𝐗𝐋𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Als Harry gesagt hatte: ›Erlaube mir meine Unergründlichkeit.‹, hatte er da diesen Moment gemeint? Als er gesagt hatte: ›Keine Fragen von dir an mich zu mir.‹, hatte er sich da auf diese Situation bezogen?
Mich zu überraschen, schien eines von Harrys Haupttalenten zu sein, aber mit seiner Rückkehr heute Abend hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich hatte seine Flucht akzeptiert, wie jede vorherige, den Boden vom zerbrochenen Glas gereinigt, aufgewühlt und verwirrt Zayns Aufsatz weitergelesen. In der Antwortmail hatte ich Zayn ein paar Notizen und eine Version mit berichtigten Tippfehlern geschickt, aber mit der eingeräumten Information, dass mir die volle Konzentration zu ernsthafter Verarbeitung gefehlt hatte.
Und jetzt war Harry zurück, einfach so. Seine Kargheit an Worten half nicht, Verständnis zu schaffen, aber er hatte sich so entschlossen wie gestern hier hingesetzt, bevor er seine Liste an Regeln diktiert hatte. Hoffentlich war sein Schreck wegen des Glases vorbei und hoffentlich hatte er begriffen, dass seine heftige Reaktion darauf mich auch verloren zurückgelassen hatte.
Noch fühlte ich mich allerdings, als würde ich auf einem gewaltig großen – und wichtigen – Schlauch stehen. Als ich nur ein fragendes Wort hervorbrachte, fühlte ich mich wie Harry. »Wissensgrenze?«
Ich hatte mit Harry schon so einige Wissensgrenzen überschritten, ungefähr wöchentlich malte er ein völlig neues Bild von sich selbst, alle vorherigen Fakten revidierend. Harry war niemand und trotzdem war er diffizil und allein durch solche Gedanken bewies ich mal wieder, dass ich hier eigentlich das Problem war. Welche Wissensgrenze hatte ich heute überschritten? Und wie einseitig sah die Zusammenarbeit aus, von der Harry sprach? Welche Einschränkungen würde er mir jetzt auferlegen?
»Ja. Es ist mein Fehler und...das konntest du nicht wissen, aber ja, es gibt diese Grenzen, und du...du, Louis, solltest sie nicht überschreiten.«, sagte Harry, mit Händen auf seinen Beinen. Die grünen Augen waren glasig und der Anblick fühlte sich vertraut an. »Hättest sie nicht überschreiten sollen, dem Plan nach, aber das war meine Verantwortung. Es war nie vorgesehen, dass ich herkomme und erst recht nicht, dass ich mich dir zeige, definitiv nicht so früh... Es ist meine Schuld. Und...es tut mir leid, ich sage es direkt am Anfang, jetzt, damit du keine hoffnungslosen Erwartungen aufbauen kannst; ich kann es dir nicht mehr nehmen. Das musst du mir verzeihen und du wirst es mir den Rest deines hoffentlich langen Lebens verzeihen müssen.«
Es musste der lange Tag in der Bibliothek sein oder die sechs Seiten von Zayns komplexem Essay oder Harrys blasses Gesicht Millisekunden vor einem fallenden Glas, das immer noch auf meine Netzhaut gebrannt war; ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Jeder Teilsatz kreiste bedeutungslos zwischen meinen Schädelwänden umher, bis er ohne jegliche Nachhaltigkeit vom nächsten ersetzt wurde. Es war wie Müdigkeit in einer Vorlesung. Vielleicht sollte ich einfach lächeln und nicken. Interessiert aussehen. Redete Harry noch davon, wie ich ihn hintergangen hatte, um herauszufinden, dass er gar nicht studierte?
Aber wofür sollte ich ihm verzeihen? Da musste irgendein Dreher in der Logik sein. Meinte er das Glas, das er zerbrochen hatte? Wissensgrenze? Worüber redeten wir? Worüber redete er?
»Es gibt nichts zu verzeihen.«, entschied ich mich, ihm zu versichern, denn worüber auch immer er redete; das war wahr.
Etwas in Harrys Gesicht zuckte. »Dafür fehlt dir der gesamte Überblick, die Einordnung.«
Ich wollte ihn schütteln und darum bitten, mir das Gesamtbild zu geben, wenn es mir fehlte, aber ich wusste, dass ich keine Fragen stellen durfte. Aber auch in dem vollen Bewusstsein, dass ich die meisten Dinge über Harry nicht wusste, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas geben könnte, das ich ihm verzeihen müsste. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
So fuhr Harry fort. »Bevor wir darüber reden, Louis, müssen wir aber etwas anderes klären. Und noch bevor wir damit anfangen, muss ich etwas teilen. Du solltest es wissen, denn aus diesem Grund ist das hier kompliziert für uns beide. Ich wurde nicht auf diese Situation vorbereitet. Und jetzt warst du... Ich hatte keine Zeit, diese Vorbereitung adäquat nachzuholen. Ich werde also Dinge falsch machen. Und – das sollte ich dir nicht sagen, aber – ich bin nervös. Nervöser als du.« Mit bedeutungsvollem Blick legte er einen Finger an seine Schläfe, ließ ihn wieder sinken.
Vielleicht war ich noch übermüdet von den Albtraum-Nächten. Oder ich hatte nach dem Unitag wirklich keine Kapazität für Worte mehr. Oder es war Harry, auf dieselbe kryptische Weise wie in unseren ersten Tagen. Ich hatte das Gefühl, dass er mit mir redete, wirklich etwas teilte, aber er sagte nichts. War ich der Haken?
»Du brauchst nicht nervös zu sein.«, arbeitete ich mit dem, was mich erreichte. War er dabei, mir ein weiteres schockierendes Geheimnis anzuvertrauen? Keine Wohnung, kein Student, keine...gültige Staatsangehörigkeit? Keine Familie, über seine verstorbene Mutter hinaus?
Was könnte er noch sagen, das mich überraschen würde? Ich wusste nichts über Harry, das machte alles möglich.
Er hatte diese Art, mein Gesicht anzusehen, als gehörte jede Pore meiner Haut einem festen Sternbild an und er musste sie nur richtig zuordnen. Aber es war unvorstellbar, dass ich auch nur ansatzweise so ein großes Rätsel für ihn sein konnte wie er für mich. Ich versuchte, offen mit ihm zu sein. Und bis auf den Fakt, dass ich manchmal ein bisschen schockiert darüber war, wie surreal schön er war, versteckte ich eigentlich kaum etwas willentlich vor ihm.
»Du musst mir bitte verraten, wie du es herausgefunden hast.«, sagte er schließlich. Redeten wir also wirklich noch davon, wie ich über Danny seine Studiumslüge aufgedeckt hatte? Aber das hatte ich ihm schon erklärt. Harry senkte den Blick und redete weiter, bevor ich die Chance hatte, etwas zu erwidern. »Mit weiteren Listen? Oder hast du es heute morgen verstanden? Ich habe deinen Schlaf nicht richtig detektiert oder...doch. Aber du bist zu schnell aufgewacht. Mir blieb nur das Bad.«
Ich musste irgendeine Information übersprungen haben. Vielleicht einen kurzen Blackout in der Konzentration, das kam in stressigen Uniphasen definitiv vor. Änderte trotzdem nichts daran, dass es unangenehm war. Zu schnell aufgewacht? Zayns tadelnder Anruf hatte mich geweckt. »Ähm...was?«, war noch die beste Reaktion, die ich abliefern konnte.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass du aufwachst. Das hat dein Körper mir nicht signalisiert und du hattest mir vorher keine Uhrzeit gesagt. Dann ist es zu plötzlich passiert. Ich hatte nur noch das Bad. Hätte ich gewusst, dass du es weißt, wäre das nicht nötig gewesen. Auch jetzt nicht. Aber es widerspricht allem, was ich je gelernt habe. Es ist ungewohnt. Wusstest du es heute Morgen schon? Hat jemand anderes es dir gesagt?«
Absurd, von vorne bis hinten. Aber war ja klar. Kaum öffnete Harry mal für mehr als eine dreiteilige Wortgruppe den Mund, verstand ich keine Silbe mehr. Zeigte das meine wahre Einstellung? Sah ich Harry so wenig als den Besitzer einer realen Persönlichkeit, dass mein Unterbewusstsein sich einfach weigerte, ihm zuzuhören? Ich war verloren. Und gab auf. »Hat jemand anderes mir was gesagt?«, fragte ich, ohne meine komplette Verwirrung länger verstecken zu wollen.
Harrys Pupillen waren groß, ertränkten das Grün. In seinem Schoß legte er die Kuppen seiner Mittel- und Ringfinger aneinander. »Dass ich ein Engel bin.«
Ich spürte die Falten meines Stirnrunzelns. »Was?«
»Dass ich ein Engel bin. Woher weißt du es?« Er sprach, als wäre es immer natürlich für ihn gewesen, den Leitfaden unserer Gespräche zu steuern. Vielleicht war es das, was mich eigentlich überforderte.
»Ich bin verwirrt.«, ließ ich ihn dieses Mal konkret wissen und zog ein gebeugtes Knie an meine Brust.
»Ich weiß. Ich muss... Ich kann dir mehr Antworten geben.« Harrys Finger lösten sich voneinander, seine Handflächen drehten sich zur Decke. »Aber du musst mir erklären, wie du es erfahren hast.«
»Erfahren?«, fragte ich und irgendetwas in mir köchelte zu größerem Ausmaß. Wahrscheinlich Ungeduld, mit Harry oder mir selbst. »Ich habe nichts erfahren.«
»Dann hast du es selbst begriffen..? Du musst mir erklären, wie, Louis, bitte.«
»Was erklären?«
»Wie du begriffen hast, dass ich ein Engel bin!«
Ich wollte ihn wirklich nicht anstarren, als würden wir in verschiedenen Sprachen kommunizieren, als verbarg die Bewegung seiner Lippen verständlichere Geheimnisse als die seiner Zunge, aber es passierte einfach. »Ein Engel?« Worauf wollte er hinaus?
»Ja. Du weißt es, Louis.«, versicherte er, aber ich konnte inhaltlich einfach nicht folgen.
»Engel? Wie Engel mit Heiligenschein und Flügeln?« War es das, was er mir zu sagen versuchte?
Aber jetzt sprang die Verwirrung über, das konnte sogar ich in Harrys minimalmimischem Gesicht lesen. »Heiligenschein?«
»Naja, wie in...den Bildern..? Meinst du so einen Engel? Mit Flügeln und Kreis über dem Kopf, im Himmel?«
»Ich habe keinen Heiligenschein.«, sagte er kurzangebunden, und natürlich nicht mehr. Was war das hier? Tony-Kushner-Rollenspiel?
»Harry, ich bin ganz ehrlich; ich weiß nicht, was du meinst.«
Harry beugte sich nach vorne, mir entgegen, hätte ich es auch getan, hätten unsere Nasen sich berührt. »Ich meine, was du meinst! Du hast es selbst gesagt. Louis, das ist ein wichtiges Gespräch, ich brauche deine Kooperation. Nicht wenig hängt von den Informationen ab, die vielleicht nur du hast. Bitte teile sie mit mir.«
Auch mit Nachhall hatten die Worte nicht viel mehr Wirkung in meinem Kopf. »Ich komme gerade wirklich nicht mit. Tut mir leid.«
Harry wurde ernster, mit jeder Sekunde mehr, es war Ernst, den ich in der Luft spüren konnte. »Du weißt, dass ich ein Engel bin, und es ist sehr wichtig, für beide von uns, dass du mir sagst, wie du es begriffen hast.«, erklärte er langsam und mit zu vielen betonten Worten.
Mein Hals war rau und wollte sich räuspern. »Ich verstehe nicht, was du damit meinst, dass du ein Engel bist.«, gestand ich jetzt einfach, auch wenn ich vielleicht sein Spiel ruinierte. Ich hatte offensichtlich den Einstieg auf die Doppelebene verpasst. Die Metapher.
Aber es half, auch bei Harry schleichende Überforderung zu sehen. Er musterte mein Gesicht mit Sorgfalt. »Aber du weißt es.«, sagte er mit noch langsamerem Tempo als eben.
»Nein, ich habe irgendwie das entscheidende Detail überhört. Nicht mit Absicht. Ich verstehe gerade wirklich einfach nicht, was du mit Engel-sein meinst. Das müsstest du nochmal kurz erklären bitte.«
Frage des Abends: Wer von uns beiden sah wohl verwirrter aus? Harry kämpfte auf jeden Fall für den Titel. Es war ein neuer Ausdruck, ich hätte darauf geschworen, ihn noch nie bei irgendeinem anderen Menschen gesehen zu haben, er war tief in Harrys Augen und all seinen Muskeln, aber ich wusste, dass es Verwirrung war, ich wusste es tief in meiner Brust. Harrys Schultern zuckten und sein Mund öffnete sich träge wie der einer Schildkröte. »Aber... Weißt du es...nicht, Louis?«
»Was du mit Engel meinst?«, fragte ich und kam mir mit jeder Sekunde dämlicher vor. »Nein, das weiß ich nicht.«
»Dass ich ein Engel bin.«, sagte er so ernst und deutlich, dass ich eine Gänsehaut aus meinem Nacken schütteln musste. »Weißt du es nicht?«
»Ich weiß...«, stammelte ich los, verloren, überfordert, vielleicht wollte ich langsam lieber weinen als weiter zu versagen, »Ich weiß es. Du hast es oft genug gesagt. Aber, Harry, ich weiß nicht, was du damit sagen willst. Ich verstehe die Aussage nicht.«
Harry setzte sich so klar gegen die weiße Wand in seinem Rücken ab. Seine Wangen waren rot, die Augen brannten, das Kleid schimmerte und lief über meinem Linoleum aus. An ihm war alles richtig, so viel richtiger als an mir, ich wusste es, aber mehr noch als richtig war er falsch.
»Ich bin ein zölestischer Engel, Louis. Das ist es, was ich sagen will. Ich bin dein Schutzengel.«
Ein Springseil in meinem Kopf und ich scheiterte beim ersten Sprung. Harry meinte es ernst. »Was?«, fragte ich, weil es nicht schlechter als all die anderen Millionen von potentiellen Wörtern für diese Situation war.
Harry sah aus, als würde er gleich in bunten Flammen explodieren, Feuerwerk an meiner Decke. »Ich schütze dich. Wir sind verbunden seit dem Tag deiner Geburt. Ich bin dein Schutzengel und ich bin hier, um mit dir darüber zu reden, weil du mehr weißt als vorgesehen. Ich brauche deine Hilfe, Louis.«
Es schien grausam, dass er so häufig meinen Namen sagte. Mein Schutzengel? Mein Schutzengel?! Weiterer Plan für den Abend: ein bisschen Smalltalk mit meinem Schutzengel und als nächstes dann der langersehnte Trip nach Atlantis. Es war wahrscheinlich gemein, aber mir fiel nichts Passenderes ein, als ich fragte: »Meinst du das ernst?«
Seine Hände waren unruhig, Aufregung bis in seine Haarspitzen, falls das möglich war. »Ja! Ich brauche deine Hilfe. Du weißt nicht, was du im Himmel bewirkst, ich hätte-«
»Im Himmel?«
»Im Himmel, Louis. Die Balance zwischen Himmel und Erde ist fragil und durch mich hast du einen großen Einfluss auf-«
»Harry, stopp.« Ich hob meine linke Hand nur minimal, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es funktionierte. Sein Gesicht hielt nur für mich inne. Er hätte sonst mehr gesagt. Dinge über den verdammten Himmel erzählt. »Versuchst du mir wirklich zu erzählen, dass du mein Schutzengel bist? Wenn ja... Ich bin verwirrt. Du bist... Du musst verstehen, dass wir beide...unsere Beziehung zueinander...das ist alles nicht einfach, und ich weiß, dass du das so gut weißt wie ich. Aber das mit dem... Ich bin in vielen Aspekten im Alltag sehr viel privilegierter als du und ich will dir wirklich gerne so gut weiterhelfen, wie ich kann, aber dadurch bin ich manchmal natürlich auch ein bisschen zurückhaltender oder... Ich weiß, ich darf keine Fragen stellen, aber ich verstehe einfach gerade nicht, was du sagst. Ist es ein Scherz? Hat es irgendeine metaphorische Bedeutung? Ich weiß nicht, wie ich dich behandeln soll, wenn du...mir einfach solche Dinge sagst.«
Harry ließ sich nicht die Zeit, zu warten. »Es hat keine metaphorische Bedeutung. Louis, du weißt es. Bitte konzentriere dich darauf. Ich kriege es nicht mehr aus deinem Verstand, also müssen wir hier kooperieren.«
Kooperation. Kooperation womit, worüber? Dass er...mir anscheinend wirklich versuchte, zu verkaufen, dass er mein Schutzengel – ? – war? Wie konnte ich da kooperieren? So tun, als würde ich ihm glauben? So tun, als würde ich das Spiel verstehen? Wie sollte ich all das hier einordnen? Harry, dem sein Leben jede erdenkliche Hürde in den Weg gelegt hatte, behauptete, ein Engel zu sein. Wo kam das her?
»Kannst du mir...« Nichts schien plausibel, nichts schien gerechtfertigt. Ich hatte die Lippen zusammengepresst, ohne es zu merken. »Kannst du mir zeigen, dass du ein Engel bist?«
Harrys Augen wurden enger. »Zeigen?«
Da war der Harry, den ich kannte. Ich zuckte die Schultern. »Ja..? Eine Engelsache tun? Fliegen oder...ich weiß nicht, was machen Engel?« Nicht existieren auf jeden Fall. Aber auch so fiel mir nichts anderes ein, was Engel tun könnten. Fliegen? Beschützen? Botschaften überbringen? Es war wie die eine Kurzgeschichte von Kōbō Abe, in welcher der Außerirdische-
Harry war nicht wie Kōbō Abes Außerirdischer. Harry, die Beine immer noch ineinander verflochten, war auf einmal ein paar Zentimeter über mich hinaus gewachsen. Harry war nicht größer geworden, nur höher. Harry, wie kurz vergessen von der Schwerkraft, berührte nicht mehr den Boden.
Ich wollte denken, ich wollte reagieren, schon während es passierte, wusste ich, dass ich es falsch machte, aber: Nichts. Harrys Knie waren eine Parallele zum Boden, über dem Boden. Mein Linoleum fing nur noch Schatten seines Körpers auf. Wohnung, Luft, dann Harry. Luft. Luft? Luft in meinem Kopf. Es war unmöglich.
Mich vorzubeugen, war mehr Reflex als alles andere. Meine offene Handfläche fand den kalten Boden und schob sich schnell aber bestimmt über die Zentimeter, auf denen Harry eben noch gesessen hatte. Nichts. Nichts, Nichts, Nichts, Nichts, Nichts. Luft. Leere. Lügen. Keine Lügen. Eine Wahrheit? Harry hatte es wirklich ernst gemeint?! Kein Trick, kein Spiel, kein...Mensch? Kein Mensch? Kein Mensch?!
Ich wollte seinen Namen sagen, um Kontakt mit ihm aufzunehmen, um sicherzugehen, dass wir uns noch in derselben Dimension befanden, aber meine Zunge streikte. Meine Augen brannten von der Angst, zu blinzeln. Ein Lidschlag und Harry wäre verschwunden. Langsam aber sicher schwebte er hinauf in Richtung Decke wie ein vernachlässigter Heliumballon.
Wie ein vernachlässigter Heliumballon, wie ein Engel.
Ich starrte und starrte und starrte, irgendwann über seine nackten Füße und Luft-getragenen Knie hinaus. Er hatte das Gesicht eines Engels, natürlich. Er war schöner als meine idealisierteste Vorstellung von ihm. Aber was bedeutete das schon? Schönheit konnte nicht das Mittel sein, um Naturgesetze zu brechen. Ein Engel. War Harry ein Engel?
»Louis.« Harry begann meinen Namen unter der Decke, mit dem ›i‹ saß er wieder vor mir. Beine auf dem blassen Braun, Kontakt, Kontakt. »Du brauchst Blut in deinem Kopf.«
Blut in meinem Kopf und Harry entflocht seine Beine, bis er vor mir kniete. Seine Haut auf dem Boden meiner Wohnung. Hatte ich es mir eingebildet? Das Weiß seines Kleides verätzte meine Augen und endlich blinzelte ich. Endlich wurde Qual. Sobald meine Augen wieder offen waren, brannten sie noch stärker. Ich schloss sie erneut und ließ sie zu, Verrat saugte sich in meine Augäpfel. Mit leidendem Stöhnen presste ich meine Handballen gegen meine geschlossenen Augen, presste sie weiter in ihre Höhlen. Harry und jeder einzelne Regelbruch tanzten in den Flammen wie dort geboren. Erst nach endlosen Sekunden hatten meine Augen ihr Schicksal akzeptiert und dankbar angenommen. Ich senkte meine Hände und blinzelte vorsichtig. Es war nicht hell hier drin, aber auch das wenige Licht war gnadenlos. Harry war mir näher als vorher und als er die ›Keine Berührungen‹-Regel brach, hätte auch die Decke über uns brechen sollen. Seine Hände auf meinen Oberarmen, seine echten Hände, und er drückte, sanft, bestimmt. Ich wehrte mich nicht, ließ mich von ihm nach hinten lehnen, bis seine rechte Hand in meine Haare fuhr und er meinen Kopf vorsichtig auf dem Linoleum ablegte.
»Blut, Louis, du brauchst-«
Ich setzte mich so schnell wieder auf, dass Harry zurückfuhr. In meinem oberen Gesichtsfeld drehte sich etwas, Harry hatte recht mit dem Blut. Aber was war hier los? Harry konnte mich nicht einfach zu Boden drücken. Ich konnte mich nicht einfach zu Boden drücken lassen. Harry konnte nicht einfach an die Decke schweben. War Harry wirklich gerade an die Decke geschwebt? Träumte ich? War ich mit Harry auf der Matratze eingeschlafen, Engelsgesicht zu inspirierend für mein Unterbewusstsein und jetzt erledigte es den Rest? Mich zu kneifen, schien idiotisch. Aber das hier für die Realität zu halten, schien idiotischer.
Doch. Es musste die Realität sein. Aber es musste ebenso eine gute Erklärung für das alles geben.
Ich stützte mich mit der flachen Hand auf dem Boden ab. »Mach es nochmal, Harry.« Mein Herz jagte Blut durch meine Adern, als wollte es mich hydraulisch auch gleich an die Decke schicken.
Harry nickte nicht, aber sein Blick war wie ein Nach-Nicken. Als seine Hände wieder an meinen Oberarmen lagen und er mich nach hinten drückte, schüttelte ich ihn schnell ab.
»Nein! Nicht das.«, protestierte ich. Mit drei Fingern zeigte ich nach oben. »Das.«
Zögern in seinem ganzen Körper. War es das, was uns verband? Die ewigen Fragen? Er stand auf. Ich war winzig, als ich zu ihm aufsah. Er war der einzige Mensch der Welt, der aus dieser unvorteilhaften Perspektive gut aussah. Und nicht nur das machte ihn einzigartig. Als er mit sanft gestreckten Füßen den Boden verließ, war es fast, als hätte die verlorene Schwerkraft sich auf die naiven Flügel meiner Lunge gelegt. Zwanzig Zentimeter zwischen Harrys Zehen und jeglicher fester Materie. Mein Herz hatte sich verdoppelt und schlug in verstörten Gehörgängen meiner Ohren. Wer hatte Harry erlaubt, die Physik zu bezwingen?
Ein paar Kurzschlüsse oder Langschlüsse oder Fehlschlüsse in meinem Gehirn, Wärme in meinen Wangen, und Harry durchbohrte mich mit seinem Blick. Etwas zitterte in meinem Oberbauch. Ich schluckte, aber in meinen Ohren folgte kein Knacken. »Harry«, baute ich den Mut meiner Zunge mit zwei viel geübten Silben auf, »bist du wirklich ein Engel?«
Erst seine Zehen, dann die Fußballen und schließlich waren auch seine Fersen von seiner kleinen Realitätsverzerrung zurückgekehrt. Die Frage hatte einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge hinterlassen, als wäre sie giftig. Irgendwo in mir war das Bewusstsein, dass Harrys Antwort alles war. Aber egal, was er sagen würde; seine Stimme hatte längst die Macht gewonnen, die ihm eigentlich nur mit dem verbotenen Wort gewährt sein sollte. Auch als er wieder saß, fühlte ich mich wie ein Insekt in meiner eigenen Wohnung. Als müsste Harry nur seinen Fuß befehligen, um mich mit halber Anstrengung seiner nackten Fußsohle zu vernichten.
Seine Augen waren Gewitterwolken und ich wartete auf die Blitze. Aber schon jetzt wusste ich, dass der Donner zuerst kommen würde. Harry beugte sich nicht mehr vor, um mich niederzuringen. Er saß mit geradem Rücken in schneeweißem Kleid und war mir immer alle Schritte voraus. »Ja.«, war, was er sagte und was mit allen Molekülen der Luft bis an die höchsten Punkte dieses Raumes schwebte, wie Harry noch vor wenigen Sekunden.
Vielleicht war es Selbst-Sabotage, wie ich daran glaubte, dass Harry es war, der mich sabotierte. Vielleicht wollte ich nicht an das glauben, was er mir erzählte, weil ich wusste, dass es bedeuten würde, mir selbst zu glauben. Natürlich glaubte ich ihm nicht.
Aber ich glaubte ihm nicht nicht.
Es war gut. Es war befriedigend, Ambivalenz in all ihrer Inkonsequenz, und trotzdem wollte ich mich ein bisschen übergeben. Harry als Engel war bei Weitem die plausibelste von all den Lügen, die ich mir täglich selbst erzählen konnte. Harry als Seifenblasentraum menschlicher Existenz, Harry mit seinen Locken und Widersprüchen, ein Engel, ja, natürlich, wieso nicht? Wenn ich mir eine Sache hätte wünschen können, um all Harrys und meine Probleme zu lösen, dann, dass er ein Engel war. Logisch. Ein Engel saß auf meinem Linoleum.
»Mein Schutzengel?«, fragte ich, weil ich mich entscheiden musste. Ich wusste es, ich war nicht komplett dämlich, es ging hier nicht um Lüge oder Wahrheit, es ging nur darum, was ich am Ende glauben würde. Am Ende, wenn ich in meinem Bett liegen und das Schwarz hinter meinen Lidern zu der Größe meines Bewusstsein ausbreiten würde, wenn die ganze Welt nach meinen Regeln regierte, wenn Harry niemand war außer das heuchlerische Bild in meinem Kopf.
»Ja.«, versicherte er.
Ich wollte ihn wieder um einen Beweis bitten, noch einen und noch einen; was ich erwartete? Keine Ahnung. Konnte mein Puls noch schneller gehen? Wie konnte ein Engel seine Identität beweisen – außer mit einem gut umgesetzten Theatertrick?
»Ich konnte dir die Information nicht mehr nehmen.«, sagte Harry, bevor ich mir überlegt hatte, was ich sagen könnte. Er sah auch aufgeregt aus, aber ebenso erleichtert. »Deine Amygdala hat sie irreversibel gefärbt und dafür hätten meine Fähigkeiten nicht ausgereicht. Du bist sicher überrascht, dass wir dieses Gespräch jetzt führen; aber das ist die Erklärung. Du verdienst sie. Nur brauche ich im Gegenzug deine Erklärung, Louis.«
Harry zuzuhören, war, wie der walisischen Verwandtschaft auf der Seite meines Dads zuzuhören. Nur, wenn ich mich wirklich einhundertprozentig konzentrierte, verstand ich, was sie sagten, und auch dann merkte ich erst, wenn es zu spät war, dass ich eigentlich gar nichts begriffen hatte. Meine Amygdala? »Was für eine Erklärung?«
»Wie hast du herausgefunden, dass ich ein Engel bin, Louis?« Er ermüdete auf jeden Fall nicht daran, sich zu wiederholen.
Aber meine Überforderung schien auch nicht zu ermüden. »Du hast es mir vor zwei Minuten erzählt.«, erinnerte ich ihn. Ich wusste, wir redeten über das Gleiche, aber vollkommen aneinander vorbei. Ich wollte nur den Schalter umlegen, der uns miteinander verbinden würde. Eine Sekunde und dann; Verständnis.
Verständnis füreinander schien wie die größte Freiheit, die Harry und ich nie miteinander gekannt hatten. Hielten wir uns selber gefangen, oder gegenseitig? Freiheit wurde durch Widerstand geschaffen, durch nichts anderes. Aber widerstanden wir gerade unserer eigenen Unterdrückung oder dem Weg zum wichtigen Verständnis?
»Davor.«, erwiderte Harry, anscheinend wirklich unermüdlich. Kämpfte er für uns? »Woher wusstest du es vorher? Als du es zu mir gesagt hast.«
»Was habe ich zu dir gesagt?«
»Dass ich ein Engel bin!« Langsam begann das Wort in meinem Kopf zu summen. En-gel. Sollten Buchstaben in dieser Kombination wirklich existieren? Es war verdächtig. Jeder, der es aussprach, machte sich verdächtig. Und jemand, der es so häufig innerhalb weniger Minuten sagte wie Harry, würde definitiv Rechenschaft abgelegen müssen.
Gleichzeitig wusste ich, dass ich der Schwache dafür war, dass ein einzelnes Wort auf einer imaginären Version meiner Zunge so schnell mein Gefühl von Sicherheit zerbrechen konnte. Engel Engel Engel Engel. Engel. Engel. Zu weich. Zu sauer.
»Das habe ich nicht gesagt..?«, überlegte ich mehr laut als alles andere. Abgesehen von den Tony-Kushner-Analysen redete ich in meinem Alltag garantiert nicht viel über Engel – oder dachte auch nur über sie nach.
»Doch.«, widersprach Harry absurderweise so sicher, dass sich eine Gänsehaut über meine Unterarme schlich.
Fast traute ich mich nicht, aber dann doch. Was gab es hier zu verlieren? »Nein.«, berichtigte ich. »Diese ganze Engelsache ist wirklich neu für mich, Harry. Ich hätte doch nicht so etwas gesagt, ohne... Du erinnerst dich falsch oder vielleicht verwechselst du mich mit jemanden. Ist nicht schlimm natürlich. Aber ich habe das nie gesagt. Nicht mal jetzt würde ich... Ich habe das sehr sicher nicht gesagt.«
Vielleicht war mir kalt oder vielleicht war das die automatische Reaktion meines Körpers auf eine Gänsehaut, aber ich musste meine Finger zu sanften Fäusten rollen, um sie aneinander zu wärmen. Falls Harry kalt wurde, ließ er sich nichts anmerken. Ich traute mich nicht, die Haut über seinen Fußknöcheln nach aufgestellten Haaren abzusuchen, ich konnte den Blick nicht von seinem Gesicht nehmen. »Doch.«, sagte er, als ich es nicht mehr erwartete. »Ich habe dir Wasser gebracht, weil dein Körper es brauchte und du hast es gesagt.«
Drei, vier, fünf Sekunden und; oh. »Oh.«, musste ich auch laut artikulieren. Ungläubig starrte ich Harry an. War es also doch alles nur ein Spaß? »Das war...mehr gemeint wie...›Danke, das ist lieb von dir. Dass du mir etwas zu trinken bringst.‹«
»Danke, das ist lieb?«, fragte Harry mit so viel Skepsis, dass ich meiner eigenen Sprache misstraute.
»Ja, naja, wie ›Danke, Harry, du bist ein Engel, dass du an mich denkst und-«
»Du wusstest nicht, dass ich ein Engel bin?!« Schock in seiner Stimme mehr als auf seinem Gesicht, aber dort saß er tief.
Mein Magen tat etwas Ungutes. »Engel, wie das mit dem...Fliegen..? Ich...nein. Ich wusste...ich weiß es immer noch nicht. Also...ich weiß nicht, worauf du hier hinauswillst, und falls du wirklich...ein Engel bist, dann...weiß ich nicht, wie ich...das einfach so glauben kann. Ich«, und ich konnte doch von seinem Gesicht ablassen, in meinen Schoß sehen, »ich glaube nicht an Engel. An all diese Sachen nicht. Ich wurde atheistisch aufgezogen und...ja.«
Es tat fast weh, ihn anzusehen. »Du glaubst mir nicht?«
»Doch!«, platzte ich schneller als ich denken konnte mit einem Wort heraus, von dem ich selbst nicht wusste, zu wie viel Prozent es gelogen war. »Ich glaube dir. Ich möchte dir glauben- Ich weiß nur nicht.... Ich möchte dir nicht unterstellen dass du lügst oder so, wirklich nicht. Und du bist gerade...einfach geschwebt oder so, was absolut irre ist, falls das wirklich passiert ist-«
»Es ist wirklich passiert! Du hast es gesehen!« Wann hatte ich Harry das letzte Mal mit so viel Aufregung in der Stimme gehört? Hatte ich es jemals getan?
»Ja, das will ich ja auch nicht abstreiten, ich glaube dir, was du sagst, nur ich kann nicht glauben, dass...dass... Ich glaube dir, aber nicht...nicht mit meiner Vernunft.« Sofort bereute ich jedes einzelne Wort. Wieso waren wir in dieser absurden Situation und wie kamen wir wieder heraus? Würde mein Herz für immer meine Rippen brechen wollen?
Harry hob einen Arm, seine Augen loderten und Finger legten sich an seine Schläfe. Und kurz, etwas, das ich noch nie mit ihm empfunden hatte, war er vertraut. Alles an ihm war familiär, alles, außer das Feuer in seinen Augen. »Ich muss zu Liam. Das ist eine Katastrophe.«
»Liam?«, fragte ich, weil ich ganz genau wusste, dass ich den Namen schon von ihm gehört hatte.
»Mein Mentor.« Er schloss die Augen und mein Kopf hätte jedes Recht darauf gehabt, zu explodieren. Liam, Harrys Mentor, wir hatten über ihn geredet, Harry hatte einen Mentor, weil er ein Stipendiat war. Harry war kein Stipendiat. Harrys Augen öffneten sich wieder. »Nein. Ich kann nicht.« Sein Arm fiel.
Mein Mund war zu trocken. »Was kannst du nicht?«
Er sah mich an, als würde er durch mich hindurchsehen. »In den Himmel zurückkehren.« Wenn er noch einmal in ernstem Tonfall vom Himmel reden würde, brannten in meinem Kopf vielleicht wirklich alle Sicherungen durch. »Ich kann dich nicht verlassen. Du glaubst mir und du glaubst mir nicht. Das ist wahrscheinlich die gefährlichste Situation, in der wir sein könnten. Ich kann dich nicht nicht glauben lassen, also müssen wir...« Der Satz zerfiel, sein Blick durchbohrte mich, als würde er mich festnageln wollen. Als wäre die Gefahr, von der er sprach, abhängig von einem Blinzeln seiner Augen, von der kleinsten Bewegung meiner Nasenflügel. Vielleicht standen meine Rückenmuskeln so unter Spannung, weil ich Angst hatte. Vor, um, mit, wegen Harry? Ja. Nein. Was wusste ich schon über meine eigenen Gefühle? Was wusste ich überhaupt?
Als Harry die Arme nach mir ausstreckte, wäre fast ich es gewesen, der jetzt an die Decke ging. Kurz dachte ich, er würde wieder versuchen, mich zu Boden zu drücken, aber seine Handflächen blieben geduldig in der Luft zwischen uns stehen. »Nimm meine Hände mit deinen, Louis.«
Nur ein Alarm ging in meinem Kopf los, er hatte Harrys Gesicht und sein reflexartiges Zucken und sagte: ›Keine Berührungen!‹
Aber Harry klang entschlossen, mehr als das sah er entschlossen aus, und seine Hände sprachen für sich. Zarte Linien zogen sich so sanft über seine Handflächen, dass es plötzlich plausibel wie nichts anderes erschien, dass er nicht gewollt hatte, dass ich ihn auch mit den besten Absichten berührte. Wer könnte jemals solche Hände berühren, ohne ihnen Unrecht zu tun?
Garantiert nicht ich. Und doch warteten sie dort auf mich, offen und verletzlich. »Bitte, Louis.«
Mehr brauchte es nicht. Ich war ein Sünder, als ich seine Bewegung spiegelte, für ihn und den Horizont alleine. Meine Hände legten sich auf seine, Fingerspitzen auf Handballen, seine Hände waren warm, weich, was hatte ich auch anderes erwartet? Ich schaffte es nicht, länger sein Gesicht zu verpassen. Mein gesamter Brustkorb kribbelte in Widerstand gegen mich selbst. Harry war konzentriert, er sah mich an, als existierte ich nur, solange er mich heraufbeschwörte. Seine Lippen waren aufeinandergepresst, unterdrückten seine Grübchen. Wie fühlte es sich an, Grübchen zu haben? War das Loch spürbar? Wussten seine Zähne von dem Privileg, hinter seinen Wangen zu leben?
Die rosa Lippen öffneten sich und es war alles, was ich sah. Harry seufzte und ich wollte weinen. Ich wusste es, ich wusste, dass ich es schon mal gehört hatte. Harrys Seufzen wie ein mechanisches Seufzen, wie echte Lasten, die größten Lasten, Harrys Psyche und sein Kehlkopf und eine Kontinentalplatte auf der anderen.
»So.«, sagte er, und es war so trivial nach dem Geräusch aus seinem Inneren, dass ich ihn schütteln wollte. »Jetzt weißt du es.«
Ich wollte nicken und ihm alles verzeihen, was ich je falsch gemacht hatte. Aber in meinem Kopf brannte nur Verwirrung wie Trockeneis. »Was?«
Seine Hände übten einen leichten Druck aus gegen meine, sanft, von unten. »Schwerkraft«, sagte er, als hätte ich damit rechnen können, »hält dich nur, solange du dich vor ihr fürchtest.« Und sein Blick fiel zu Boden und noch bevor meiner es ihm gleichtat, war es alles so falsch wie noch nie vorher in meinem ganzen Leben.
Es war nicht nur Harry, es war Harry, zehn Zentimeter über dem Boden, zurück in der Luft, die plötzlich auch mich trug. Meine Hände zuckten zurück, ich fiel schneller, als ich es Fallen nennen würde, und der Schmerz des Aufpralls war gepolstert, aber er schoss durch meine Wirbelsäule bis unter die Schädeldecke. Mein Herz hämmerte gegen meinen Rücken und ich war noch schneller auf den Beinen, als ich gefallen war. Luft, die Harry jetzt wieder freigab, verfing sich in meinem Rachen und Husten ließ meine Augen entflammen.
»Louis!« Er stand so schnell wie ich, oder vielleicht stand er nicht, vielleicht schwebte er immer noch. Seine Augen waren riesig, meine Lunge kämpfte mit sich selbst. Harry, Panik auf dem nahen Gesicht so laut wie in meinen Adern, ergriff mich wieder an meiner Schulter. Linke Hand an meiner Schulter, rechte Hand, seine magischen Hände, auf meiner Brust. Die Gewalt meines Herzens gegen seine Haut. Ich wollte mich von ihm losreißen, wollte ich wirklich, wirklich, wirklich. Wirklich.
Aber meine Füße waren schwer. Auf den beiden Fußrücken schienen Tonnen zu ruhen, als müssten sie die Schwerkraft kompensieren, die Harry für uns beide überwunden hatte. Überwunden wie das Einfachste, was er je getan hatte. So elegant bezwungen, dass ich es nicht mal gemerkt hatte. Schwerkraft! Ich war geschwebt, über dem Boden, ohne den Boden, ohne den Boden, ohne alles, was mich jemals an das Unten gebunden hatte. Ich wollte weiter husten, aber mein Rachen war wund und es gab nichts mehr zu verbannen. Harry war ein Engel? Harry war ein Engel. Ein Engel. Ein Engel! Ein Engel. Ein fliegender Engel. Ein Engel mit seinen magischen Händen auf meinem Körper. Ein Engel.
»Oh fuck.« Etwas drehte sich, etwas hinter Harry, oder vor ihm, oder wahrscheinlich in mir drin. »Ich muss mich hinsetzen.«
Ich verlor Harrys Hände irgendwo auf dem Weg zwischen hier und meinem Schreibtischstuhl. Dass ich den erreichte, schien wie ein kleines Wunder. Er federte nicht, als ich auf die Sitzfläche fiel. Er federte nichts von dem Gewicht all der fallenden Vorhänge meiner Realität ab. Harry war mir gefolgt, er fiel vor mir auf die Knie, zweimal war zweimal zu viel.
»Louis, du musst-«
»Nein.«, unterbrach ich seine aufgewühlte Stimme. Ich brauchte eine kurze Pause von seinen Regeln. All die Regeln, die er aufstellte, nur, um sie selbst zu brechen. Wenn sogar die Schwerkraft ihm gehorchte, dann konnte ich nur eine Leichtigkeit sein.
Ich schloss die Augen und Erleichterung flutete die Schwärze. Hier war ich. Hier musste ich sein. Kein Harry. Schwärze. Nichts. Unter meinen Oberschenkeln war die Sitzfläche des Stuhls, ich spürte sie, unter meinen Zehen das Linoleum. Schwarz der endlichen Unendlichkeit in meinem Kopf, schwarz und schwärzer, das Rauschen in meinen Ohren. Mein Herz schlug bis in die Dunkelheit hinter meinen Augen. Alles, was ich sah, war ich selbst und Nichts. Ich zwang einen Atem so langsam durch meine Nase, dass ich die Hände zu Fäusten ballen musste, bevor ich mir das Ausatmen erlaubte. Und nochmal. Fingernägel in meinen Handflächen. Und nochmal. Das Rauschen war leiser geworden, die Schwärze gewohnt. Ich öffnete die Augen und blinzelte.
Da war er wieder. Harry, auf seinen Knien, er war klein, und groß, riesige Augen, riesige Pupillen, Angst, das war ich. Meine Angst, seine? Ich forcierte einen weiteren Atem, dieses Mal über meine Lippen. Meine Brust wusste nicht viel mit der Luft anzufangen.
»Du bist ein Engel, Harry?«
Die Worte waren grotesk, abstrakt, irrsinnig, verräterisch. Aber ein Nein hätte keinen Platz mehr in meinem Verstand gefunden.
Harrys Schultern verloren die Spannung. Er schrumpfte um ein paar Zentimeter. »Ja.«, bestätigte er und es war Erleichterung. »Du glaubst mir?«
»Ich glaube- Ich glaube...«, freier Fall aus zehn Zentimetern Höhe, Harrys stete Hände. »Ja.«, seufzte ich.
Es schien unmöglich mit meinen Beinen im Weg, aber Harrys Kopf fiel bis auf seine Knie hinab. Eine absurde Körperhaltung, wie eine unfaire Yogapose, hatte ich Harrys Kopf je von oben gesehen? Seine Locken wie ein eigener Organismus. Wie ein unmögliches, perfektes Mosaik. Die Ränder meines Blickfeldes waren verdächtig weich, und ich verbannte das glühende Wissen.
Harry richtete sich wieder auf. Wenn er wollte, hätte er sein Kinn auf meine Knie legen können, es war abwegig genug, um ein Trost zu sein. Alles war abwegig. Was war da ein weiterer kleiner Fakt? Harry, ein Engel. Ein Engel.
»Louis«, durchbrach er seine eigene Stille und mir fiel wieder ein, wie er meinen Namen aussprach. Louis, wie eine Aufgabe, wie eine Bitte, wie von dem Inneren seiner Augenlider abgelesen. »Möchtest du dich hinlegen? Für dein Gehirn wäre es besser, wenn es tiefer als-«
»Nein, Harry.«, unterbrach ich kraftlos. Es war kein Vorwurf, ich war nicht wütend, nicht mal frustriert, nur...ich konnte mich jetzt nicht hinlegen. Und Harry sah nicht aus, als würde er nochmal versuchen, mich gegen meinen Willen in eine Zwangsschocklage zu bringen. Ich wusste, dass er nur helfen wollte. Hilfe. Schutz. Ich saugte die Farbe seiner Augen auf. »Du bist mein Schutzengel.«, sagte ich, um mich herauszufordern, und vielleicht sogar ein bisschen ihn.
»Ja.«, sagte er wieder, als wäre es nur eine Sache von Ja und Nein. Als wäre das Thema damit geklärt; ›Du bist ein Engel? Ja. Na gut, weiter im Text‹. »Wieso hast du es gesagt, wenn du es nicht wusstest?«
»Ich habe nicht-«, ich schnitt mir selbst das Wort ab, weil mir bewusst wurde, was er meinte. »Ich wusste es nicht.«, erklärte ich nur seufzend. Wie hätte ich es wissen können? Wie um alles in der Welt hätte ich jemals ernsthaft denken können: ›Moment, ist Harry womöglich kein Mensch?‹
Seine Erleichterung hielt an, aber er sah nicht weniger aufgewühlt aus. Die grünen Augen schienen das Zucken von jeder einzelner meiner Muskelfasern zu überwachen. »Aber wieso hast du es dann gesagt?«
Fast wollte so etwas wie ein Lachen in meinem Hals gurgeln, aber es war zu lebendig, um wirklich zu entstehen. »Ziemlich große Lücke im System, dass Engel nicht wissen, was es bedeutet, wenn Menschen jemanden als Engel bezeichnen, oder?« Sobald es ausgesprochen war, flutete mich die Naivität, die ich Harry hatte vorwerfen wollen. Was wusste ich schon von dem, was ich ein System nannte – von dem ich erst vor zwei Minuten erfahren hatte? Engel im Plural? Vielleicht war Harry der einzige Schutzengel der gesamten Menschheit? Was konnte ich mir schon anmaßen?
»Was bedeutet es, Louis?«, fragte er, und mit ein bisschen mehr Vertrauen in mich selbst hätte ich es vielleicht Ehrfurcht gennant.
»Ähm«, ich wusste, dass er nach Ordnung fragte, aber woher konnte ich sie nehmen? Das hier sollte eigentlich eine Leichtigkeit für mich sein, ein bisschen Semantik, Etymologie, vielleicht sogar Pragmatik. Aber mein Kopf tat sich schwer. »Es bedeutet...etwas Gutes. Ich habe es gesagt, weil du mir das Wasser gebracht hast. Ohne, dass ich darum gebeten habe, einfach so, aus Nettigkeit. Zu sagen, dass jemand ein Engel ist, heißt...ich weiß nicht. Dass jemand gut ist. Rücksichtsvoll. Selbstlos..? Ich weiß es nicht genau. Gut, denke ich.«
Er versuchte, den Gedanken zu verfolgen, nicht mit Leichtigkeit, offensichtlich, Harry war ein Engel? Ich versuchte, den Schock auf seinem Gesicht in meiner Erinnerung zu finden, als er das Glas hatte fallen lassen, als hätte ich es mit meinen Worten aus seinen Fingern geschossen. Das war also die einzig plausible Erklärung für die irrationale Situation; Harry war tief geschockt, ein Engel genannt zu werden, weil er wirklich einer war.
»Wie viele Menschen beschützt du, Harry?«, traute ich mich zu fragen, als er noch immer keine Reaktion auf meine mittelmäßige Erklärung gezeigt hatte. Allein die Frage war wahnwitzig, als würde ich aus einem fantastischen Kinderbuch vorlesen. Menschen, Schutzengel, was kam als nächstes? Die Möglichkeiten waren endlos.
»Einen.«, sagte Harry, und schien mich wieder zu sehen, nicht nur meine halb-leeren Worte. »Dich.«
Mich. Harry war mein Schutzengel, nur meiner. Ich hatte einen Schutzengel. »Oh.«
Plötzlich rappelte Harry sich auf die Füße. Es kam so unerwartet, dass ich mit meinem Rücken die Stuhllehne fand. »Ich habe ein Chaos angerichtet.«, verkündete er mit so viel Gewicht, zu viel Selbstverachtung.
Ich wollte protestieren, aber ich wusste nicht wie, oder wogegen. »Wieso?«, war alles, was ich dumm fragen konnte.
»Weil du es nicht wusstest, aber ich das nicht erkannt habe! Weil ich es dir trotzdem gesagt habe!« Er ging ein paar Schritte zurück, plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, wie gut ich vorhin die Splitter aufgesaugt hatte. »Ich muss zu Liam.«
Liam. »Ist Liam auch ein Engel?«
Skepsis brach Harrys verbitterten Ausdruck, er sah mich ungläubig an. »Natürlich. Was sonst?«
Gute Frage, nächste Frage. Ich war hier nicht mehr die Autorität. War ich es je gewesen? »Dein Mentor?«, wiederholte ich Harrys kryptische Erklärung.
»Ja.«, bestätigte er schnell – als gäbe es dazu keinen weiteren Klärungsbedarf. Und erst mit diesem trockenen Ja drang der nächste Schock ein. Fragen. Harry hatte mich inzwischen so gut darauf gedrillt, jede Frage an ihn in meinem Schädel zu verbrennen, bevor sie auch nur die Chance hatte, meine Zunge zu verlassen, dass ich jetzt mit einer einsilbigen Antwort von ihm den Verstand verlieren wollte. Ich hatte immer viele Fragen an Harry gehabt, von der ersten Minute an; aber erst jetzt war er bereit, sie zu hören.
»Deswegen hast du mir nichts gesagt?«, fragte ich mit einem Anflug von irrationaler Atemlosigkeit. »Deswegen durfte ich nicht fragen? Deswegen...du hast keine Wohnung, weil- Dein Leben ist nicht tragisch?«
Er musterte mein Gesicht, als wäre er es, der gerade schockierende neue Fakten über mich gelernt hätte. »Ich habe mich mit einigen Aussagen verkalkuliert. Mit der Wohnung hat deine schnelle Kommunikation mich korrumpiert.«
Meine schnelle Kommunikation? Korrumpiert? Ohne wirklich zu wissen, was Harry sagte, wollte ich mich dagegen verteidigen. Aber tonnenschwere Anspannung rollte von meinen Schultern, machte einer Erleichterung Platz, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie auf mich wartete. Harrys Leben war nicht so tragisch und unfair und hoffnungslos und benachteiligt, wie ich immer hatte annehmen müssen. Was auch immer es bedeute, dass er ein Engel war; es befreite ihn von dem untragbaren Leben, das es nie gegeben hatte. Richtig? Harry war frei.
Mein Mund hatte das surreale Bedürfnis, offen zu stehen. »Wieso hast du hier geschlafen?«, fragte ich ungläubig. Mit jeder Sekunde, in der ich mir erlaubte, zu denken, blühten neue Fragen auf. »Wieso hättest du- Oder warte. Wie wohnen Engel? Ist es normal, dass... Haben alle Menschen ihren Schutzengel bei sich zu Hause versteckt?!«
Hinter seinem skeptischen Gesicht gingen eine Menge Dinge vor sich, das wusste ich, ich konnte sie nur nicht entziffern. Immer noch nicht. Jetzt erst recht nicht mehr. »Nein!«, war die eindeutige Antwort. Er trat einen weiteren Schritt zurück. »Louis, ich darf jetzt nicht länger hierbleiben. Ich muss zurück in den Himmel.«
Der Himmel. Ich konnte den Blick nicht von seinen Lippen reißen, um es ihn nochmal sagen zu sehen. Der Himmel. Als wäre es ein realer Ort, an den er jetzt einfach so gehen würde. »In den Himmel.«, wiederholte ich zur Übung. Ich starrte länger, vielleicht würde er seine Fassade fallen lassen, aber nichts fiel. »Der Himmel existiert wirklich?!«
»Ja, wirklich.« Harry hob die Finger erneut an seine Schläfen. »Ich werde dich jetzt verlassen, Louis.«
»Nein, Harry, bitte! Warte.« Wie würde er mich verlassen? Hatte er Flügel, irgendwo? Oder würde sich der Himmel mit einem Kegel goldenen Lichtes für ihn öffnen?
»Dein Blut ist wieder zentral. Ich sollte nicht länger hierbleiben. Du weißt nicht, was los war, als ich hergekommen bin.« Harrys Arm senkte sich nicht. Ich wusste, dass ich die Geste nicht zum ersten Mal sah, nicht zum zweiten Mal und auch nicht zum dritten Mal. Ich wollte fragen, aber mehr als das wollte ich ihn davon überzeugen, hierzubleiben. Er konnte jetzt nicht gehen. Er konnte mich nicht fliegen lassen und dann schnellstmöglich fliehen. Allem Anschein nach war Harry mein Schutzengel, was bedeutete, dass er mich definitiv davor schützen sollte, komplett durchzudrehen. Dabei würde es garantiert nicht helfen, mich jetzt alleine zu lassen.
Ich wollte es ihm sagen. Aber war das zu unverschämt? Gab es ein Basislevel an Respekt, das man seinem Schutzengel entgegenbringen sollte?
»Bitte bleib.«, bat ich mit den wichtigsten Worten. »Ich bin nicht... Ich weiß, du machst das hier wahrscheinlich jeden Tag, aber für mich ist das gerade alles ziemlich...viel. Es ist- Ich weiß nicht, was ich denken soll. Und wenn du jetzt gehst... Bitte bleib hier, Harry.« Ich stand auf, ohne zu wissen, wieso.
Und sein Arm fiel doch. Er zögerte. Mit unschlüssigen Schultern musterte er die Luft, die mich umgab. Er war ein Engel. En-gel. Engel. Das hier passierte und es war kein Traum. Oder? Harry musste bleiben. Wenn nicht, könnte ich nicht mehr wissen, ob mein Verstand mir nicht doch einfach nur einen berechenbaren, schrecklichen Streich gespielt hatte. Die Person, die ich wahnsinnig attraktiv fand, stellte sich als ein wunderschönes, ätherisches Wesen heraus, gebunden an mich und mich alleine? Was für ein Zufall. Es war, wie wieder 13 Jahre alt zu sein.
Harrys Füße machten zwei Schritte zu mir und ich wäre vor Erleichterung vielleicht fast geplatzt. »Ich bleibe, bis dein Herz sich beruhigt hat.«
Vor Freude zu weinen, lag meiner Reaktion sicherlich nicht allzu fern. Meine Brust hob sich wie mit Helium infusioniert. Ich wollte springen und schreien und meine Gelenke die Aufregung spüren lassen, die meinen Kopf und meine Muskeln überschwemmte. Falls Harry gehofft hatte, meinen Puls mit seiner Zusage zu beruhigen, hatte er sich geirrt.
»Danke!« Meine Hände zu Fäusten, meine Fersen auf dem Boden. »Danke.«, wiederholte ich mit mehr Beherrschung und wenig Überzeugung, dass es klappte. »Harry, ich... Ich weiß nicht, was... Ich glaube, ich bin einfach überfordert. Können wir vielleicht reden? Ich denke, ich habe eine Menge Fragen.«
Wohin Harrys Aufregung verschwunden war, wusste ich nicht. Vielleicht war das Schutzengelmodus; Ruhe ausstrahlen, wenn ich mich mehr nach dem Eintritt als dem Verhindern eines Nervenzusammenbruchs sehnte. Harry sank wieder auf die Knie. Vielleicht wollte ich, dass mein Herz sich nie wieder beruhigte. Er sah auf, mit den unmöglichen Augen. »Stell deine Fragen, Louis.«
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