𝐗𝐈𝐗
☽ ⋆ 𝐇 ⋆ ☾
Louis war für mich nicht undeutlich gewesen, aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – hatte er überraschend lange gebraucht, um mich zu erreichen. Ich hätte es mir einfach machen können, wie immer, unserem Band folgen und bei ihm sein. Ich war präziser damit geworden. Es würde mir ziemlich sicher in einem 20-Meter-Umkreis seines schlagenden Herzens gelingen, wenn ich mich wirklich konzentrierte.
Aber wo war da die Menschlichkeit?
Ein Kunststudent mit einer wahren, verwirrenden Endung im Namen wäre nicht ein paar Meter von Louis entfernt aus dreckiger Luft materialisiert. Menschen wussten nicht, was sie nie gewusst hatten. Der Harry, der ich für Louis sein sollte, hätte nicht gewusst, dass Louis sich in einer knochenzerschmetternden Geschwindigkeit durch die New George Street bewegt hatte. Er hätte auf sein existentes Wissen gebaut, und das war die Lokalisation von Louis' Wohnung. Mein Schulterblatt zuckte unter dem Gewicht von Louis' Rucksack. Ich wollte den Gedanken nicht formen, ich wollte ihm die Wahrheit sagen, ich wollte sein Leben schützen, ich wollte niemanden im Stich lassen. Seine springenden Rückenschmerzen.
Ich stand auf, der hilfsbereit ausgestreckten Hand ausweichend. Kurz streiften seine Fingerspitzen meinen Handrücken trotzdem, weil auch er sie nicht schnell genug wegziehen konnte. Louis war müder, als ich in Betracht gezogen hatte. Irgendwo unter seiner Haut schmeckte ich all das Blut, blau unter den feinen Wimpern. Louis wollte hoch aufs Dach? Ich könnte ihm helfen.
»Du brauchst Schlaf.«, erklärte ich sanft. Meine Hand pulsierte. »Und Wasser.«
Wieso, wusste ich nicht, aber Louis lachte, nachdem seine Augen sich verengt hatten. »Es ist so offensichtlich? Ich sollte nicht überrascht sein.« Der Rucksack rutschte von einer seiner Schultern, Louis' Hand glitt hinein. »Harry...was machst du hier?«
»Ich stehe hier.« Mit einem Finger deutete ich in Richtung meiner Füße und hoffte, dass Louis nicht zu genau hinsah. »Und rede mit dir.«
Ein kleiner Spatz, Louis' Mundwinkel zuckte, mimische Muskulatur. »Ja. Das war nicht-«An seinen Fingerkuppen hing ein Schlüssel, den er aus der Tasche hinauszog. »Ich wollte fragen, wieso du hier bist. Wieso du hergekommen bist.«
Die Wahrheit war himmelweit, ›Ich bin dein Schutzengel‹, ›Du wohnst hier‹, ›Dein Herz schlägt neben meinem‹, ›In spätestens einhundert Jahren habe ich meine Chance verpasst‹, ›Die Materialisierung hat funktioniert‹, aber ich entschied mich für die einfachste Option. »Ich wollte dich sehen.«
Ich hatte ihn sehen wollen. Nicht nur sehen, ich hatte gesehen werden wollen. Wenn Louis' Zunge gegen seinen Gaumen schlug und er wusste, dass die Schallwellen mich erreichten, wichen seine Pupillen nicht der Weite. Was war schöner, als die reflektierten Farben in Louis' Gehirn zu sein?
Es war immer meine Aufgabe gewesen, menschliche Erinnerungen zu erhalten, aber was sprach dagegen, sie zu erschaffen?
Der Schlüssel war wer, natürlich. Louis kannte die Bedeutung von Worten.
Auch wenn ich das Gegenteil glauben könnte, den schlammigen Bewegungen seiner Augenbrauen nach zu urteilen. »Du...«, setzte er an, »was?«
»Ich wollte dich sehen.«, wiederholte ich hilfsbereit. »Ich rede gerne mit dir und ich mag es, zu wissen, wer du bist, Louis. Du wohnst hier, deswegen bin ich hergekommen.«
Seine Fingerkuppen zuckten, er war wirklich müde. Das wäre mein drängendstes Kommando, ihn sofort zu verlassen. Aber würde er hier auf der Stelle einschlafen? Die Wahrscheinlichkeit war gering.
»Ähm«, Blut in seinen Augenlidern, »Wie lange bist du schon hier?«
»Nicht lange.« 15 Minuten, 2 Sekunden, Tick Tack. Ich war hier gewesen, Louis nicht. 53°29'06.8"N 2°14'09.4"W. Natürlich würde Parallelmaterialismus auf der Erde nicht funktionieren.
»Gut.« Louis' ganzes Gewicht schlief in seinem linken Fuß, eine weiche Bewegung; rechts. »Weil ich den ganzen Tag nicht da war und...ja, nicht, dass du jetzt irgendwie länger hier gewartet hättest.«
»Wo warst du, Louis?«
Er nutzte seine Augen, nicht seine Zunge. Wieso waren es so häufig die einfachsten Fragen, die Louis am meisten Zeit kosteten? Als würde er das Gewicht der mikroskopisch kleinen Tropfen und erschlagenden Schwerkraft herausfordern, wenn ich mich richtig benahm. Ich konnte keine Spitze erreichen, ich konnte nur gut genug sein. Aber wieso litt die Anzahl von Louis' verbleibenden Atemzügen darunter?
»Leeds.«, verkündete er schließlich.
Leeds. Nicht Doncaster, nicht Manchester, nicht Cornwall. England? »Ist das noch ein Ort, den ich sehen sollte?«
»Was?«
»Wie Cornwall!«, erinnerte ich ihn. »Du hast gesagt, ich sollte hinreisen. Ich bin hingereist. Sollte ich Leeds sehen? Hat es die gleichen Klippen? All das Wasser im Meer?« Es war so menschlich, Fragen zu stellen, deren Antworten mit einer einfachsten Berührung in meinem Bewusstsein aufleuchten konnten. Das Vibrieren seiner Stimmlippen war unzuverlässiger, langsamer und vergänglicher. Aber es klang hübsch.
»Leeds?«, fragte Louis, als hätte er den Namen nicht als erstes ausgesprochen. »Kein Meer, nein.«
»Klippen?«
»Nein.« Die Kuppen seiner Finger fuhren über die trockenen Knöchel seines Handrückens, eine Bergkette. Abduktion, nur ein Tick zu weit; ein Fluss aus Blut hätte seine Quelle in der Hügellandschaft gefunden. Louis sah auf, Augäpfel rot an den Illusionen eines Randes. Müdigkeit, ich musste gehen. »Harry. Wo kommst du her?«
Nicht von der Erde? Nein. Die Menschen fühlten sich wohl als Bewohnende ihres Planeten, allein in den zehntausenden Lichtjahren ihrer Galaxie. Berge, Hügel, Klippen; Leeds? »Leeds..?«
»Leeds?« Ein breiter Riemen Stoff rutschte von Louis' Schulter, eine kleine Lawine. »Du bist aus Leeds?«
Nein. Nein nein nein nein nein. »Ja« – klang es mehr wie eine Lüge oder eine Frage?
»Aber wieso hast du dann gerade...« Mit einem dumpfen Laut landete Louis' Rucksack auf den hellen Steinen unter seinen Füßen. »Ich verstehe gar nichts mehr. Kommst du wirklich aus Leeds? Oder habe ich gerade irgendwas falsch verstanden?«
Wie machte Liam es? »Du hast nichts falsch verstanden. Und die andere Frage hast du eben schon gefragt; die Antwort hat sich nicht geändert.« Ich würde die Lüge nicht wiederholen müssen. Leeds. Ich würde es besuchen, mir bleib keine andere Wahl. Louis erwartete sicher, dass ich Dinge über den Ort wusste, aus dem ich stammte. Wie viel? Hatte Leeds eine sehr alte Chronik?
»Hm, okay.« Den Schlüssel zwischen Louis' Fingern hatte ich fast wieder vergessen gehabt. Blei, Kupfer, Nickel, Zink; Strudel in meiner Nasenschleimhaut. »Dann sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt aufgewachsen.« Er lächelte. In allem gespeicherten Glück zerfiel sein Lächeln, entfacht durch eine Lüge. Haut-und-Haar-Louis gab seines nicht auf. Er blinzelte mit einem Auge, als wäre es effektive Benetzung. »Nachbarn sogar!«
»Nachbarn?«: Menschen, die nebeneinander wohnten. Louis und seine Fehleinschätzungen. »Wir waren keine Nachbarn.«
»County-Nachbarn, meinte ich. Hättest du das gedacht?« Die schlüsselfreie Handfläche öffnete sich für das künstliche, gelbe Licht einer Straßenlaterne. »Die Welt ist klein. England. Und...ich nehme den Satz zurück. Ich bin nicht fünfzig. Die Welt ist gigantisch. Ah. Auch kein gutes Wort. Ich bin auch nicht zwölf. Nicht, dass eines dieser Alter weniger wert wäre als...meines..? Ich will einfach nicht- wozu studiere ich Worte einer Sprache, nur um sie dann zu verurteilen und in Schubladen zu stecken? Aber gleichzeitig ist es genau das, oder? Ich lerne, sie einzuschätzen und...« Seine Augen waren riesig, ›gigantisch‹, nicht wie die Erde, ›die Welt‹, Louis' Vorstellung eines Planeten. Er starrte mich an, die Lippen leicht geöffnet. »Tut mir leid.«, stammelte er dann. »Ich bin ein egozentrischer Idiot. Manchmal. Häufiger wahrscheinlich. Zu häufig. Stopp. Tut mir leid. Fall mir bitte einfach ins Wort, wenn ich zu viel rede, Harry.«
»Dafür hast du genug getrunken.«, versicherte ich schnell beruhigend, damit sein Gesicht sich wieder entspannen konnte. Es funktionierte nicht.
»Was?«
Louis war derjenige, der verstehen sollte, wenn ich ihm antwortete. Wieso konnte er sich nicht an sein Wesen halten? Ich war benachteiligt, ich gab mein Bestes. Louis hörte mir einfach nicht aufmerksam genug zu. »Du brauchst Wasser.«, erklärte ich langsam und deutlich. »Wie ich vorhin gesagt habe. Aber du hast genug getrunken, um nicht so schnell zu viel zu reden. Das könnest du noch lange tun.«
Und wieder gab Louis mir nichts als den Blick seiner blauen Augen. Skepsis, Überraschung, Zweifel, Ende. Löcher in seiner Wahrnehmung in meinen Worten in seiner Konzentrationsfähigkeit. Ich gab ihm die Zeit.
»Harry.«, seufzte er schließlich kraftlos. »Ich glaube, ich bin durch heute. Also im Kopf. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich will nicht... Ich will dich nicht vertreiben, aber ich glaube, ich brauche jetzt ein bisschen Ruhe. Um runterzukommen. Tut mir leid, wenn das unhöflich ist. Es war ein anstrengender Tag.«
»Du willst in deine Wohnung hochgehen?«, versuchte ich Versicherung für seine nicht vollkommen deutlichen Worte zu finden. Phonation ja; Artikulation wofür?
»Ja. Ich bin müde, tut mir leid.«
Er war müde. Louis sollte nicht nur in seine Wohnung hochgehen; auch ich sollte diesen Planeten verlassen. »Wieso tut es dir leid?«, erkundigte ich mich leise, um seine Müdigkeitsblase nicht platzen zu lassen. Luft, oops, weg.
»Hm? Oh«, Er blinzelte und sah kurz seine Nasenspitze an, dann wieder mich. Ich erinnerte mich an mein eigenes Blinzeln. Sein Herzschlag hatte es nicht bemerkt. »Ja, keine Ahnung, nur so, ich...du bist hergekommen und jetzt schicke ich dich einfach so weg und- wieso bist du hergekommen, Harry? Habe ich das schon gefragt?«
Manchmal, häufig, war er einfach nur ein Rätsel. »Du hast schon gefragt. Ich bin gekommen, weil ich dich sehen wollte!«, erinnerte ich ihn. Gedächtnis wie ein Spinnennetz.
Louis' Lider senkten sich langsam, sanftes Heben. Ich atmete tief ein, als hätte es Louis' Effekt. Ich musste durchhalten. »Ja.«, sagte Louis. »Ja, das hast du gesagt. Das ist...ja. Es tut mir auf jeden Fall leid, aber ich denke, ich muss mich jetzt verabschieden.«
Ich wollte ihn nochmal fragen, wieso es ihm leid tat, aber ich hatte kein optimistisches Gefühl mit einer Antwort. Außerdem musste auch ich mich verabschieden. »Auf Wiedersehen, Louis.«, verkündete ich also.
»Tschüss, Harry.« Mittlerweile hatte ich das Gefühl, im Pool des Wissens dichter am Verständnis für Spitznamen zu sein. »Komm gut nach Hause.«
»Das werde ich. Jetzt gleich.«, lächelte ich, und es war warm. »Bis bald, Louis.«
Er stand bereits vor der schmalen Tür, Schlüssel bereit zum Einsatz. Klimpernd hob er die Schlüsselhand und zog scharfe Schneisen durch die Luft. »Bis bald, Harry. Bestimmt wirklich bald.«
Ich gab ihm mein bestes Nicken. »Ich bin mir sicher.«
Metall gegen Metall, klick klick klick, die Tür schwang auf. Louis' Füße trugen ihn in den dunklen Flur und mein Hals verriet mir, dass das Lächeln auf seinen Lippen keinen Worten mehr Platz machen würde. Also lächelte auch ich, und drehte mich um, als könnte ich nur mit meinen Augen sehen. Die Tür fiel zu. Meine, seine, meine Schultern entspannten sich. Ich vergaß, die trivialen Grenzen zu ziehen.
Ein Sturm im Zwischenhirn. Die Straße war nicht menschenleer. Wo konnte mich keiner von ihnen sehen? Ich gab mir vier Sekunden und hatte eine Hausecke umrundet. Meine Augen fanden weder Haut noch Wärme; kein Mensch in Sicht.
Louis' linkes Knie brannte wie seine Augen, aber es war längst Zeit, ihn auszublenden. Ich klammerte mich an meine Mitte, warm wie Gold und sicher wie ein Kompass. Der Himmel unter meinen Fingerspitzen. Augen zu; unter meinen Füßen. Meine Atome entflohen.
✩
»Es ist 4:19 Uhr in England.« Liams Blick war alles, was ich am besten kannte, und er implizierte. »Schläft Louis?«
Ein langsames Herz pochte in einer fernen Brust. »Ja.«
»Wieso willst du dann zurück?« Seine Finger schickten den sanften Puls in die uns umgebende Atmosphäre. Er sah ihn mir an. »Wenn er schläft.«
Es war eine komplizierte Frage, oder eher; eine komplizierte Antwort. Aber mit denen übte ich mich in der gehäuften Präsenz des unbegreiflichen Chaos von Louis' Verstand.
Louis schlief. Es war mitten in der Nacht auf seinem Fleckchen Erde, und wenn ich den Deltawellen seinen Gehirns glauben schenkte, würde er so schnell auch nicht wieder aufwachen. Gut so, er brauchte den Schlaf.
Ich würde mich nicht mit ihm unterhalten können, selbst wenn er im Schlaf redete – das war keine bewusste Kommunikation. Auch Liam war das klar. Ich hatte auf die Erde zurückkehren wollen, zu einem stillen Louis, der mir keine Interaktion bieten konnte.
»Du solltest ihn nicht im Schlaf besuchen.«, schob Liam hinterher, weil er vielleicht nicht mehr wusste, ob ich antworten würde.
Aber die Antwort kristallisierte sich in diesem Moment in meinem Bewusstsein. »Ich bin neugierig.«, gestand ich.
»Neugier.«, seufzte er und schloss die Augen. Nicht zum Blinzeln – Liam blinzelte nicht – sondern um klarer zu sehen, was mit offenen Augen verschwamm. »Neugier ist zu abstrakt. Neugierig worauf? Seinen Körper zu sehen, wenn selbst seine Augenmuskeln gelähmt sind? Du solltest nicht gehen. Er ist jung und nicht in Gefahr.« Und da waren sie wieder. Leberbraune Augen, deren Pupillen dem Licht nicht gebieten mussten. Er wollte nur das Beste für alle.
Ich musste trotzdem widersprechen. »Ich könnte es schaffen, Liam!«
»Das weiß ich, daran glaube ich. Aber du bist noch nicht mal 122 Jahre alt. Du musst und solltest nichts riskieren.«
»Ich lerne durch Versuche! Nur durch Herausforderungen. Ich muss nicht nach Manchester.« Ein dummer Vorschlag. Ich hatte Louis sehen wollen. »Aber lass mich auf die Insel! Oder womöglich nicht. Europa? Meinetwegen Australien. Ich möchte nur auf die Erde, während Louis schläft.«
»Hara, deine Augen sind trüb. Du kannst nicht gehen. Du solltest ruhen, hier.« Immer seine Geduld; er war so sanft. Keine Feder zitterte.
»Ruhen? Ich dachte, ich soll von Louis fernbleiben, um nicht zu ruhen?«, Widersprach er sich selbst, um die Schlupflöcher zu nutzen? Oder realisierte er nicht, dass er Einheit verloren hatte?
»Nein. Du sollst ruhen, hier.«, wiederholte er. »Nicht mit Louis fallen. Nicht die Art von Ruhen.«
Meine trüben Augen wussten, dass er recht haben musste. Aber auch sie könnten mir helfen. Womöglich ein paar Minuten, ein paar Stunden an Louis' Seite. Unsichtbar, kein Blinzeln, kein Atmen. Ich könnte mich ganz bewusst darauf konzentrieren, was Louis meinem Körper entziehen wollte.
Liam spürte, was ich dachte. Seine Lippen waren ernst. »Ich denke, du solltest nicht gehen.«
Ich unterdrückte ein Seufzen, das aus Louis' Kehle gestiegen wäre, und gab mich geschlagen. »Na gut. Ich werde bleiben.«
Liam neigte den Kopf. »Für ein paar Jahre, Hara. Du solltest-«
»Nein.« Eilig sah ich zum Saum meines Gewandes hinab. Ich hatte seinen Blick nicht mehr verdient, wenn ich ihn unterbrochen hatte. »Bitte entschuldige meine Zunge, Liam.« Ich bewies nur seinen Punkt. »Aber ich kann nicht so lange untätig sein.«
»Du wärst nicht untätig. Es gibt so viel zu tun. Hara, du solltest für ein paar Jahre bleiben. Ihn für ein paar Jahre nicht sehen.«, sagte er wieder, tief, warm, wahr.
Er wiederholte; dann würde ich das auch tun. Bittend hob ich zwei Finger. »Das kann ich nicht.«
»Wenn du es nicht kannst, solltest du es erst recht tun.«
»Nein, das meinte ich nicht. Nicht körperlich. Oder wie auch immer. Ich kann, aber ich möchte nicht. Es zieht mich zur Erde.« Ich trat Liam nah genug, um ihm leicht auf die Brust zu tippen. Er würde verstehen, und verstand.
»Ich weiß. Und es tut mir unsagbar leid, dir verwehren zu müssen, wonach du dich sehnst.« Er blinzelte das Gold in meinem Haar an. Wir waren uns beide bewusst, dass er mir nichts verwehren konnte. Er hatte klug formuliert, trotzdem musste seine Zunge in Flammen stehen. »Aber deine Gedanken können den Einfluss erkennen, nicht wahr? Du sagst Dinge, die du nicht wörtlich meinst.«
Er hatte recht. Es gab keine Rechtfertigung. Ich hätte ihm garantieren können, dass ich in Zukunft besser auf meinen Verstand Acht geben würde. Aber ich wollte es nicht.
Jetzt war Liam es, der meine Haut streifte. »Er hat dich berührt.«, hauchte er so leise, als würde das gesamte Universum uns belauschen.
»Es war ein Versehen.«, seufzte ich energieärmer. Ich war eben doch noch kein meisterhafter Bändiger des Schlafes.
»Hara, das sind alles zu große Risiken.«
Seine Weisheit war meine Sackgasse. Er würde immer recht behalten, immer eine vernünftige Grenze meiner Sehnsüchte. Mit Logik brauchte ich es nicht zu versuchen. »Liam«, probierte ich es also anders, und klang schwach, »wie war es bei dir mit Symeon? Wolltest du ihn nicht sehen?«
»Natürlich wollte ich ihn sehen. Aber lange konnten seine Sinne mich nicht wahrnehmen. Ich war trotzdem regelmäßig bei ihm. Ich verstehe deine Neugier. Aber es ist nicht dieselbe Art von Risiko in deinem Fall. Kein Gewicht, außer das eines einzigen Bewusstseins, hat auf meinen Schultern geruht.«
Ich lächelte, weil er versuchte, mir mit der Sprache entgegenzukommen. Alles andere hätte mich nicht zum Lächeln bringen können. »Louis glaubt, ich wäre ein Student an seiner Universität.«, erklärte ich weiter. »Es wäre seltsam, wenn ich einfach verschwinde. Und nicht mehr durch sein Leben laufe.«
»Im Laufe eines Menschenlebens passieren zahllose seltsame Dinge.«, widersprach Liam langsam. »Du wirst hier gebraucht.«
»Ich bin hier. Ich werde hier sein, wenn ich gebraucht werde. Aber ich möchte auch auf der Erde sein.« Mit den Handflächen formte ich das imperfekte Ellipsoid des Planeten.
»Jedes Mal, wenn du dort bist, bleibst du länger.« Er ließ seine linke Hand über meinen hohlen schweben, eine Atmosphäre. »Du wirst stärker.«
»Liam«, ich zog meine Hände zurück. »Du musst nicht jeden meiner Ausflüge überwachen.«
Seine Mundwinkel wurden härter. »Ich überwache dich nicht. Wir wissen alle, wenn du nicht hier bist.«
Ich verschränkte die Arme vor dem Körper, die Überraschung in Liams Augen spiegelte meine eigene. Da war Louis; aus meinem Gedächtnis direkt in meine Muskeln. »Ich gebe mir Mühe, ein guter Schutzengel zu sein! Ich möchte Louis schützen und die Erde akzeptiert mich dafür.«
Liam seufzte. »Auch das weiß ich. Du bist ein guter Schutzengel, du nimmst deine Aufgaben ernst. Aber du bist nicht einfach nur ein Schutzengel. Louis benötigt dich akut. Wir brauchen dich mehr als das.«
Das Gespräch fühlte sich kontraproduktiv an. Liam hatte recht und ich meine Sehnsüchte. Es gab nicht wirklich eine dritte Wahrheit neben diesen beiden, und damit keinen Punkt, den unsere Worte erreichen konnten. Ob Liam über Ausgänge nachgedacht hatte? Oder gab es für ihn nur die Appelle an die Logik und das Pflichtbewusstsein hinter meinen Augenhöhlen? Eigentlich kannte ich ihn besser.
»Ich bleibe heute hier, Liam. Wir können mir den Schlaf abtrainieren und meine Anwesenheit nutzen.«, räumte ich ihm gefasst ein. »Aber ich werde nicht bleiben, bis Louis vergessen hat, wer ich bin. Ich weiß; du hast mich lieber hier, und das ist wichtig. Aber ich kann ab und zu einige Stunden auf der Erde verbringen. Wenn ich das überhaupt schaffen würde. Es werden Zeiten kommen, in denen ich es können muss. Und jede Minute, die ich nicht dort bin, bin ich hier. Es ist kein so großes Risiko, wie du es andeutest.«
»Du hast ihn berührt.«, seufzte er wieder, dieses Mal ohne Stimme, alles in den Wirbeln seiner Gedanken.
»Ich werde aufpassen.«, versicherte ich, vokal. »Liam? Ich werde aufpassen.«
Er wollte eine Menge Dinge tun, aber für mich bewegte er seinen Kopf. Kinn gesenkt, Nasenspitze runter; hoch. Ein Nicken für mich und Louis. »Bitte erstatte mir Bericht, Hara.«
»Das werde ich.« Liam war der beste Mentor, aber in diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob es vielleicht besser gewesen wäre, gäbe es nicht diese Verantwortung zwischen uns. Aber das war eine hypothetische Frage, deren Antwort niemals wahr sein würde. Meine Lippen lächelten. »Womit wollen wir beginnen, Liam? Was gibt es zu tun?«
Natürlich wusste ich, was es zu tun gab, aber Liams Flügel breiteten sich ein paar Zentimeter in die Breite aus. Dann lächelte auch er. Bedächtig streckte er einen Arm aus; alle Finger bis auf Mittel- und Ringfinger sanft gebeugt. Ich trat seinem Angebot entgegen. Er redete entspannter als zuvor. »Begleitest du mich?«, fragte er, die Antwort so gut wie ich kennend.
Ich konnte sie mir sparen. Stattdessen versicherte ich es mit meinem Lächeln und kopierte seine Armbewegung. Finger an den Schläfen führte er mich zur Wärme.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro