𝐗𝐈𝐈𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Ausnahmsweise sollte ich mal Recht behalten. Dienstag, und es war besser. Mittwoch, und ich konnte mit Zayn darüber lachen, dass ich verzweifelt genug gewesen war, um Danny aus dem Nichts anzurufen, nur aus der bloßen Hoffnung heraus, dass er mir Kontakt zu dem einzigen Jungen verschaffen konnte, den ich schlecht genug kannte, um ihn nicht schon in einer Freundes- oder Unsympathischen-Rolle eingeordnet zu haben, aber gut genug, um mich mit Schlafentzug und Kopfschmerzen nach einer Vorstellung von ihm zu sehnen, die die Wimpern meiner geschlossenen Augen küssen würde, wenn ich ihn darum bat.
Am Donnerstagmorgen fühlte ich mich fast gut. Mittwoch war normalerweise der kürzeste Tag meiner Woche und ich hatte die ruhige Zeit im Bus genutzt, um mich wirklich mal ein bisschen zu entspannen. Es war gut gewesen, meine Mum zu sehen. Sie war ein Ruhepol, Leeds ein winziger Ort, an dem die Welt stillzustehen schien. Mal auf gute, mal auf schlechte Weise. Gestern die gute. Ich hatte ein bisschen von all den Dingen erzählt, die ich fürs Studium machen musste, wie Mum es so gerne hörte. Sie hatte mir von dem kleinen Buchfinken erzählt, der jeden Tag ihr Fensterbrett besuchte, mit seinem Gesang so laut, dass es schien, als müsste er die kleine, rostrote Brust sprengen. Am Wochenende, wenn ich das nächste Mal zu Besuch fahren würde, wollte Zayn mitkommen. Darauf freute ich mich.
Sogar die Erwartung des langen Tages heute konnte mich nicht wirklich herunterziehen. Donnerstag war der längste Tag meiner Woche, aber es war auch der, an dem ich die meisten Kurse mit Zayn teilte, was definitiv eine Linderung der Anstrengung war. Außerdem war es die dritte Woche, was sowieso alles okay machte. Die erste Woche nach dem Sommer war der einfache Einstieg, die zweite ein Schlag ins Gesicht, in der dritten erinnerte man sich, wie das Unileben funktionierte. So war es immer.
Es gab nur eine Sache, die mich ein wenig herunterzog. Nichts, das ich zugeben würde, nichts, das ich aussprechen würde. Aber Harry war mir auch gestern und vorgestern nicht begegnet. Ich mochte mich nicht mehr wie ein Nahtoter nach einer zarten Berührung weicher Hände verzehren, aber der Wunsch, Harry wiederzusehen, hatte sich nicht einfach in Luft aufgelöst. Ich wollte es nicht definieren, weil ich das Gefühl hatte, meine Sehnsucht vom Montag hatte das Schicksal genug manipuliert, um ihn von mir fernzuhalten. Also redete ich mir selbst ein, dass ich ihn sehen wollte, um ihn zu sehen. Und um das unverwirklichte Versprechen eines ehrlichen Kennenlernens einzuhalten.
Das Bild seines Gesichtes verschwamm langsam vor meinem inneren Auge, wie eine Tintenzeichnung benetzt mit Wasser. Die drei Begegnungen mit ihm, an drei aufeinanderfolgenden Tagen, wirkten wie ein Traum. War ein Junge mit sanften Locken, tiefen Grübchen und unerwarteten Fragen nicht genau die Art von Person, die ich mir einbilden würde, wenn ich könnte? Es wäre wirklich Brillanz meines Unterbewusstseins; Harry Harry im weißen Spitzenkleid, mir den Mund zuhaltend, wenn ich Redewendungen benutzte.
Doch er war mir nicht über den Weg gelaufen und vielleicht war das mit jedem verstreichenden Tag auch besser so. Mein Verstand tanzte mit einer Version von ihm, die ich bewusst, unbewusst mit jeder Stunde mehr verzerrte. Ich hatte Harry nicht verstanden, als er vor mir gestanden hatte. Wie sollte ich es jetzt tun?
Aber das spielte keine Rolle. ›Angels in America‹ lag vor mir auf dem Tisch und rollte aus den Mündern der Studenten um denselben. Zayn redete schon seit fast zehn Minuten darüber, wieso er unser Projekt in Bezug auf den Kulturkrieg thematisieren wollte, aber ich war mir sicher, dass sowohl sein als auch mein Vorschlag längst verloren hatten. Seit fast einer Stunde versuchte unsere Gruppe, sich auf ein Projektthema zu einigen.
›Angels in America und die Wirkung und Herkunft der Titelwahl – »Perestroika« in Betrachtung der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts‹ war abgewählt worden. Zu lang. Und außerdem zu sehr auf den zweiten Teil zugeschnitten.
›Angels in America in Bezug auf das Leben Tony Kushners‹, mein Vorschlag; auch abgewählt. Zu einfach. Zu sehr Literaturstudent.
›Angels in America und die Symbolik und Darstellung von Beerdigungen‹ war mein persönlicher Favorit, wenn es schon nicht mein eigener Vorschlag werden konnte. Aber Tod war ein zu kritisches Thema, mit dem ein Professor zu einfach beleidigt werden konnte. Also würde auch das vermutlich zu viele Gegenstimmen erhalten.
›Angels in America und die Auswirkungen des Werkes auf den Kulturkrieg‹, Zayns Vorschlag; so sicher abgewählt wie meiner. Zu offensichtlich. Zu sehr Geschichtsstundent. Außerdem war es ein Werk aus den Neunzigern. Es war nicht kraftvoll genug als alleiniges Projektthema.
›Angels in America und die Symbolik des »Buches des Lebens«; Menschlichkeit und Verderben‹ war ziemlich sicher das Thema, auf das wir uns einigen würden, sobald Zayn sich endlich geschlagen geben würde und akzeptierte, dass außer ihm keiner von uns über Act Up in spät-historischem Kontext reden wollte.
So kam es auch. Ich setzte meine zwei Stimmen für meinen und den Beerdigungsvorschlag ein, Zayn war der einzige, der seine Hand für den Kulturkrieg hob – seine zweite Stimme galt ›Perestroika‹, aus Protest. Die klare Mehrheit entschied sich für den letzten Vorschlag, was vermutlich das beste war. Auch wenn Zayn mir einen bösen Blick zuwarf, als ich nicht für seinen stimmte. Sogar im Literaturstudium war es schwer, schwul zu sein.
Auch als der Kurs vorbei war, schien Zayn mir noch nicht verziehen zu haben. Mit verkrampftem Gesicht marschierte er neben mir her, als wir uns auf den Weg zu unserem nächsten gemeinsamen Kurs machten.
Ich versuchte, ihn dazu zu bringen, mit mir die Fahrt nach Leeds zu planen – auch wenn das eigentlich keine Planung erforderte –, aber seine Lippen blieben beleidigt aufeinander gepresst. Also hatte ich irgendwann keine andere Wahl mehr, als meine Arme empört in die Luft zu werfen.
»Zayn! Wir wissen beide, dass du nicht wirklich böse auf mich bist. Also hör schon auf damit!« Ich boxte ihn auffordernd und zu weich in den Oberarm.
Er zuckte mit den Schultern. »Na und? Ich kann so tun, als wäre ich es. Dann ist es fast das gleiche.«
»Ich bringe niemanden um damit, dass ich nicht den Kulturkrieg auseinanderpflücken will!«
»Eine Menge Menschen sind gestorben, Louis.«, erklärte Zayn bitter.
Ich seufzte lauter als gewollt. »Die Toten sind schon tot, Z. Du musst akzeptieren, dass wir nicht dein Thema wollten. Außerdem wird noch mindestens eine der anderen Gruppen darüber reden. Das hätte für uns Minuspunkte gegeben.«
»Vielleicht sollte ich dann lieber die Gruppe wechseln.«
Kraftlos rollte ich mit den Augen. »Du bist der sturste Mensch, den ich kenne.«
Zayn lachte leise. »Hast du schon mal in den Spiegel gesehen, Lou?«
»Ich hasse Spiegel.« Wir bogen in einen volleren Gang zu unserer Linken ein.
»Das geht jedem so.«, versicherte Zayn mit Mitgefühl, von dem ich nicht wusste, wie ehrlich es war. »Spiegel sind nur Werkzeug der Gesellschaft, damit wir uns niemals gut fühlen können.«
Ich runzelte die Stirn. »Ach ja? Solltest du mir nicht sagen, dass ein Spiegel dazu da ist, dass ich lernen kann, meinen eigenen Körper zu lieben? Oder so? Dass Spiegel eigentlich die Freunde, nicht die Feinde sind?«
»Ha, Louis, nein!« Er grinste mich von der Seite an, als könnte er nicht fassen, dass ich diese Worte ausgesprochen hatte. Auch wenn ich meinen Punkt eigentlich ziemlich gut fand. Aber Zayn schüttelte nur den Kopf. »Man kann seinen eigenen Körper lieben, ohne ihn zu sehen. Aber wir müssen ihn ansehen, weil die Gesellschaft uns dazu verpflichtet, ›gut auszusehen‹. Gepflegt und so weiter, weil Armut gleich Wertlosigkeit bedeutet. Gäbe es diese Regeln in unseren Köpfen nicht, würden wir uns nicht darum kümmern, dass wir gut genug aussehen, und sähen gut genug aus. Seinen Körper lieben ganz ohne Spiegel.«
Skeptisch hob ich eine Augenbraue. »Das hört sich ja gut durchdacht an und alles, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht trotzdem noch einen Spiegel benutzen wollen würdest, wenn auf einmal alle Regeln der Gesellschaft umgeschrieben werden würden. Für deine Haare zum Beispiel. Und das würde dich dann zu einem Heuchler machen, oder nicht?«
Nachdenklich schürzte Zayn die Lippen. »Vielleicht. Aber wäre ich in eine andere Gesellschaft hineingeboren, hätte ich diese Denk- und Verhaltensweisen überhaupt nie entwickelt.«
»Du kannst nicht alle Schuld untätig der Gesellschaft zuschieben, das weißt du, oder?«
»Was Schönheitsideale angeht schon.«
»Ich habe gar nicht über Schönheitsideale geredet! Sondern über Spiegel.« Ich warf ihm einen schmollenden Blick zu. »Und eigentlich wollte ich dich doch nur sagen hören, dass ich keinen Grund habe, Spiegel zu hassen.«
Zayn lächelte mit weichen Augen. »Aw, Lou!« Er schlang mir einen Arm um die Taille. »Du bist so süß. Natürlich hast du keinen Grund, Spiegel zu hassen! Hast du dein heißes Gesicht mal angesehen? James Dean wäre für deine Wangenknochen bereit zum
Morden gewesen.«
»Ich wäre für jedes einzelne Körperteil von James Dean bereit zum Morden.«
»Du und jede Frau seiner Generation.« Mich sanft an der Taille führend, lenkte Zayn mich um eine weitere Ecke.
»Er war bi!«, berichtete ich zufrieden.
»Ich weiß. Und deswegen hättest du sicher eine gute Chance bei ihm gehabt, Louis. Du und dein wunderwunderschönes Gesicht, das keinen Grund hat, Spiegel zu hassen.«
»Danke.«, erwiderte ich ironisch und wand mich aus Zayns Arm. »Genau diese Art von ehrlichen und ganz und gar nicht übertriebenen Komplimenten wollte ich hören.«
Mit der Spitze seines Zeigefingers piekste Zayn mich spielerisch in die Seite. »Weiß ich doch.«
Ich piekste zurück. Und wurde leise, als Zayn es schaffte, von James Dean einen thematischen Bogen zu unserem nächsten Kurs, Schreiben, Identität und Nation, zu spannen. Wofür er meinen Respekt hatte. Aber ich blieb lieber in meiner Vorstellung hängen, einen jungen James Dean in schwarz-weiß zu küssen.
✩
Der Kurs zog sich. Shakespeare danach war noch schlimmer – wahrscheinlich, weil ich da ohne Zayn durchmusste. Normalerweise mochte ich diese Seminare, Shakespeare war sicheres Terrain und man konnte sich ausprobieren. Egal, wie irre die Thesen waren, die man aufstellte; es gab immer jemanden vor dir, der irgendwann während der letzten 400 Jahre genau diese abstrakte Idee schon gehabt hatte. Es war Shakespeare. Es gab keine Fehlinterpretationen. Aber Richard III. war einfach ein Arschloch und – nicht, dass ich das meinem Professor ins Gesicht gesagt hätte – ›Richard III‹ das mit Abstand schlechteste Werk Shakespeares. Ich hoffte nur, dass wir dazu nichts schreiben müssten.
Meine Augenlider waren schwer. Ein ausgeglichenerer Schlafrhythmus bedeutete noch lange nicht, dass ich auch tatsächlich genug Schlaf bekam. Es gab wahrscheinlich in diesem ganzen Palast von einem Unigebäude keine einzige Person, die jede Nacht ihre gesunden acht Stunden bekam. Das Problem war, dass ich es nicht mal auf die Uni schieben konnte. Ja; ich musste zwar in die ein oder andere Nacht hineinlesen, um mit der Pflichtlektüre nicht hinterherzuhängen. Aber gleichzeitig wusste ich sehr genau, dass ich ohne diese Aufgaben noch drei Stunden länger aufbleiben würde.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Aus einem niemandem so wirklich klaren Grund hatten wir heute nicht in den großen Seminarraum gedurft, und saßen jetzt in einem der kleineren. Auch wenn dieselbe Anzahl Studenten jetzt auf weniger Sitze verteilt war, hatte ich es geschafft, die Stühle zu meiner Linken und Rechten freizuhalten, wie ich es am liebsten in Kursen ohne Zayn hatte. Mehr Platz zum Ausbreiten meiner Materialien, mehr Freiheit für Gedanken. Wenn niemand neben mir saß, konnte ich darüber nachdenken, was ich dachte, nicht, was die Person neben mir dachte. Bis auf Zayn. Er hatte schon so lange an meiner Seite gedacht, dass er es längst in Synchronität tat. Er war keine Belastung meines Verstandes, sondern meistens eine Erweiterung. Vor ihm hatte ich keine Angst.
Das Klopfen konnte ich nicht hören. Ich sah nur, wie sich die zweiflüglige Tür langsam öffnete. Professor Gastrell wandte seinen Blick von der Studentin ab, die gerade sprach. Ihre melodiöse Erklärung, wie sie den Tower of London deutete, kam zumindest in meinem Kopf zu einem abrupten Halt, als ich das Gesicht sah, das in der Tür auftauchte. Auch mein Atem stoppte, als hätte der winzigste Luftstoß die Tür wieder zuschlagen können – und Harry verschwinden lassen.
Gastrell schob die Brille auf seinem Nasenrücken zurecht, er sah überrascht aus, aber dann doch nicht. Stumm winkte er Harry mit einem knappen Lächeln hinein, noch immer, ohne den laufenden Monolog zu unterbrechen. Leise fiel die Tür hinter Harry zu, ich belebte meinen Atem wieder. Was zur Hölle wollte er denn hier?
Der Studiengang Kunst mochte ein unberechenbarer sein; verrückte Kurse von vorne bis hinten. Danny hatte mir davon erzählt, dass sie Kunst aus der Eiszeit behandelten (und Zayn beschwerte sich über Chaucer!). Aber ich war mir einhundertprozentig sicher, dass Shakespeare keiner ihrer Kurse war. Also was wollte Harry hier? Er sah nicht aus, als hätte er sich im Raum geirrt.
Kurz dachte ich, eine Antwort gefunden zu haben, als ich sein geduldiges Gesicht ansah. Vielleicht gehörte er zu irgendeiner der Campus-Vereinigungen und wollte jetzt Flyer verteilen. Für mehr Rechte für Tiere oder das Ende aller Kriege oder geschlechtsneutrale Toiletten in der Uni. Oder ganz Europa.
Doch seine Hände waren leer, die Tür war zu und er schien an Gastrell vorbei zu schweben, als er ihn passierte und dann auf die niedrigen Ränge abbog. Er schob sich in meine Reihe und ich wusste sofort, dass er zu mir wollte. Vielleicht wäre Zayn nicht der einzige, dessen Verstand mir neben meinem keine Angst machte.
Und trotzdem war es etwas surreal, als Harry freudig lächelte und auf den Platz zu meiner Linken fiel. »Hallo, Louis.«, verkündete er laut genug, dass einige der anderen Studenten uns ihre verwirrten oder genervten Gesichter zuwandten. Sie lauschten immer noch der Signifikanz des Towers of London. Aber Harry schien seinen Fehler zu begreifen. Oder so ähnlich, denn im Flüsterton fügte er ein ›Sollte ich lieber leise sein?‹ hinzu. Ich konnte nicht anders, als zu lächeln.
»Hi, Harry.«, flüsterte ich zurück. Auch wenn ich eigentlich kein Gespräch in der Mitte des Seminars mit ihm führen wollte. Aber vielleicht kribbelte die Tatsache, dass er in dem Moment zu mir gekommen war, in dem ich aufgehört hatte, nach ihm zu suchen, wie Limonade auf meiner Zunge. Ich konnte nicht widerstehen. Langsam und ohne seine Schulter zu berühren, beugte ich mich ein winziges Stück weiter in seine Richtung. »Wieso bist du hier?«
Er wandte seinen Blick von dem sprechenden Mädchen ab und lächelte mich an. »Wegen dir.«, flüsterte er leise.
Für ein paar Sekunden dachte ich, es wäre ein Scherz. Aber dann sprang seine Aufmerksamkeit so beiläufig zu dem Unterrichtsgeschehen zurück, dass ich daran nicht mehr glauben konnte. Er war hier, um mich zu sehen? Nach sechs Tagen spazierte er mitten in einen meiner Kurse, weil er mich sehen wollte? Die Art von Scherz begriff ich nicht ganz.
Aber ich versuchte, mein Misstrauen herunterzuschlucken. Und meine aufflammende Freude gleich mit. Was auch immer hier ablief, ich würde es mit Würde annehmen.
Schnell griff ich nach einem Stift und setzte ihn auf ein zu leeres Blatt Papier. Solange ich nicht wusste, wie ich auf Harry reagieren sollte, durfte ich ihn nicht wissen lassen, dass genau das der Fall war. Weil der Stift das Papier berührte, musste ich ihn bewegen. Ich kritzelte ein paar zusammenhangslose Wörter nieder. Shakespeare Richard Lear Lila. Erst als ich das doppelte r geschwungen hatte, erstarrte ich. Harr- schwarz auf weiß, der ganze Junge neben mir; Locken und Spitze und alles. So konnte das nicht weitergehen. Ich konnte keinen weiteren Sonntag riskieren.
»Harry?«, fragte ich leise und verdeckte mit meiner offenen Handfläche die Wörter, Wörter, Wörter, Wörter, ihn. Er blinzelte zu mir hinüber, verträumt wie meistens, und strich sich eine Locke aus der Stirn. Hilfe. »Ähm«, setzte ich an, aber mir fehlte der Rest. Ich zwang mich zur Selbstbeherrschung. »Wenn das hier vorbei ist...hast du dann vielleicht Zeit, um ein paar Minuten zu reden? Bist du für eine Weile frei?«
Eine seiner Hände wanderte langsam an seinen Hals, dann hoch zu seiner Schläfe. Ich hatte Angst, dass er sich dieselbe Strähne nochmal hinters Ohr streichen würde, auch wenn sie dort schon sicher steckte. Ich wollte ihn nicht kompensieren sehen. Dann würde ich wohl oder übel einen Weg finden müssen, ihn nie wieder zu sehen und alle Zeichen meiner Existenz zu löschen. Aber die Finger fuhren nicht in seine Haare. »Ich bin frei, Louis.«, hauchte er. »Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Und ich habe auch Zeit, ein paar Minuten zu reden.«
Ich stoppte das Stirnrunzeln, noch bevor es richtig starten konnte. Er hatte Zeit zum Reden; das war alles, was zählte. Dass ich zu oft das Gefühl hatte, als würde ich mit seinem Spiegelbild reden, würde ein Problem für später sein. Alles war ein bisschen seltsam. Genau, wie es sein sollte, aber unbegreiflich falsch.
»Cool«, erwiderte ich trotzdem, mit einer Stimme, die zu laut war, und mir wieder einige missbilligende Blicke einfing. Ich spreizte meine Finger weit genug, um ila Har lesen zu können. »Ich denke, wir sollten das mit dem Reden wirklich auf später verschieben.«, setzte ich eilig hinterher. Die dritte Semesterwoche war noch nicht unbedingt die ideale Zeit, um es sich mit allen zu verderben.
Glücklicherweise nickte Harry. Er überschlug seine Beine auf genau dieselbe Weise wie ich. Mich selbst ermahnend unterdrückte ich den Blick auf das große, runde Zifferblatt der Uhr über unseren Köpfen. Es konnten nicht mehr viel mehr als zwanzig Minuten sein, bis wir gehen konnten. Zwanzig Minuten. Und auch, wenn ich danach später noch Theorie und Text haben würde; erstmal kam die Pause dazwischen. Harry war hier.
Heute war er gekommen, um zu bleiben.
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