal ist die Straße leer und es ist eine kleine Kreuzung. Autos fahren auch bei Rot. Das ist das Gefährlichere, schätze ich. Es ist ein gutes Konzept, würde ich sagen, aber im Straßenverkehr passieren wahrscheinlich auch die meisten Unfälle. Frag mich nicht nach Statistiken.«
»Das muss ich unbedingt verkünden.«, sagte Harry entschlossen, und wahrscheinlich war ich einfach sonntagsschwach, ich musste lächeln.
»Weißt du, eigentlich schlägst du dich ganz gut.«, lobte ich sanft. »Dafür, dass ihr nichts lernt, da oben. Außer alle Sprachen auf der Welt.«
»Ich schlage nicht!«, fiel Harry erschrocken ein. Dieses Mal war ich nicht mal überrascht.
»Du schlägst dich gut. Das heißt; du machst dich gut. Du machst das hier gut.«
»Was?«
»Die ganze Schutzengel-Menschenalibi-Sache.« Ich machte mich zu leichtfertig über ihn lustig. Dabei kämpfte er wahrscheinlich sekündlich mit dem heftigsten Kulturschock und lächerlich schlechtem Hintergrundwissen und, ehrlich, dafür legte er hier eine glänzende Performance hin.
»Ich gebe mir Mühe.«, sagte er mit Mühe um Neutralität, Souveränität, aber ich hörte die Zufriedenheit. »Danke Louis.«
»Bitte.« Unsere Arme waren sich nah. Es wäre so normal. Harrys Finger in meinen halten, er in der braunen Kleidung. Einen weiteren Funken Menschlichkeit, ein Geschenk, von mir an ihn. Mein Manchester an meiner Hand, so sollte Harry lernen. Menschliche Lektion: Nimm meine Hand, so fühlt sich Nähe an. »Außerdem muss ich eher dir danken, oder?«
»Wofür?«, fragte er überrascht. Nachfragen war eine Sache, die sie wohl doch ganz effektiv lernten. »Ich bringe dir nicht bei, wie du dich als ein Engel ausgeben kannst.«
Das wäre wohl auch ein hoffnungsloses Unterfangen. »Du beschützt mein Leben.«, erinnerte ich ihn. »Oder nicht?«
»Doch. Aber dafür musst du dich nicht bedanken, Louis!«
Ahornlaub orange und rot unter unseren Füßen, aber nur bei mir raschelten die dunklen Blätter. Harrys Blick folgte dem Geräusch. »Naja. Schon.« Ich ließ die Füße extra schleifen. »Fühlt sich jetzt nicht wie eine Kleinigkeit an. Und ist ja nicht so, als würde ich dir irgendeine vergleichbare Gegenleistung liefern.«
»Ich brauche keine Gegenleistung.«, erwiderte Harry sofort. »Ich schütze dich nicht für irgendeine Form von Transaktion.«
Es gab auch nicht viel, das ich zu bieten hätte. Nicht viel; nur diese eine, kleine Sache. »Sondern weil es dir so viel Spaß macht..?«
»Es geht nicht um Spaß.«, sagte Harry ernst.
»Sondern..?«
»Um menschliches Leben.«
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Wann war es so dunkel geworden? »Ach ja? Menschen sind ziemlich eindeutig das Schlimmste, was diesem Planeten je passiert ist.«
»Das ist der menschliche Pessimismus.«, sagte Harry und hob eine Hand, als präsentierte er etwas Wertvolles. »Ihr verwendet lieber eure Kraft auf Selbsthass als darauf, an euch zu arbeiten.«
Meine Augenbrauen gewannen ein paar weitere Millimeter an Höhe. Ich hatte nicht wirklich etwas zu erwidern. Hatte er recht? Hatte er mir recht gegeben? »Noch ein Grund mehr, euch nicht für unsere Sicherheit zu opfern.«
»Niemand opfert sich.«, widersprach Harry. Als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, war es fast zu viel. Füße im feurigen Laub, warm in warmen Farben angezogen, noch wärmere Locken und mit dem endlosen roten Backstein im Rücken war er wie ein zweiter Harry Burns, ein unfehlbarer Harry, Harry von Kopf bis Fuß, Harry vertraut und aufregend und herbstlich. Vertraut zumindest durch all das, was er in diesem Moment gerade war. Sonntagsbegleitung-, Cordjackenträger-, Rote-Nasen-Harry. Allweise, ewig verblendet, sterblich-unsterblich. Unendlich. Mit fester Stimme in Novemberdunkelheit konnte ich es glauben.
