𝐗𝐋𝐈𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Erst Samstag, dann Sonntag und jetzt Dienstag. Drei Albträume in vier Nächten. Es war gut, dass ich heute einen späten Start hatte, denn auch wenn ich nach dem Traum der Nacht wieder in einen zittrigen Schlaf gefallen war, fühlte ich mich morgens wie der ekligste Mensch der Welt. Getrockneter Angstschweiß klebte zwischen meiner Haut und der Bettdecke und ich hätte mich am liebsten übergeben.
Drei Albträume in vier Tagen. Das war, ganz ohne Übertreibung, eine schreckliche Bilanz. Eine Bilanz, wie sie vielleicht nicht vorgekommen war, solange ich zurückdenken konnte.
Als ich mich aus dem in den letzten Tagen zu häufig frisch bezogenen Bett schälte und ohne Kleidung direkt ins Bad taumelte, wollte ich nur mit einer einzigen Person reden, in ihren Armen liegen. Aber meine Mum war die letzte, der ich diese Sorgen jetzt auferlegen durfte.
Das Wasser brauchte zu lange, um warm zu werden. Mit jedem steigenden Grad wurde meine Gänsehaut weiter. Ich starrte auf die erschütterten Haare meines Unterarms hinab, wissend, was mein schlafendes Bewusstsein mit diesem Arm getan hatte. Endlich konnte ich mich unter den lauwarmen Strahl stellen.
Ich hatte lange gebraucht, um gestern einzuschlafen, aber eigentlich war es ein Wunder, dass ich überhaupt eingeschlafen war. Nicht, dass der Schlaf erholsam gewesen wäre. Nasse Strähnen fielen mir in die Stirn, klebten wie vorhin noch durch Schweiß. Ich strich sie glatt nach hinten und griff nach meinem Shampoo. Wie sollte ich heute in die Uni gehen? Wie sollte ich dort sitzen, mir etwas über Dramen und Modernismus anhören und so tun, als wäre alles, wie es gestern noch gewesen war?
Ich war so alleine aufgewacht, wie Harry mich gestern gelassen hatte. Mein Puls hatte sich inzwischen beruhigt, ich konnte das Kribbeln meiner Muskeln nicht mehr wiedererwecken, ausgehend von Harrys Händen, keiner von uns den Boden berührend. Aber alles andere war da. In meinem Kopf, vor meinen Augen.
Shampootränen liefen über meine Wangen. Schutzengel. Ich hatte einen Schutzengel. Harry war mein Schutzengel. Wozu hatte ich einen Schutzengel, wenn er mich nicht von dem qualvollen Brennen von Shampoo in den Augen schützte?
»Harry«, sagte ich leise, gegen das Wasser. »Shampoo!«
Wozu hatte ich einen Schutzengel, wenn er mich verließ?
»Har-ry«, sagte ich lauter, zog die Silben lang. Vielleicht war er ja hier. Vielleicht hatte er mit den Fingern geschnipst, war unsichtbar geworden und lachte amüsiert auf der Waschmaschine, während er mich beim Duschen beobachtete. Vielleicht waren noch ein paar andere Engel im Raum. Gott. Vielleicht war Gott hier und lachte über Tränen, die nichts als chemisch sein durften.
Ich glaubte definitiv nicht an Gott.
Engel?
Ja. Wahrscheinlich. Hatte ich eine andere Wahl? Es war enttäuschend, dass sie weder Heiligenschein noch Flügel hatten; was machte sie dann noch zu Engeln? Aber womöglich war genau das der Irrtum. Engel hatten keine Flügel, keinen goldenen Kreis aus Licht über ihrem Kopf. Engel logen und logen, tanzten auf deiner Naivität, bis ihnen zu schwindelig wurde, um sich noch an ihre eigenen Regeln zu halten. Sie plapperten Wahrheiten aus und als Strafe für ihre Fehler wurdest du bestraft. Auf Nimmerwiedersehen.
Ich vermisste Harry. Es war wahrscheinlich pathetisch und Teil einer Lüge an mich selbst, aber es war auch wahr. Ich war verwirrt genug, um unsinnigere Dinge als das zu empfinden. Ja, in mir schlummerte immer noch eine Menge Unglauben, der sich wie dicker Nebel mit meinen Erinnerungen vermischte; Harry, wie er ›Der Himmel‹ und ›Gott‹ und ›Wenn ich will, dann suche ich nach dir‹ sagte. Wie er meine Handflächen mit seinen stützte und die Schwerkraft abschaltete. Wie er verschwunden war wie der Lichtkegel eines Bühnenscheinwerfers. Es schien keine andere plausible Erklärung für diese Dinge zu geben als genau die Worte, die Harry gestern benutzt hatte. Und neben Skepsis und der Selbsterhaltungsstrrategie, all diese Theorien von mir zu schieben, blieb mir vor allem ein Gefühl. Neugier.
Ich wollte mehr wissen. Ich wollte wirklich glauben können. Ich wollte die ganze Wahrheit. Ich wollte wieder schweben. Ich wollte Harry wiedersehen.
Aber nicht nur aus Neugier. Ich vermisste ihn wirklich. Nicht als meinen Schutzengel – nicht nur. So sehr er mich in den letzten Wochen auch irritiert, frustriert und mir Sorgen bereitet hatte; seine Eigenheiten waren mir ans Herz gewachsen. Und jetzt, wo es eine Erklärung für all diese Eigenheiten gab, verzehrte ich mich nach ihnen. Vielleicht fast so sehr wie vor einigen Wochen, als ich verzweifelt genug gewesen war, Danny für Harry zu kontaktieren. Vielleicht mehr.
Aber das war noch lange nicht alles. Wut war ein großes Wort und ein größeres Gefühl, aber ich war wütend auf Harry. Und trotzdem vermisste ich ihn. Oder vielleicht war es möglich, dass ich ihn gerade deswegen noch mehr vermisste. Oder andersherum. Beides gleichzeitig auf jeden Fall. Wie konnte er sich denken, es sei okay, so mit meinen Gefühlen und Realitätsvorstellungen zu spielen, mit mir in seinen Händen die Naturgesetze zu brechen, nur um sich dann zu verabschieden – eventuell für immer? Er tischte mir die groteskesten Geschichten auf, von Engeln und Gott und dem Himmel, zog die untersten Karten des Kartenhauses meines Weltbildes heraus, und dann floh er, aber ich durfte mich nicht aufregen, damit mein Herz nicht zu schnell schlug? Was war das für eine Strategie? Wie hatte er es für klug halten können, einen Haufen schwerer Schlagwörter fallen zu lassen, nur um kein einziges von ihnen wirklich zu erklären? Hatte ich nur den Eindruck gehabt, dass er all meine eigentlichen Fragen unbeantwortet gelassen, ab- und umgelenkt hatte? Oder fühlte ich mich grundlos leer?
Ich drehte das Wasser ab und die Kälte schlich sich durch den Wasserdampf wie eine ungebetene Erinnerung. Mein Handtuch blieb nicht lange trocken, als ich mir damit erst durchs Gesicht, dann durch die Haare fuhr. Ich wollte Harry den Hals umdrehen. Ich wollte mir den Hals umdrehen – und womöglich war das gar keine so schlechte Idee. Würde Harry mir zur Hilfe kommen? Oder wäre es ein erträglicher Verlust, der wenigstens ein paar seiner Probleme lösen würde? Menschen konnten nicht die größte Priorität von Engeln sein – wieso ließen sie sonst so viele erbärmlich sterben?
Ich war mir ziemlich sicher, dass das eine der Fragen war, die Harry zielsicher umgangen hatte. All das Leid und die Ungerechtigkeit auf dieser Welt ließen sich nicht mit ›Menschen müssen sterben‹ erklären. Das wusste ich und das wusste er auch. Sonst hätte er mehr gesagt.
Mit dem Handtuch um die Hüfte tapste ich zurück durch den Flur. Ich hatte die Badtür nicht abgeschlossen und das Handtuch saß lose. Wahrscheinlich war es eine Provokation an den leeren Raum. Vielleicht wollte ich lieber, dass Harry mich beim Duschen und Umziehen beobachtete, als dass er wirklich ganz verschwunden war. Ein Drehschloss an der Badtür würde ihn wahrscheinlich sowieso nicht aufhalten können. Und was wusste ich schon? Vielleicht hatten Engel ja einen Röntgenblick? Vielleicht hatte er mich immer nackt gesehen. Was brachte einem Schutzengel meine Kleidung?
Ich zog mich an und beschloss, diese ganze Harry-Sache erstmal aus meinem Verstand zu verbannen. Es brachte mich nicht weiter, außer, dass ich vermutlich irgendwann verrückt werden würde. Denn das war immer noch die letzte Möglichkeit. Ich hatte mir Harry die ganze Zeit nur eingebildet. Nicht wirklich, aber vielleicht war es der beste Trost. Harry, der besser aussah als meine perfektesten Träume und so wechselhaft war wie meine Gemütszustände, entpuppte sich als ein himmlisches Wesen, mein himmlisches Wesen. Er machte ein paar Zaubertricks, für die es keine Zeugen gab. Wie praktisch. Und dann verschwand er. Gute Eskapade meiner Vorstellungskraft und nicht mehr als das.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Aber wenn ich für jeden Störfall in meinem Leben meinen eigenen mentalen Zustand beschuldigen könnte, hätte ich es längst getan.
Ich frühstückte in größerer Eile als nötig und schaffte es ganz und gar nicht, Harry auszusperren. Wieso stand er nicht im Türrahmen und fragte mit großen Augen und knitterfreiem Kleid, was ich da aß? Natürlich hatte sein Kleid nie die winzigste Falte gehabt; er hatte nie hier geschlafen. Wahrscheinlich konnte es auch gar nicht knittern. Zauberstoff. Und war das der Grund, wieso Harry nie in meiner Gegenwart gegessen oder getrunken hatte? Aßen Engel nicht? Doch, aber bestimmt hatten sie ein unendliches Buffet himmlischer Speisen, das Harry nur den Mund auffallen ließ, wenn er meinen Porridge sah. Was war er gewohnt? Nektar und Ambrosia?
Ich war zufrieden mit Porridge und Tee. Ich war zufrieden mit einem Leben, das ich vor Harry gelebt hatte. Wer war er auch, einfach so in mein Leben zu platzen, alles auf den Kopf zu stellen und dann zu verschwinden? Erwartete er, dass ich in tausend Splitter der Verzweiflung zerfiel? Die Genugtuung würde er nicht bekommen.
Aber, oh, wie sehr ich ihn vermisste.
Mehr als alles andere verbannte ich die Gedanken an die Erkenntnis, die ich schon gestern während des Gespräches mit Harry gehabt hatte – was mich und ihn und das nicht existente ›Er und Ich‹ und die Anziehung, die ich zu ihm spürte, anging. Dass ich es verbannte, bedeutete natürlich, dass ich es nicht aus dem Kopf bekam. Ich verbalisierte das Chaos an Emotionen nur nicht als Gedanken. Start; jetzt.
Ja, ich war wütend. Oder die wärmere Version von Wut, gemischt mit Verzweiflung und Verrat. Es war lächerlich. Ich hatte schöne Menschen gekannt in meinem Leben, vor Harry. Aussehen wurde von Emotionen und Erfahrungen überschrieben, das wusste ich. Ich lebte kein ausschließlich oberflächliches Leben, versprochen. Aber es war einfach unfair, ein Gesicht wie ein Kunstwerk zu haben und dann auch noch ein Engel mit charmanten Zauberkräften zu sein. Es gab sicher universelle Regeln, welchen Reizen Menschen nicht widerstehen konnten und diese gehörten definitiv dazu. Es war nicht meine Schuld. Sobald man Harry einmal gegenübersaß, diesen Knochen und Lippen und Augen, und er dich auch nur einen Zentimeter hoch schweben ließ, war Kontrolle nicht mehr als eine Illusion. Was für ein Sadist.
Als Schutzengel hätte er vor langer Zeit realisieren sollen, dass ich am dringendsten Schutz vor ihm selbst benötigte.
Rebellion gegen meinen ungehorsamen Verstand und ich holte ein Buch. Porridge und zerstückelte Sätze nährten mich spärlich. Aber vor Harry zu kapitulieren, war keine Option. Ich aß und las. Ein Absatz unterstrichen von meinem eigenen Graphit, es musste wichtig sein, ich las wieder und wieder und als es endlich in meinem Kopf ankam, hatte ich Schwierigkeiten mit der Einordnung. Frustriert blätterte ich die zwei Seiten zurück, die ich eigentlich gerade gelesen hatte – aber nicht wirklich.
Auch als ich aufgegessen hatte, war ich nicht bereit, aufzugeben. Ich spülte mein Geschirr ab, von heute und gestern, ging Zähne putzen. Immer wieder eine neue Herausforderung, die Buchseiten nicht mit schwerem Zahnpastaschaum zu bekleckern, aber heute ein willkommener Grund zu erzwungener Konzentration.
Trotzdem ein zu kurzer Zeitvertreib. Ich versenkte das Buch in meinem Rucksack, stopfte mir Kopfhörer in die Ohren und machte Musik an. Laut. Ich packte den Rest meiner Unisachen und alles, was ich heute Nachmittag brauchen würde. Direkt nach Modernismus würde ich in den Bus nach Leeds steigen müssen. Müssen. Nicht, dass es eine Pflicht war, meine Mum zu besuchen.
Es war eine Pflicht. Aber eine Pflicht, die ich mir selbst auferlegt hatte und freiwillig auch nicht aufgeben würde. Aber heute fühlte es sich mehr wie ein Zwang an. Wie sollte ich meiner Mum in die Augen sehen und ihr nicht sagen, was es war, das gerade mein Leben verdrehte wie einen Kreisel? Ihr, die seit Tag 1 gelernt hatte, meine Emotionen zu lesen? Das Harry-Chaos vor ihr zu verschweigen, war schwer genug gewesen, als er ein kompliziertes Leben geführt hatte und auf meinen Schutz angewiesen gewesen war. Jetzt hatte er sich als Schutzengel entpuppt. Gar nicht gut.
Denn das hier war ein ebenso großes Geheimnis wie das Vorherige, richtig? Richtig?! Ich durfte nicht weitererzählen, was gestern zwischen den Wänden meiner Wohnung oder denen meines Schädels passiert war. Oder?
Harry hatte nichts explizit verboten. Dürfte ich nachher im SAB einfach auf Zayn zuspazieren, und ihm berichten, dass es sehr wahrscheinlich einen Engel gab, der sich beamen konnte und wusste, wie dick sein Blut war?
Es war eine Frage, deren Antwort ich kannte. Ich kannte sie tief in mir, so plump und eindeutig, dass sie fast mehr Beweis als alles andere war. Natürlich durfte ich nichts sagen. Natürlich war das Geheimnis nicht nur geheim, sondern auch noch gewachsen. Beträchtlich. Vielleicht würde der vermeintlich existente Gott mich in einer Rauchwolke aufgehen lassen, wenn meine Lippen nicht versiegelt blieben. Ich mochte die Konsequenz für diese Handlung nicht kennen, aber ich wusste, dass es nicht erlaubt war. Ich wusste es.
Und mittlerweile wünschte ich fast, ich hätte nie von der ganzen Sache erfahren. Wie schnell sich die Umstände ändern konnten. Wie sehr ich auf Harrys Vertrauen und die Wahrheit aus seinem Mund gehofft hatte. Und jetzt? Abgesehen von dem Fakt, dass seine kleinen – großen! – Zaubertricks Harry noch surreal-attraktiver gemacht hatten; was hatte ich von seinem Geständnis? Wut und Verwirrung und Frustration. Vielen Dank dafür.
Ich schleuderte den Rucksack neben die Wohnungstür und schlüpfte in meine Schuhe. Dann meine Jacke. Als ich das Licht ausschaltete, machte es keinen Unterschied in der Helligkeit. Ich zog die Tür hinter mir zu und schloss sie doppelt ab. Ohne Uhrzeit für Harrys Rückkehr. Ohne Hoffnung auf Harrys Rückkehr.
Falsch. Ich versuchte, es im Zaum zu halten, aber etwas in mir zerriss sich bei der Vorstellung: Harry, heute Abend, als wäre nichts passiert, ein weißer Mondgeist, geduldiger Wächter des Treppenhauses. Bitte. Hoffnung starb zuletzt. Denn die Hoffnung starb einen langsamen Tod, qualvoll. Bitte. Bitte, bitte, bitte.
✩
Einführung in frühe, klassische und kontemporäre Dramen war genau, wonach es klang. Ein Kurs, der selbst nicht wusste, was er war oder sein wollte. Fast jedes Mal dozierte eine andere Persönlichkeit der weiten Fakultät für Humanwissenschaften, beleuchtete Dramen aus literarischen, praktischen oder soziopolitischen Perspektiven und fast immer mit einem Scheinwerfer blendender Selbstdarstellung. Es war ein Witz. Es gab keine Regeln. Es konnte von Mal zu Mal schwanken wie die Überbleibsel einer Freitagsabendparty um halb sechs morgens, aber meistens war es sogar ganz interessant. Weil man nie wusste, was es zu erwarten gab, wurde man regelmäßig überrascht – was im Studium uralter Weltliteratur nicht allzu häufig passierte. Es war ein pädagogisch katastrophaler, meistens wunderbarer Kurs. Und heute hatte ich ihm meine ansatzweise Rehabilitation eines bedenklich von einem himmlischen Wesen verdrehten Verstandes zu verdanken. Ich schaffte es, mich ein bisschen ablenken zu lassen.
Wir machten drei Minuten früher Schluss und ich packte meine Sachen nur langsam zusammen, ließ mir von meinem Sitznachbarn etwas über die St.Andrew's-Day-Festivitäten erzählen, die er mitorganisierte. Lieber eine andere Stimme in meinen Ohren als die in meinem Kopf.
»-geschafft, die Academy zu buchen. Eigentlich würden wir sie gerne mit blauen Scheinwerfern bestrahlen, von außen, aber das sieht echt nicht gut aus mit der Genehmigung. Aber du musst kommen, Louis. 6£ Eintritt und dafür den ganzen Abend offenes Buffet, und, glaub mir, ich bin im Essenskomitee und es wird gut. Das war das Schwierigste von allem; aus meinem Boba die Geheimzutaten für die Familien-Neeps-und-Tatties rauszuquetschen. Aber es hat sich gelohnt. Nur 200 Tickets, Louis, also halt dich ran! Und«, Angus umschloss meinen Oberarm mit seinen Fingern und zwang mich, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, »es gibt einen empfohlenen Dresscode, der dir gefallen wird!« Er zwinkerte mit einem Auge, drückte meinen Arm und lachte bauchig. Ich schüttelte seine Hand ab.
»Hm«, brummte ich und schulterte meinen Rucksack.
»Meine Familie und die Hälfte vom Orgateam würde mich umbringen für die Anmerkung, immerhin sind Kilts keine Röcke, aber vielleicht können wir da für dich und deine Vorlieben eine kleine Ausnahme machen, Louis. Ha! Macht für dich wahrscheinlich auch keinen Unterschied, oder? Solange es keine Naht zwischen den Beinen gibt, ist alles rosig!«
Ich wünschte mir eine Naht zwischen seinen Lippen. Mit großer Mühe schaffte ich ein bitteres Lächeln. »Ja. Nichts Lebendiges, das ein Kleid trägt, ist vor meinen sexuellen Trieben sicher.«, sagte ich mit dreckigem Sarkasmus und bereute es, mich auf seine Eigenwerbung eingelassen zu haben.
Angus schien nicht zu kapieren, dass ich an diesem Gespräch keine Freude hatte. Er lachte wieder, schärfer. »Eine Legende, Louis! Alles Lebendige, ja! Wenn du dich bewirbst, bin ich sicher, du könntest eine Stelle bei den Sicherheitskontrollen bekommen.« Er strich sich anzüglich einen imaginären Rocksaum am Oberschenkel hoch. »Ich lege ein gutes Wort für dich ein, versprochen. Könnte eine viel beschäftigte Nacht für dich werden.«
Ich drückte mich vor ihm durch die Tür und dankte der Vergangenheitsversion meines Gesprächspartners, dass er sich nicht in Modernismus eingewählt hatte. »Tschüss Angus.«, verkündete ich knapp und schnitt die Kurve in den Gang so scharf, dass er kapieren musste, dass ich ihn abschütteln wollte, selbst wenn er in die gleiche Richtung musste. Sicherheitshalber legte ich trotzdem meinen schnellsten Schritt auf und flog förmlich durch den halbwegs leeren Flur.
Wenigstens hatte dieses fruchtbare Gespräch mir eine klare Antwort auf eine bisher offene Frage geliefert: Keine St.-Andrews-Day-Feierlichkeiten für mich in diesem Jahr.
Das Treppenhaus trug mich bis ganz oben. Der Seminarraum war schon offen, aber noch leer. Ich schob mich zwischen die Reihen. Noch bevor ich saß, zierte eine Gänsehaut beide meiner Arme. Es war kalt. Ich reservierte mir den Platz mit meinem Rucksack, behielt die Jacke an und kämpfte mich zwischen ein paar Stühlen hinweg zu den alten Heizkörpern. Sie waren aufgedreht und ich drehte sie höher. Es war über Nacht kalt draußen geworden, eisig kalt. Obwohl ich heute Morgen nicht allzu früh das Haus verlassen hatte, waren die Straßen von Reif bedeckt gewesen. Mein Fahrrad hatte mit jeder Kurve gekämpft und meine Fingerkuppen hätte ich bei meiner Ankunft am SAB abbrechen können, so gefroren waren sie gewesen. Ich hatte nichts von dem Temperaturabfall gewusst, Wintereinbruch über Nacht. Und dementsprechend ungeeignet war ich angezogen.
Ich setzte mich auf eines der Fensterbretter direkt über der Heizung und zog mein Handy hervor. Mit dem wackeligen Uni-WLAN suchte ich nach Informationen über das Spiel dieses Wochenende gegen Cardiff. Man U hatte die letzten drei Spiele in Folge gewonnen und mit Cardiff City sollte sich diese Serie wohl auch fortsetzen. Bis auf die besonders schmerzhafte Niederlage gegen Manchester City im September sah es ganz gut aus bisher.
Mein Handy vibrierte, bevor ich die Nachricht sah. Das 𝗧. schnitt in den hellen Hintergrund und am liebsten hätte ich mein Handy ans andere Ende des Raums geworfen. Die Worte waren kurz, die Bitte sauer.
𝗥𝘂𝗳 𝗺𝗶𝗰𝗵 𝗮𝗻, 𝘄𝗲𝗻𝗻 𝗱𝘂 𝗭𝗲𝗶𝘁 𝗵𝗮𝘀𝘁, 𝗟𝗼𝘂𝗶𝘀. 𝗡𝗶𝗰𝗵𝘁 𝘃𝗼𝗿 𝟭𝟳 𝗨𝗵𝗿.
»Hey Lou.«
Ich hob den Kopf und Zayn war wirklich der einzige, der mich in dieser Sekunde wenigstens ein bisschen aufmuntern konnte. »Hey.«, grüßte ich und klang trüber, als ich wollte.
»Kalt?«, fragte er und streifte seine Winterjacke neben dem Stuhl mit meinem Rucksack ab. »Glaubst du, es schneit?«
»Wenn es Schnee gibt, geht diese Stadt den Bach runter. Ich wäre vorhin schon dreimal fast in einen sicheren Verkehrstod geschlittert.« Und hatte mein vermeintlicher Schutzengel mir geholfen? Nein.
»Ist auch zu früh, denke ich. Mitte November? Wir sind immer noch in Manchester.« Er rutschte neben mir aufs Fensterbrett und stupste mein Bein mit seinem Fuß an. »Du siehst müde aus.«
»Dankeschön.«, erwiderte ich trocken, obwohl ich wusste, dass es stimmte. Ich versenkte mein Handy in einer meiner Jackentaschen. Es gab genug, das ich Zayn verschweigen musste; es war Zeit für ein bisschen Wahrheit. »Ich hatte noch einen Albtraum.«
Sofort sprang sein Blick zu mir. Ich fasste die gegenüberliegende Wand ins Auge, die vergilbte Tapete. Zayns Augen hätten Löcher in meine Wange brennen können. »Ich wusste nicht, dass es wieder schlimmer geworden ist.«
Meine Kiefermuskeln spannten sich von ganz alleine an. »Ich auch nicht.«
»Das tut mir so leid, Lou.« Seine Fingerspitzen streiften tröstend meinen Oberschenkel und wurden wieder zurückgezogen. »Es ist echt unfair.«
Es war unfair. Aber es gab größere Ungerechtigkeiten auf dieser Welt. Ich zuckte nur mit den Schultern.
Er sah mich noch immer an. Ich hörte seine Gedanken förmlich in seinem vorsichtig suchenden Blick. »Denkst du, es könnte etwas zu tun haben mit...allem? Dem Stress und der Angst?«
Ich wollte das Gesprächsthema doch zurückziehen. Zayn war zu fürsorglich für meine Verdrängungstaktiken. »Apropos Stimmungskiller«, sagte ich, anstatt seine Frage zu beantworten. Sofort spürte ich die Anspannung in seinem Oberarm neben meinem. Er kannte meine Strategien so gut wie ich. Vielleicht besser. »Mein werter Herr Vater verlangt ein Telefonat.«
Zayns Augenbrauen schossen in die Höhe und ich traute mich wieder, ihn anzusehen. »Wieso?«
Ich zog mein Handy wieder hervor, entsperrte es und zeigte Zayn die Nachricht. »Keine Ahnung.«
»Hat Jay auch von ihm gehört?« Sein Blick klebte an den zwei Sätzen, als könnten sie einen geheimen Code freigeben.
»Keine Ahnung.«, sagte ich wieder. »Das hab ich vor zwei Minuten bekommen. Ich hoffe, er lässt Mum außen vor. Was auch immer es ist.«
»Was sagt dein Bauchgefühl?«, fragte er, und wollte die Nachricht noch immer nicht loslassen.
Ich zuckte wieder mit den Schultern. »Nichts Gutes. Ich weiß nicht. Geld? Bitte, bitte nichts mit Mum.«
»›Nicht vor 17 Uhr.‹«, zitierte Zayn. »Arschloch.«
Ich lachte bitter, weil es die letzte logische Handlung war. »Vielleicht will er mich ja besuchen. Zum ersten Mal, seit ich hier wohne.«
»Rufst du ihn an?«, fragte Zayn und ließ endlich vom Handydisplay ab. Er schwang seine Beine sanft vor und zurück. Der Heizkörper unter meinen Waden wurde langsam warm.
»Ich weiß es nicht. Nicht heute.«
»Nicht, wenn er nicht mal ein ›Bitte‹ auf die Reihe bekommt.«, stimmte Zayn zu.
»Oder ein ›Hallo‹.«
»Wann hat er das letzte Mal geschrieben?«
»Nicht mehr, seit wir uns im Sommer gesehen haben. Recess. Großzügig.« Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke.
Zayn drehte kurz den Kopf zur Tür, als drei Kommilitonen aus dem Flur hereinkamen. Wir nickten eine knappe Begrüßung. »Er hätte definitiv keinen Anruf verdient. Und, das passt jetzt nicht wirklich, aber ich soll dich von Mum grüßen. Sie möchte, dass du zu Besuch kommst, vor Weihnachten.«
»Nur ich oder will sie ihren eigenen Sohn auch sehen?«, fragte ich grinsend. »Liebe Grüße zurück.«
»Ich glaube, es könnte ihr nicht egaler sein, ob ich dabei bin. Mich muss sie oft genug sehen.«, erklärte Zayn, aber es war ein Scherz, das wussten wir beide. Trisha mochte nicht wie meine Mum jedes Mal in Tränen ausbrechen, wenn sie Zayn sah, aber sie gab ihn definitiv widerwillig wieder auf.
»Ich weiß nicht, wie ernst sie das meint, aber ich kann nicht sagen, ob das vor Weihnachten noch was wird. Fährst du nochmal nach Donny?«
Allmählich strömten noch mehr Leute in den Raum und suchten sich Plätze, aber Prof. Calprain war noch nicht hier und so blieben wir entspannt sitzen. »Mal schauen. Ich würde eigentlich gerne. Mum war definitiv nicht begeistert, dass ich an ihrem Geburtstag nicht da war. Aber es würde stressig werden. Ich weiß es noch nicht.«
Jetzt war ich es, der seine Wange studierte. »Was ist mit Niall?«
Zayn hob den Blick von den Spitzen unserer Schuhe. »Was soll mit ihm sein?«
»Willst du ihn mitnehmen? Der Familie vorstellen? Wenn Niall mitkommt, dann komme ich auch! Ein bisschen Spaß zu dritt. Das will ich nicht verpassen.«
Empörung verzog seine makellose Haut. »Bist du irre, Louis?«
»Hey, ich würde euch natürlich auch ein bisschen Zweisamkeit lassen, versprochen.«, beschwichtigte ich. »Für Niall wäre es wirklich besser, wenn ich auch mit bin. Nicht die ganze Aufmerksamkeit der zukünftigen Schwiegereltern auf ihm.«
»Nein, ich meine-« Zayn hob die Hände als Erklärhilfe, dann sah er sie an und ließ sie wieder fallen. »Ich nehme Niall nicht mit nach Doncaster!«
»Wieso nicht?«, fragte ich, die Antwort halb kennend. »Ich wette, Niall ist perfekt mit Eltern. Höflich und liebenswürdig und er ist Stipendiat der Astrophysiologie. Komm schon. Ich kann ihn mir so gut an eurem Küchentisch vorstellen.«
Zayn rutschte elegant vom Fensterbrett. Ich wusste, was er tat, aber weigerte mich, es ihm gleich zu tun. So musste er vor mir stehen bleiben. »Wir sind einen halben Monat zusammen, Louis. Ich nehme ihn nirgendwo mit hin.«
»Ihr datet schon viel länger! Und ich bin nicht blind – und du und Niall auch nicht. Ihr seid so vernarrt ineinander. Er hat sich zu Halloween in gelber Hose und rotem T-Shirt als Winnie the Pooh verkleidet und du konntest ihm nur deine tiefen Gefühle gestehen!«
»Louis!«, sagte Zayn warnend.
»Zayn!«, imitierte ich seine Stimme und landete jetzt auch auf dem Boden. »Du musst langsam mal akzeptieren, dass du jemanden kennengelernt hast, der dich gerne mag und gut zu dir ist. Den du auch magst.«
Er drehte mir den Rücken zu und machte sich auf den Weg zu unseren reservierten Stühlen. »Ich will wieder über deinen Vater reden.«
»Nein, Z! Kannst du dir wirklich nicht eingestehen, dass Niall es ernst mit dir meint?«, fragte ich und wusste, dass ich ein bisschen laut wurde. Ich senkte die Stimme. »Er ist der Beste seit Langem. Seit immer. Wenn man von den allerersten Anfängen absieht. Aber das ist ja kein Maßstab.« Ich griff nach seinem Unterarm und hoffte, ihn auch nur ein bisschen grinsen zu sehen, aber vergeblich.
Zayn setzte sich und ich nahm neben ihm Platz. Er breitete ein paar Sachen auf dem Tisch aus, korrigierte den Winkel seines Schreibblocks mehrmals. Dann drehte er sich mir zu. »Louis.«, sagte er, ruhig, bestimmt. »Ich mag Niall gerne und ich weiß, dass du das weißt. Ich weiß, dass er besser ist, als...alle, wahrscheinlich. Deswegen will ich es langsam angehen lassen. Du machst gerne alle Leute schlecht, die ich jemals gedatet habe, und ja, da lief nicht immer alles super, aber da war ich auch nicht unschuldig dran. Ich habe mich mitziehen lassen. Dieses Mal will ich es besser machen. Und ich werde Niall nicht mit nach Hause nehmen.«
Ich wollte die Arme vor der Brust verschränken und ihm erklären, dass er nicht schuld an den Geschehnissen der Vergangenheit war und dass alleine seine Wortwahl das bewies, aber ich wusste auch, dass er sich danach sehnte, fürs erste das letzte Wort gesprochen zu haben. Also lieferte ich ihm einen trotzigen Blick, der hoffentlich alles sagte, was meine Lippen nicht durften, und dann nickte ich. Schwer zu glauben, aber Louis Tomlinson konnte nachgeben – wenn er nur wirklich wollte.
Kapitulierend packte also auch ich meine Sachen aus. Zayn neben mir trank Kaffee aus einem Thermobecher und das Gespräch war für ihn beendet. Ich suchte nach einem neuen, unaufgeladenen Thema, aber bevor mir etwas einfiel, betrat Professor Calprain den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen.
»Guten Tag! Zwei Minuten Verspätung, dafür muss ich mich entschuldigen. Wenn Sie trotzdem pünktlich Schluss machen wollen, dann erwarte ich rege Mitarbeit!« Sie machte es sich hinter dem Pult bequem. Zayn und ich setzten uns gleichzeitig mit geraderem Rücken auf.
✩
Der Luxus von Zayns Gesellschaft; ich hatte nicht mal gemerkt, wie er mich von dem Chaos abgelenkt, das der gestrige Tag über mein Leben gestülpt hatte. Während ich mit meinem eigenen Modernismus-Aufsatz im Hinterkopf den akribischen Hinweisen der Professorin gelauscht hatte, Zayn still neben mir, waren meine Gedanken geflohen, wieder und wieder, bis ich nicht anders konnte, als im Kopf Wege durchzugehen, wie ich in dem kleinen Seminarraum unterm Dach eine solche Gefahrensituation erschaffen konnte, dass Harry einfach auftauchen musste – wenn er wirklich mein Schutzengel war. Und was würde er dann tun? Ich würde nach seiner Hand greifen, um ihn festzuhalten, ihn Zayn präsentieren und sagen: ›Da! Harry, von dem du mittlerweile nicht mal sicher bist, ob er wirklich je existiert hat. Er existiert! Und nicht nur das; er ist ein Engel und sieh dir seine himmlische Schönheit an. Da hast du deine Erklärung, wieso ich ihn nicht aus dem Kopf bekommen konnte.‹
Natürlich hatte ich nichts dergleichen wirklich initiiert und mich stattdessen stumm durch das Seminar gekämpft. Und jetzt kämpfte ich mich stumm durch den Gang des Busses, rutschte auf einen leeren Fensterplatz nicht weit hinter dem Fahrer. Wenn ich wollte, konnte ich ihn in seinem Rückspiegel beobachten. Einen Bus zu fahren musste unglaublich anspruchsvoll sein. Vielleicht nicht nur anspruchsvoll, sondern auch gefährlich genug, dass ein Schutzegel immer unsichtbar über alles wachte. Gab es dazu den schmalen Sitz links vom Fahrer, direkt im Eingang? Für den Schutzengel-Co-Piloten? Vielleicht saßen neben all den traurig verteilten Fahrgästen pflichtbewusste Schutzengel, unsichtbar und unentdeckt. Neben allen außer mir.
Der Bus setzte sich in Bewegung und ich stöpselte mir direkt Kopfhörer in die Ohren. Der Himmel draußen hatte sich zugezogen, aber es war erschreckend kalt geblieben. Dank meiner engen Zeitplanung, direkt von der Uni aus nach Leeds zu fahren, hatte ich es nicht nochmal nach Hause geschafft, um mich dicker anzuziehen. Und bisher schien die Busheizung nicht, als würde sie das wettmachen. Irgendwo in meinem schmalen Fußraum strömte ein wenig warme Luft, aber das würde mich nie im Leben aufwärmen, wenn es dabei blieb. Ich schloss die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die noch kältere Scheibe. Meine Hände vergrub ich in meinen dünn gefütterten Jackentaschen. Über das Fenster festigte sich das Brummen des Motors in meinem Kopf, kroch durch meine Wirbelsäule und verlor sich wieder im Sitz unter meinen Beinen.
Eigentlich hätte ich lesen oder meinen Rechercheanteil für Amerikanische Literatur und Soziale Kritik erledigen oder mich endlich für die Werke der Chaucer-Vergleichsanalyse entscheiden sollen. Oder, wahrscheinlich am ehesten, endlich ein verdammtes Gedicht für Kreatives Schreiben improvisieren. Es hätte nichts dabei sein sollen. Einfach zwei, drei Strophen mit braven Reimen und simplen Metaphern aufschreiben, zu Themen, die mich nie betroffen hatten, eine sterile Kopie der Literaturgeschichte, und dann über die Blamage hinwegkommen und akzeptieren, dass ich einfach kein Lyriker war. Irgendetwas aufschreiben und es einreichen, der Kurs ging sowieso nicht entscheidend in meine Gesamtwertung ein. Einfach die Niederlage akzeptieren. Das konnte doch nicht so schwer sein.
War es aber anscheinend. Wieso hatte Zayn mich nicht effektiver daran gehindert, mich in den dämlichen Kurs einzuschreiben? Ich hatte mir die Misere selbst eingebrockt.
Ich begann, meine Finger zu kneten. Vielleicht würde das helfen, damit sie sich schneller aufwärmten. Ich hatte ungefähr eine Stunde hier im Bus. Dann ein bisschen Zeit bei meiner Mum und später dann zurück. Wenn ich mich an meine eigene Zeitplanung hielt, dann wäre ich gegen halb 9 zurück zuhause. Kein kurzer Tag.
Und nicht vor 17 Uhr anrufen. Ich bekam die Nachricht von meinem Dad nicht aus dem Kopf. Ich wusste nicht, was mich wütender machte; seine selbstgefällige Unhöflichkeit oder der Fakt, dass er mich nicht einfach selbst anrief. Oder all die anderen tausend Gründe, wieso ich wütend auf ihn sein konnte.
Was wollte er? Und, vielleicht wichtiger; wollte ich es ihm geben?
Es stimmte; ich hatte ihn seit Ende August nicht mehr gesehen, an den Flussufern von Tiverton, wo sein eigener Vater lebte. Mein Grandad, der es durchschnittlich alle anderthalb Jahre schaffte, entweder an Weihnachten oder meinem Geburtstag an mich zu denken – was zugegebenermaßen eine verwirrende Angelegenheit war. Der Grandad, der es auf einem Drei-Generationen-Männerwochenende vor vier Jahren geschafft hatte, mich 21 Stunden lang anzuschweigen, nachdem ich erwähnt hatte, dass ich schwul war. Glückliche Familienerlebnisse.
Ich hatte meinen Dad jedenfalls eine Weile nicht gesehen und genauso lange nicht von ihm gehört. Und es war nicht so, als würde mich diese lange Zeit groß überraschen – ich hatte immerhin auch nichts getan, um sie zu verkürzen. Aber das war der Punkt; ich war weniger überrascht über die verstrichene Zeit als den Fakt, dass er jetzt doch den Kontakt aufgenommen hatte, und auf welche Weise.
Wir hatten Tiverton ohne exzessive Emotionen verlassen; beide froh, uns wieder auf den Weg nach Hause machen zu können. Zumindest ging es mir so. Was mich eine halbe Stunde nach meinem Aufbruch am meisten bewegt hatte, war, dass ich meine signierte Ausgabe von ›Refugee Boy‹ – die Bühnenversion von Lemn Sissay – irgendwo im Wohnzimmer meines Grandads liegen gelassen hatte. Bis heute hatte ich es nicht zurück. Und ich hatte keine Ahnung, wann ich das nächste Mal dort sein würde.
Vielleicht sollte ich ein bisschen von Sissays Gedichten lesen. Ein paar Manchester-Persönlichkeiten studieren, Sissay, Walsh, und all die anderen. Vielleicht würde ein bisschen was auf mich abfärben, Manchester eine großzügige Muse sein. Nicht, dass ich ein großer Fan von Tony Walsh wäre. Aber so langsam war ich mir sicher, dass ungefähr jeder Mensch fähiger wäre, eine akzeptablere Abgabe für Kreatives Schreiben fertigzubringen als ich.
Als ich seine Stimme hörte, dachte ich kurz, ich wäre eingeschlafen und träumte, wonach ich mich am meisten sehnte. Eine bequeme Kopie der Schreckensfahrt nach Hemsworth. Aber es war kein Traum und das ›Hallo Louis‹ war gedämpft durch die Musik in meinen Ohren, aber trotzdem so klar, dass ich Angst hatte, die anderen Passagiere des Busses mussten allein an Harrys Stimme erkennen, dass er den Naturgesetzen nicht gehorchte, wie sie es taten. Meine Hände hatten sich in den Jackentaschen zu Fäusten verkrampft.
Als ich seine Stimme hörte, wusste ich nicht, ob ich ihn sehen würde, wenn ich meine Augen aufschlug. Aber ich wusste, er war zurück.
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