»Niemand opfert sich, aber..?«, fragte ich neugierig.
Harry schien zu warten, dann doch nicht. »Was ›aber‹?«
»Das frage ich dich!«
Immer wenn sein Blick so suchte, fühlte ich mich unauffindbar. »Das verstehe ich nicht, Louis.«
Ich hätte lächelnd den Kopf schütteln können, ich ließ es sein. »Wieso beschützt ihr uns Menschen?«, half ich ihm weiter, mit der Frage der Fragen.
»Wir sind Schutzengel.«
Die Luft wurde kälter, langsam, kälter und kälter. Harry blieb, wie er immer gewesen war. »Aber wieso?« Es war seine Frage, er musste sie verstehen.
»Wieso?« Geistiges Eigentum. Er ließ sich nicht abziehen. »So ist es. Du bist ein Mensch. Ich bin ein Engel.«
»Nein. Das meinte ich nicht. Nicht: ›Wieso bist du ein Schutzengel?‹ Sondern: ›Wieso müssen Engel überhaupt Menschen beschützen?‹ Es ist doch...habt ihr nichts Besseres zu tun?«
»Wir haben anderes zu tun. Wir tun anderes. Du bist nicht meine einzige Aufgabe.«
»Aber wieso bin ich deine Aufgabe? Wieso diese Pflicht? Wieso müsst ihr uns beschützen?« Ich war dessen schuldig, was ich ihm vorwarf. Aber vielleicht war das die Möglichkeit, ihm Arten der Pauschalisierung beizubringen. »Was bin ich wert, beschützt zu werden?«
Vielleicht war Überraschung etwas, das ich auf seinem Gesicht doch noch falsch las. Es konnte nicht die einzige Emotion sein, die er zeigte. »Denkst du nicht, dass Leben schützenswert ist?«
»Doch. Natürlich. Aber das ist zu allgemein.«
»Wieso wehrst du dich gegen Verallgemeinerungen?«
Es war eine so einfache Frage, so direkt, so berechenbar und so verallgemeinert, dass ich kurz vergaß, meinen Mund zu schließen, als mir die Antwort fehlte. Ich wehrte mich nicht gegen Verallgemeinerungen. Nur gegen diese. »Tu ich nicht. Aber Leben... Das ist kein Diskussionspunkt. Das ist, als würdest du mich fragen, ob...Meinungsfreiheit wichtig ist. Oder so. Natürlich ist Leben schützenswert.«
»Richtig.«, stimmte Harry zufrieden zu. Als würde das alles klären.
»Aber...Menschen? Was ist mit euch? Wenn Leben so schützenswert ist; wer beschützt euch?« War ›schützenswert‹ überhaupt ein richtiges Wort oder nur eine Schutzengel-Vokabel? Es machte meinen Gaumen stumpf.
»Wir sind unsterblich, Louis.«
»Oh. Ja. Guter Punkt.« Es war leicht zu vergessen. Wenn ängstliches Blut ihm bei Kälte ins Gesicht schoss und er in genau meinem Tempo neben mir herlief, waren andere Wahrheiten wahr. »Aber trotzdem. Was ist mit Tieren? Werden die von euch beschützt?«
»Nein.«
»Ha! Siehst du? Ist ihr Leben nicht schützenswert?« Vielleicht würde es meine Zunge noch verätzen. Oder ich musste einfach nur ein Wörterbuch aufschlagen.
»Doch. Natürlich ist es das.«
Ich war schneller geworden. Meine Füße, mein Kopf, mein Bedürfnis, Recht zu haben. »Wieso beschützt ihr sie dann nicht?«
»Louis, sieh mich an.«, sagte Harry in einem so eindeutigen Imperativ, dass mir gar nichts anderes übrig geblieben wäre. Harry und Aufforderungen waren ungewohnt – aufregend. »Sehe ich aus wie eine Heuschrecke?«
Er hatte die Arme zu den Seiten ausgestreckt. Wieso war das erste Tier, das ihm einfiel, eine Heuschrecke? Und wieso streckte er zur Demonstration die Arme aus? Ich hatte das Bedürfnis, ihm ein Bein zu stellen. Um zu sehen, ob es möglich war. Um die Simplizität seiner Gedanken nicht mit Richtigkeit zu belohnen. Um ihm zu beweisen, dass Menschen es nicht verdienten, als einzige Lebewesen beschützt zu werden. »Nein.«, erwiderte ich trocken und hasste seine Rhetorik jetzt schon. Es sollte nicht erlaubt sein; Logik, so einfach, dass sie nicht als Logik gelten konnte. Und wieso hatte er die Heuschrecke als idealen oder auch nur durchschnittlichen Repräsentanten des Tierreiches gewählt?
»Richtig.«, sagte er wieder. Mein Fuß vor seinen Schienbeinen. »Wir gleichen euch. Und-«
»Oder andersrum.«
Sein fragender Blick, jedes Mal wieder ein Hingucker. Wie schaffte er es, immer so auszusehen, als wäre es die erste Frage, die er sich jemals stellte? »Was?«
»Oder andersrum. Vielleicht gleichen die Menschen den Engeln. Weißt du, wie mit dem Huhn und dem Ei..? Ändert das Argument nicht wirklich.«
Skepsis wie eine Erklärung. Für Harry waren Fragen Antworten. Was für ein Verräter. Wer hatte ihm erzählt, dass wir einander glichen? »Welches Huhn?«
»Egal.«, würgte ich schnell diesen Exkurs ab. »Ich wollte nur sagen; vielleicht gleichen wir euch Engeln und nicht andersrum.«
»Wir gleichen euch, Louis.«, berichtigte er mit so viel Nachdruck, dass ich nicht mal um die Erklärung bitten wollte, die sicherlich mit ›einer langen Geschichte‹ zusammenhing. »Wir gleichen euch, wir schützen euch. Der Himmel, und wir Engel, sind geprägt auf das menschliche Bewusstsein.«
Auf. Das war jetzt wirklich falsch – seine Freiheit. Ich wollte ihn berichtigen, aber ich hatte das wässrige Gefühl, dass er seine Tonlage nicht mehr ändern würde. ›Wir sind auf euch geprägt, Louis.‹ Wenn er ›auf‹ sagte, meinte er es auch. Oder?
Engel waren also auf das warme und schwache Bewusstsein von Menschen programmiert, wie ein Dechiffrierschlüssel? Da hatten Heuschrecken keine Chance. Erschien mir trotzdem ziemlich unfair. Nur weil Menschen sich in blindem Egozentrismus geschult hatten, stand ihnen jetzt das endgültige Recht auf Leben zu. Und die Engel mussten die Exekutive spielen, als wäre es die naheliegendste Wahl, in ihrem nicht endlichen-unendlichen Leben.
»Ich glaube, ich habe das alles einfach immer noch nicht richtig verarbeitet.«, gestand ich seufzend. »Die ganze Himmel-Erden-Politik. Oder wie auch immer. Das alles hier. Dich.«
»Das ist nicht- Rot!« Brav blieb Harry gute fünf Meter vor der Ampel stehen. Wenigstens war ich nicht der einzige, der hier noch nicht alles richtig kapiert hatte. »Das ist nicht schlimm.«, sagte Harry, als würde er nicht wie ein Soldat vor der Ampel strammstehen. »Es ist nicht verwerflich, dass dein Gehirn Zeit und Details benötigt, um unerwartete Schlüsse zu ziehen. Du hast hoffentlich noch etwa sechs Jahrzehnte übrig.« Wie wunderbar optimistisch. »Nur bitte versuch psychische Panik zu vermeiden.«, fuhr er fort. »Falls du das Gefühl bekommen solltest, dass das Wissen über zölestische Existenzen dir starke mentale Unruhe bereitet, lass es mich bitte wissen.«
Er war ein sehr gutgläubiger Therapeut. Wenn es dir schlecht geht, sag einfach Bescheid. Klar. Gerne. Kein Problem. Gott, Schutzengel und der Himmel; was hatte ich auch anderes erwartet?
»Nur hypothetisch«, setzte ich an und versuchte, Harry möglichst schnell mit meinem Blick über die jetzt grüne Ampel zu ziehen – zum Glück die letzte für heute. Portland-Street-Kreuzung. Fast zuhause. »Hypothetischerweise; wenn ich dich kontaktieren wollen würde, während du im Himmel bist...würde das gehen? Wäre es möglich? Und wenn ja; wie?« Falls ich wirklich mal das Bedürfnis hatte, ihm akut von meiner mentalen Unruhe zu berichten.
»Es gibt keinen offiziellen Weg.«, Harry warf der Ampel noch einen Schulterblick zu. Schulterblicke waren seine Bewegung des Tages. »Ein aktiver Kontakt zum Himmel wäre dir nicht erlaubt.«
»Weil ich ein Mensch bin..?«
»Weil du ein Mensch bist.« Eins von Harrys Übungsblinzeln, ein bisschen asymmetrisch. »Aber durch die Verbindung zu mir ist es dir theoretisch trotzdem möglich, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.« Er hob eine Hand an und ließ sie über seine Brust tanzen. Sein Herz. Unsere Herzen. Das mit der ominösen Verbindung zwischen uns hatte er immer noch nicht genauer erläutert. Aber ich wusste, was er vorhin gesagt hatte.
»Wenn ich mir die Pulsadern aufschlitze.«, tippte ich nüchtern.
Harry stieg hundertprozentig ein paar Zentimeter in die Höhe. Um unser beider Willen sah ich nicht auf seine Füße hinab. »Ja.«, hauchte er schockiert – und dafür, dass er so gerne die gesamte Menschheit verallgemeinerte, schien er definitiv zu überrascht für eine so voraussehbare Bemerkung. »Aber das darfst du bitte niemals tun, Louis, besonders nicht, um nur meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
»Na gut. Das wäre vielleicht ein bisschen drastisch.«, gab ich zu. Was hatte er noch erwähnt? Die anderen Vitalzeichen. »Ich könnte auch die Luft anhalten, bis...naja. Bis du es bemerkst.« Bis ich in Ohnmacht fiel? Oder starb man an Atemnot direkt?
»Das ist unmöglich.«, widersprach er schnell und hoch. Er hatte sich definitiv noch nicht vom letzten hypothetischen Szenario erholt. ›Unmöglich‹; übrigens auch eines von Harrys Lieblingswörtern. »Dein Gehirn lässt dich nicht lange genug die Luftzufuhr stoppen, dass es dir schaden könnte.«
»Wie dann?«
»Du musst nicht direkt dein Leben in so akute Gefahr bringen.« Er sah zu mir herüber mit einem Mit-›musst-nicht‹-meine-ich-›darfst-nicht‹-Blick. »Idealerweise sollte ich auch andere größere Verletzungen verhindern können. Knochenbrüche, zum Beispiel, peripher.«
»Also muss ich nur meinen Fuß von einem Auto überfahren lassen. Falls ich mal dringend Redebedarf aufgrund starker mentaler Unruhe habe.« Bevor ich das ganze Universum in einem Atompilz aufgingen ließ. Was erwartete Harry, das ich tun würde, bei ein bisschen Beunruhigung? Wieso stand ich unter so konsequenter Bewachung? Ich war mir wirklich sehr, sehr sicher, dass ich nicht aus Versehen die Apocalypse auslösen würde.
»Du solltest vermeiden, eine ernsthafte Verletzung zu riskieren.«
»Das hört sich alles noch nicht besonders gut durchdacht an.«, gab ich zu Bedenken. »Vielleicht sollte es einen direkten Kommunikationsweg zwischen Himmel und Erde geben.«
»Die Zeiten sind vorbei, Louis.«
Ich blinzelte überrascht. Fast hätte ich die Biegung in die Bloom Street verpasst. Ich gab Harry einen sanften Schulterstupser, um unseren Kurs zu korrigieren. »Es gab einen Weg?«
»Vor langer Zeit.«, bestätigte Harry.
»Wie? Und wieso jetzt nicht mehr?«
Harrys Blick hatte das richtige Haus schon gefunden – was in Anbetracht des roten Backsteinmeeres und meinen ersten Wochen nach dem Umzug sehr beeindruckend war. Nur nach den Fenstern meiner Wohnung an der Hausfassade schien er in all der Symmetrie suchen zu müssen.
»Das ist eine lange Geschichte.«
Meine Augen verdrehten sich ganz von alleine. »Geht es immer um dieselbe lange Geschichte oder gibt es so viele?« Und wichtiger; würde ich sie noch zu hören bekommen? Ich wollte nichts verschreien.
»Das ist schwierig zu sagen. Die Erde ist ein alter Planet. Theoretisch ist alles dieselbe lange Geschichte.«
»Wie lange dauert es, sie zu erzählen?«
»Alles? Länger als deine Lebenszeit. Länger als meine bisherige Lebenszeit.«
»Wenn ich nicht alles in Originalgeschwindigkeit hören würde? Die wichtigen Teile?«
»Das weiß ich nicht.« Das Licht einer Laterne bildete einen Kegel um Harry, Nase und Kinn Quellen schwarzer Hoffnung. »Wenn du möchtest, können wir versuchen, das herauszufinden.«
Sein kleines Lächeln stieg mir schneller zu Kopf, als Harry vom Lichtkegel verraten wurde. »Ich möchte sehr gerne.«, versicherte ich schnell. »Nur nicht jetzt. Nicht heute. Meine Lernpause ist vorbei.« Meine Finger suchten routiniert die Kühle des Schlüssels in der Brusttasche meiner Jacke. Ich fand sie direkt.
»Das ist in Ordnung. Du solltest deine irdischen Handlungen priorisieren. Dafür schütze ich dich.«
»Damit ich in Ruhe Chaucer lesen kann?«
»Wenn das dein Plan ist.«
»Leider.«
»Was ist Chaucer?«
Er war ein Engel, und was für einer. »Wer.«, berichtigte ich. »Ein Schriftsteller. Er ist wahrscheinlich am verantwortlichsten dafür, dass ich heute Englische Literatur studieren kann.«
»Das ist sehr nett von ihm.«, erkannte Harry begeistert, der Idiot. »Darf ich ihn kennenlernen?«
Harry war wie eine der Katzen, die man nicht rauslassen durfte, weil sie sonst mit jeder nächstbesten Person mitlaufen würden. Nur die Illusion eines Namens und er war bereit, ein Kontaktformular auszufüllen. Vielleicht sollten wir die ganze Wer-schützt-wen-Sache nochmal überarbeiten lassen. Ich könnte ihm wahrscheinlich vom Weihnachtsmann erzählen und Harry würde betteln, ihn kennenlernen zu dürfen.
Obwohl: Oder der Weihnachtsmann fiel jetzt in die Kategorie an Wesen, die doch existierten.
»Geht nicht. Er ist lange, lange, lange tot.« Noch während ich es sagte, kam mir das zweite Obwohl. Vielleicht war das keine Hürde für Harry; der Tod. Darüber wüsste ich mehr, wenn er sich nicht weigern würde, mir auch nur ein bisschen darüber zu erzählen, was nach dem Tod kommen würde. Wozu der Himmel wirklich gut war.
Und es entstand direkt der nächste Einwand; die Chancen, dass ausgerechnet Geoffrey Chaucer sich für den Himmel qualifiziert hatte, falls das möglich war, standen wohl auch nicht besonders gut.
Ich schloss mit aufwühlenden Fingern die Haustür auf. »Möchtest du noch mit hochkommen?«, fragte ich, ohne eine Version der Antwort auf meiner Zunge zu verstecken. »Ich muss weitermachen. Also habe ich keine Zeit zum Quatschen und du darfst mich nicht ablenken.«
Harry nickte und es sah immer selbstverständlicher aus – auch wenn ich nicht genau wusste, für wen die Performance war. »Ich würde gerne mitkommen. Ich lenke dich nicht ab.«
Ablenkung war ein zu passiver Akt, als dass ich ihm das einfach so glauben könnte, aber ich freute mich trotzdem. »Na dann komm rein.« Mit meinem halben Körpergewicht und der linken Schulter drückte ich die Tür auf, wir traten beide ein. Mittlerweile war es fast nicht mehr schockierend; Harry in meinem Hausflur. Als die Tür zufiel und wir kurz in kompletter Dunkelheit standen, kochte das Potential all der Schatten dieser Welt in mir auf. Ich sah Harry nicht mehr, ich hörte ihn nicht, ich spürte ihn nicht. Ich grinste in den Schein der Lampe, als sie ansprang. »Menschenlektion, Harry.«, begann ich und nahm die Stufen schon doppelt. »Wer als Letzter oben ist, hat verloren!«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro