𝐗
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Es war Freitag, was gleich eine Reihe von Dingen bedeutete.
Das Wochenende war nah. Erstmal war das natürlich gut. Ich würde mir keine kompletten zwei Tage Freizeit leisten können, aber zumindest ein bisschen Zeit zum Durchatmen freihalten. Das ›A Doll's House‹-Essay würde ich beenden müssen, da hatte ich nicht wirklich eine große Wahl. Drei Seiten noch, und dann der komplizierteste Teil; alles überarbeiten und eventuelle Logiklücken schließen.
Dann würden Zayn und ich vielleicht noch ein bisschen an der ›Angels in America‹-Sache arbeiten, wenn wir es auf die Reihe kriegten. Das Buch, zumindest den ersten Teil, hatte ich gestern – zum wiederholten Male – beendet, was hieß, dass der zweite Teil und die Verfilmung des Theaterstücks als nächstes an der Reihe waren. Es wäre gut, wenn Zayn und ich bis Montag auf einen Konsens gekommen wären, der zuließ, dass wir uns mit dem Rest unserer Projektgruppe zusammenschalteten.
Sonntag fiel für diese Planung allerdings erstmal aus dem Zeitfenster, weil Zayn sich schon vormittags mit Niall verabredet hatte. Mein bester Freund hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, als ich ihm erklärt hatte, dass Sonntags-Dates quasi die Vorstufe einer Verlobung waren.
Samstagabend sollte ebenfalls entfallen. Im Grove würde die letzte der Jahresbeginn-Partys stattfinden. Normalerweise konnte ich gut auf einen Großteil der Campuspartys verzichten, aber ich hatte schon zweieindreiviertel der insgesamt vier Jahresbeginn-Partys für dieses Semester verpasst. Und bis auf die Jahresabschluss-Partys waren das die besten. Noch war niemand deprimiert genug – selbst mit Rekord-Alkoholspiegel – sich über die Kursaufgaben oder Prüfungen aufzuregen. Außerdem konnte man gut Menschen kennenlernen. Solche Möglichkeiten waren für Menschen wie mich manchmal ganz praktisch, denn auf Partys, auf denen niemand sich kannte, war es weniger seltsam, mit Fremden zu reden.
Und, auch wenn das nicht so sein sollte, machte das, was Zayn da mit Niall am Laufen hatte, mich ein wenig eifersüchtig. Nein, nicht eifersüchtig. Sehnsüchtig. Es war zu lange her, dass ich jemanden geküsst hatte. Der Sommer war lang und anstrengend gewesen, und Zayns freundschaftliche Berührungen waren nicht unbedingt das, was ich mir jetzt wünschte. Es war Zeit für jemanden, der mein Herz wieder ein bisschen höher schlagen ließ. Wenn auch nur für eine Nacht.
Es war mir egal, wie sehr ich meine Hausarbeiten damit sabotierte; ich würde wenigstens versuchen, meine Wohnung morgen Abend zu verlassen.
Und dann war da noch heute Nachmittag. Ob Freitagnachmittage schon zum Wochenende gehörten, mochte zwar umstritten sein, aber jeder, der es nicht so sah, hatte ganz einfach Unrecht. Heute war jedenfalls so verplant wie der Rest meines Wochenendes.
Jetzt musste ich nur noch darauf warten, dass wir aus Mittelalterliche Metamorphosen entlassen werden würden, damit ich mich auf den Weg zu meiner Mum machen konnte. Ich hatte sie am Montag gesehen, aber weil ich morgen und übermorgen nicht genügend Zeit haben würde, sie zu besuchen, musste ich das unbedingt heute tun. Zwar wäre sie mir niemals böse, wenn ich es nicht zweimal wöchentlich schaffen würde, aber ich könnte das unmöglich mit meinem Gewissen vereinbaren. Wenn ich schon in der zweiten Woche des Semesters Ausnahmen machen müsste, wäre das eine beschämende Kapitulation. Außerdem würde ich Mums Chancen auf Manchester vielleicht endgültig verbauen. Auch wenn diese Dinge nirgendwo offiziell niedergeschrieben standen, waren meine Besuche ein entscheidender Faktor.
Dass mir diese Überlegungen einen entscheidenden Teil meiner Konzentration auf den eigentlichen Kursstoff raubten, wurde mir bewusst, als mein Blick zur großen Leinwand im Seminarraum wanderte und das stichpunktbepackte Bild verschwand – ohne, dass ich ein einziges Wort übernommen hatte. Jetzt prangte dort nur noch ein weißes Rechteck; das Ende der Präsentation. Die Diskussionsrunde hatte begonnen. Schnell senkte ich den Kopf, um der Integration zu entgehen.
Im Gegensatz zu Zayn las ich gerne Mittelenglisch. Was wohl einer der Gründe dafür gewesen war, wieso ich einer der wenigen war, die Mittelalterliche Metamorphosen gewählt hatten; ein Kurs, der ansonsten mit Theaterstudenten gefüllt war.
Wir hatten begonnen, uns mit John Gower zu beschäftigen, und auch, wenn ›Confessio amantis‹ wie die ›Canterbury Tales‹, nur ein wenig erfrischender, war und mir in meinem Shakespeare-Kurs definitiv einen Vorsprung verschaffte, war es schwer, die Literatur in meiner Aufmerksamkeitsspanne mittiger als die Planung für den Nachmittag zu schieben. Selbst, wenn es interessant war, über Liebe und Sünde und Schönheit zu reden.
Ich hatte zu viel dieser zwei Stunden unaufgenommen an mir vorbeiziehen lassen. Lesen würde ich allerdings im Buch nachher noch tun können – und müssen. Aber debattieren konnte ich nicht alleine. Also schob ich meinen fast leeren Notizblock zur Seite und öffnete das dünne, lila Buch. Es war Zeit, eine Meinung zu formen, und sie den anderen in meinem Kurs mitzuteilen.
Denken und reden über Dinge, die mich interessierten, machte ich glücklicherweise gerne. So verging der Rest des Seminars doch wie im Flug. Als ich schließlich all das Schreibzeug und Material in meinen kleinen Rucksack stopfte, war ich nicht mal mehr sicher, ob ich froh über den Beginn des Wochenendes war. Es würde nur eine andere Art von Arbeit werden. Letztendlich waren die Vorlesungen immerhin eine Ausrede zur einfachen Disziplin.
Ich schulterte meinen Rucksack mit erzwungener Motivation. Ich sollte nicht schwächeln, bevor ich Mum besuchte, und erst recht nicht, weil ich sie besuchte. In schnellem Schritt und mit meiner Jacke auf dem Arm schob ich mich aus der Bankreihe, verabschiedete mich von der jungen Professorin und schlängelte mich hinaus auf den Gang. Vom heiteren Wochenendsfluss des Schülerstroms ließ ich mich in Richtung des Treppenhauses treiben, vom zweiten in den ersten Stock, aus dem Treppenhaus auf den Balkon, vom Balkon auf die Treppe bis unten in die Eingangshalle. Es war laut und voll und kalt – nichts davon würde ich draußen vermissen. Es hatte keinen Zweck, mich nach Zayn umzusehen, weil er um diese Zeit am Freitag schon durch war mit seinem Stundenplan; der Glückspilz.
Also steuerte ich auf die Eingangstür zu, blockiert von einer Traube aus Studenten, für die das Wochenende erst begann, wenn sie mit beiden Füßen auf dem Straßenpflaster Manchesters standen. Es hatte den ganzen Vormittag geregnet, aber musste irgendwann innerhalb der letzten zwei Stunden aufgehört haben, denn die Fenster im Dach schickten kein Prasseln durch die Halle.
Langsam arbeitete ich mich weiter zu den zu schmalen Türen vor. Mein Handy würde ich ruhig weiter in meinem Rucksack schlummern lassen; ich konnte mir nicht leisten, mir Sorgen darüber zu machen, den Bus nicht zu erwischen. Einfach immer weitergehen, Schritt für Schritt für Schritt, nicht stehenbleiben.
Bis ich stehenblieb.
Inmitten drängelnder Studenten, die ihm verwirrte und genervte Blicke zuwarfen, direkt zwischen den geöffneten Türen der halbverglasten Tür, stand Harry. Das weiße Kleid der letzten beiden Tage strahlte zwischen all den rempelnden Körpern. Er lächelte mich an, und ohne Zweifel mich. Grübchen wie blinkende Pfeile als Verkehrszeichen. Halt, Stopp, Louis, anhalten, ich bin's!
Ich hatte keine andere Wahl. Aber das Schlimmste war, dass ich mich freute, ihn zu sehen.
»Hallo, Louis.«, lächelte er. Sein Blick zuckte nervös zwischen den an ihm vorbei strömenden Menschen umher, ein Wellenbrecher in der Brandung. »Da bist du ja.«
Mir war bewusst, dass das Letzte, was ich tun sollte, mit ihm hier stehenzubleiben, war, Ticken der Sekunden und Fels in der Brandung. Also schenkte ich mein bestes Willkommenslächeln, schob mich an ihm vorbei und murmelte ein in den Stimmen ertrinkendes ›Komm mit‹.
Ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass er mich gehört hatte und mir folgte. Ein stummes Seufzen ging durch das Drängeln der Studenten, als Harry seinen hinderlichen Standpunkt mitten in der Tür aufgab. Der Druck löste sich endgültig auf, als ich in die kühle Luft des Frühherbstes trat.
Ich blieb nicht stehen, wandte nur kurz den Kopf, um nach Harry zu sehen. Mit Mondaugen sog er seine Umgebung auf und schlängelte sich zwischen fremden Oberkörpern hindurch. Ich hatte keine Zeit zu warten; so sehr ich mir auch wünschte, die Welt um mich herum zu vergessen, um sein Gesicht in meinen Verstand zu brennen.
Wenn er mit mir reden wollte, müsste er mir folgen.
Glücklicherweise schien er genau das vorzuhaben. Als ich quer auf die noch blattlose Rasenfläche trat, um Zeit und Weg zu sparen, hatte er mich eingeholt. Neugierig musterte er mein Gesicht, ich erwiderte den Blick. Er schien zu strahlen im Licht des wolkigen Tages. Oder war er es, der das trübe Licht strahlen ließ?
Gott, ich hatte zu viel Gower gelesen.
»Hi, Harry.« Ich wandte den Blick ab, um keine Risiken einzugehen. »Tut mir leid, ich bin ein bisschen in Eile.«
»Wieso?«, fragte Harry ohne Pause für Gedanken. Fast hätte ich erleichtert geseufzt. Vielleicht hatte er einen guten Tag. Es hatte ihn nicht eine Minute und kryptische Gegenfragen gebraucht, um zu antworten. Ein guter Tag, oder vielleicht war er schüchtern genug, um jedes Gespräch zählen zu lassen. Bei der dritten Begegnung ließ ich möglicherweise nicht mehr alle Alarmglocken läuten.
Aber ehrlich gesagt war ich am erleichtertsten darüber, dass ich mit meiner Befürchtung gestern falsch gelegen hatte. Dass Harry seine Lippen für meine Ohren nur geöffnet hatte, weil ich ihm zweimal aufgelauert hatte. Aber heute war er es, der ziemlich offensichtlich nach mir Ausschau gehalten hatte.
»Ich muss einen Bus erwischen. Die 18. Um dann noch einen Bus zu erwischen. Und dann noch einen.« Wir verließen den Rasen und ich schlug nach rechts ein. Wie selbstverständlich lief Harry weiter neben mir her. »Was ist mit dir? Hast du Wochenende?«
»Wochenende?«, fragte er skeptisch. »Heute ist Freitag. Sonntagabend ist Wochenende.«
Gnädig lächelte ich, auch wenn ich seinen Scherz nicht besonders lustig fand. »Da hast du wohl recht.« Neben uns erstreckte sich der graue Vorplatz der Student Union. Ich kannte die eine Frage, die ich Harry stellen sollte. Zweimal hatte ich es jetzt schon vergessen. Und so gerne ich mich auch davor drücken wollte; wenn Harry zu schüchtern war, um nach meiner Nummer zu fragen, dann blieb nur noch ich übrig.
Aber es wäre zu zusammenhangslos, ihn jetzt zu fragen. Und mich zu erkundigen, ob er in der Tür des Fakultätgebäudes extra auf mich gewartet hatte, traute ich mich auch nicht. Konnte ich mich irgendwie an die Sachen herantasten?
Ich hatte noch gut zwei Minuten bis zur Bushaltestelle. Wenn Harry mir bis dahin überhaupt folgen würde.
»Frieren deine Füße nicht?«, fragte ich mit Blick auf die nackte Haut auf dem Steinpflaster.
Harry blinzelte langsam wie am ersten Tag und starrte seine Füße an. »Nein.«
Ich fühlte mich albern, als ich ein Lächeln unterdrücken musste. Seine Stimme war so weich. »Ich könnte das nie.», fuhr ich langsam fort, um mir selbst nicht eingestehen zu müssen, dass unser Gespräch zwangsweise gleich enden müsste. »Ich habe zu empfindliche Füße.«
»Ja.«, sagte er ernst, als wüsste er genau, wovon ich redete. Womöglich verurteilte er all uns Langweiler, die jeden Tag Schuhe – und Hosen – trugen. Auch wenn ich meine erste Theorie mit dem Method Acting noch nicht ganz ausgeschlossen hatte. Vielleicht sollte ich einfach nachfragen. Oder war das respektlos? War ich genau der Teil von ignoranter Gesellschaft, gegen den er sich auflehnte, wenn ich ihm nach dem Grund dafür fragte, wieso er ein Kleid trug?
Er sollte keinen Grund haben und ich ihn nicht fragen müssen. Besonders, weil ich nicht umhin kam, ihn dafür zu beneiden, wie wenig er die streifenden Blicke der Menschen um uns herum zu bemerken schien. War es wirklich Schüchternheit, die ihn seine Worte so langsam wählen ließ?
»Harry?« Ich musste reden, bevor ich alles überdachte, sonst würde das hier nichts werden. »Gestern...wegen der ganzen Kennenlern-Sache.« Hoffnungsvoll schielte ich zu ihm herüber. Vielleicht hatte der kleine Stups gereicht und er wäre derjenige, der fragte.
Aber er verzog nur verloren das Gesicht. »Ich verstehe nicht genau, was du sagt, Louis.«
Okay, ganz ruhig. Nur, weil seine Art zu reden mich an ›Fox 8‹ – Danke, Zayn – erinnerte, bedeutete das noch nicht, dass ich gleich durchdrehen musste. »Ich wollte nach deiner Nummer fragen.«, erklärte ich, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Falls das möglich war, wurden seine Augen noch größer. Ohne darüber nachzudenken, bog ich in die Oxford Road ein. Aber Harry folgte.
»Meine Nummer?«, fragte er, und auch, wenn ich am liebsten losgerannt wäre und nie wieder zurückgesehen hätte, musste ich mir eingestehen, dass es blanke Verwirrung in seiner Stimme war. Die Frage sollte für ihn nicht aus dem Nichts kommen. Vor weniger als 24 Stunden hatten wir darüber geredet, einander kennenzulernen. Und jetzt erschrak er, wenn ich ihn nach Kontaktdaten fragte?
»Ja?«, meine Stimme hätte auf die letzte Sekunde nicht hochgehen sollen, tat sie aber. »Darum ging es gestern, oder nicht? Es ist...nützlich, wenn wir in Kontakt bleiben wollen. Oder hat sich etwas geändert? Wenn ich zu aufdringlich bin, musst du das sagen, Harry, ich dachte nur, wir wollten einander kennenlernen.«
Die Bushaltestelle. Sechs andere Studenten lehnten an der niedrigen Plastiküberdachung. Ich blieb stehen, Harry stolperte ein paar Schritte weiter, dann kehrte er zu mir zurück. Sein Blick wanderte neugierig über die durchsichtigen Wände. »Ich möchte dich kennenlernen, Louis.«
Meine Hände begannen zu schwitzen. Vielleicht gefiel mir Harrys ›Fox 8‹-Persönlichkeit doch weniger gut als gedacht. War ich naiv und ignorant, weil ich einfach nicht verstand, was er wollte? War ich die Menschen?
Ich ermahnte mich, bevor ich in meinen Überlegungen versinken konnte. »Okay. Das ist schön. Ich würde dich auch gerne kennenlernen. Deswegen...wäre es gut, wenn ich deine Nummer hätte.«
Wieso fühlte sich dieses Gespräch wie die verschlossenste offene Kommunikation jemals an? Ich bemühte mich, zu sagen, was ich dachte. Harry schien zu sagen, was er dachte. Wir redeten über das Gleiche. Wieso verzog er sein Gesicht so angestrengt? Für ein paar Sekunden erwartete ich fast, dass er wieder darum bitten würde, dass ich mich umdrehte. Um die Beine in die Hand zu nehmen, damit es aussah, als wäre er spurlos verschwunden.
Er hatte auf mich gewartet! Was ging in seinem Kopf vor?
»Louis«, setzte er an, mit mehr Nachdenklichkeit, als irgendeines meiner Worte gefordert hätte. »Ich weiß nichts von einer Nummer.«
Hilfesuchend sah ich mich nach den Menschen neben uns um, damit sie mir bestätigen konnten, dass nicht ich der Irre hier war. Ich kniff die Augen zusammen. Ich durfte nicht über Harry als Irren denken. Sein undurchschaubares Verhalten durfte nicht gleich eine Warnflagge sein. Vielleicht musste ich einfach nur den Code knacken.
»Du weißt deine Nummer nicht, Harry?«, fragte ich so behutsam wie möglich. »Ist nicht schlimm. Du kannst sie auf deinem Handy nachsehen, das weißt du, oder?« Den schrägen Blick konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen. »Oder warte, ich kann dir meine Nummer geben. Krieg ich dein Handy?«
Sein Blick tanzte über mein Gesicht. Wieso mussten immer die hübschesten Jungen die unbegreiflichsten sein? Kam Schönheit Hand in Hand mit Chaos?
»Ich habe kein Handy.«, erklärte er dann, unsicher.
Zayns Worte von gestern Abend schrillten in meinem Kopf, bevor ich voll verarbeiten konnte, was Harry gesagt hatte. ›Louis, Lou Lou, er hat dich angelogen!‹
Log er wirklich, um mich vor den Kopf zu stoßen? Oder war er wahrhaftig der letzte Achtzehn- bis Zweiundzwanzigjährige in England, der im 21. Jahrhundert kein Handy besaß? Keine Schuhe, keine Hose, kein Handy. Kein Durchkommen.
»Du hast kein Handy?«, versicherte ich mich mehr als ein bisschen skeptisch. »Oder ist das ein Scherz?«
Für einen Moment sah sein Gesicht mehr wie eine glänzende Wachsmaske aus. Surreale Perfektion auf markanten Knochen, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe kein Handy.«
»Hm«, summte ich leise. Was sollte ich daraus jetzt machen? Ihn zu einem gewöhnlichen,
technikfreundlichen Menschen konvertieren? Oder den hundertsten Wink des Schicksals akzeptieren, dass Harry und ich...einfach nicht zusammenpassten. In keiner Weise. Ein hübsches Gesicht war nicht alles.
Am Ende der Straße tauchte der Bus auf. Ich ließ meinen Rucksack auf einer Schulter baumeln, um meinen Studentenausweis herauszukramen.
Harry beobachtete mich aufmerksam. »Wo fährst du hin, Louis?«
Ich zog den Plastikreißverschluss wieder zu. »Shudehill Interchange.«
Neugierig musterte Harry die Chipkarte in meinen Händen. »Was willst du in Shudehill Interchange? Oder bei. Ich weiß nicht, wie es heißt.«
Jetzt musste ich doch wieder lächeln. Harry konnte wirklich noch nicht lange in Manchester sein. Der Bus blinkte träge. »Ich bleibe dort nicht, Harry. Ich muss nur zum Umsteigen hin. Dann fahre ich weiter.«
»Wo fährst du danach hin?«
»Leeds.«, berichtete ich. Der Bus blieb mit leisem Zischen vor uns stehen. Harry starrte ihn an, als rechnete er jede Sekunde mit einer Explosion.
»Was willst du in Leeds?«
Das war also die Art von Kennenlernen, die man betrieb, wenn man kein Handy besaß. Langsam schob die Bustür sich auf. Harrys Wangenmuskeln zuckten. Überlegte er, ob er mit einsteigen sollte?
»Ich besuche meine Mum.« Die anderen Studenten hatten sich vor mir aufgereiht. Hinter mir standen zwei andere Neuankömmlinge. Harry trat einen Schritt zurück. Also würde er doch nicht mitfahren.
Mit einem leichten Ruck seines Kopfes wandte er den Blick vom Bus ab und blinzelte mich stattdessen an – ausnahmsweise in der Rekordgeschwindigkeit von Schmetterlingsflügeln. »Das ist schön. Ihr Körper hat deinen erschaffen.«
Wer auch immer hinter mir stand, prustete Luft. Empört drehte ich mich um und schenkte dem amüsierten Gesicht einen strafenden Blick. »Keine Sorge, Harry«, erklärte ich mit ernster Stimme, die weniger an ihn selbst als jeden gerichtet war, der ihn als nächstes auslachen würde. Man konnte seine Freunde auslachen, seine Familie. Aber niemand Fremdes. »Wir sollten alle die riesigen Herausforderungen anerkennen, die eine Geburt mit sich bringt.«
Nur noch zwei Köpfe vor mir, dann würde ich einsteigen müssen. Harry sah wieder etwas verloren drein, vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihn verteidigen würde. Das Mädchen vor mir trat an den Bordstein.
»Willst du da reingehen?«, fragte Harry mit einem verlorenen Zittern in der Stimme.
»Ja, das hier ist meine Linie. Sonst verpasse ich die Anbindung nach Leeds.«
Murmelgroß wie am ersten Tag musterte er die offene Tür, durch die das Mädchen jetzt trat. »Warst du vorher schon mal in einem Bus, Louis?«, fragte er – wenn ich es nicht besser gewusst hätte; nervös – und dieses Mal konnte ich nur lachend den Kopf schütteln.
»Gott, Harry, hast du vielleicht einen seltsamen Verstand«, grinste ich so urteilslos wie möglich und hob die Hand, um ihm seicht zuzuwinken.
Aber sein Mund stand offen, weit offen, die süßen Zähne wie Porzellan in seinem rosigen Mund. »Louis!«, stieß er erschreckend laut hervor. »Gott ist-«
»Hey, rein hier!«, rief eine ungeduldige Stimme dringlich von dem erhöhten Fahrersitz aus.
Ich lächelte und wedelte Harry sanft mit meiner Karte wie mit einem Stofftaschentuch zu. Zu viel Jane Austen wahrscheinlich. »Tschüss, Harry. Schönes Wochenende.«
Damit wandte ich ihm und den rollenden Augen hinter mir den Rücken zu und kletterte in den Bus. Mit entschuldigendem Lächeln präsentierte ich dem mürrischen Busfahrer meinen Studentenausweis, ein knappes Nicken ließ mich passieren. Ohne den Menschen im halbvollen Bus direkt in die gelangweilten Gesichter zu sehen, schob ich mich durch den Gang bis auf den hintersten Platz, den ich kriegen konnte. Erleichtert platzierte ich meinen Rucksack auf meinen Oberschenkeln. Die Türen schlossen sich. Vorsichtig schielte ich zu den Fenstern auf der anderen Seite, aber ich war zu hoch, um Harry zu sehen.
Der Bus setzte sich in Bewegung. Ich angelte ›Confessio amantis‹ und einen Bleistift aus meinem Rucksack. Doch als ich das Buch beim pinken Klebezettelchen aufschlug, sah ich noch immer Harrys Gesicht. Natürlich war mir bewusst, dass es ein Problem bei der ganzen Sache gab. Über ›Ich habe kein Handy‹ hinaus.
Dass ein hübsches Gesicht nicht alles war, stimmte leider. Zwar spielte auch die Persönlichkeit nicht zwangsweise eine Rolle; er wäre nicht der erste Junge, mit dem ich schlafen würde um des Sexes Willen. Aber in der Regel waren es nicht die Jungen mit roten Wangen und endlosen Fragen auf den Lippen, die auf bindungslosen Sex aus waren.
Und ob er Interesse an mir auf einer Datingebene hatte, konnte ich auch nicht sagen. Selbst, wenn er nur gerne ein Freund werden würde, stand da etwas im Weg.
Freunde mussten miteinander reden können. Feste Freunde mussten miteinander reden können. Ich hatte keine Meinungen zu Harry. Wenn wir uns miteinander unterhielten, entwickelte ich keine Gedanken. Nur Fragen über Fragen über Fragen über Fragen.
Ungewissheit reizte. Aber man vertraute ihr nicht. Und Harry konnte mir nicht mal die Gewissheit einer Handynummer geben.
Deswegen war das vielleicht das einzig mögliche Fazit. So gerne ich auch lernen wollte, Harry zu verstehen; vielleicht gab es nichts zu verstehen. Vielleicht konnten wir einander nicht verstehen. So etwas wie einen ›seltsamen Verstand‹ gab es nicht.
Ein seltsamer Verstand war nur ein Verstand, der mit dem eigenen nicht kompatibel war. So einfach war das.
Ich schlug das Buch zu. Auf dem Fensterglas schimmerten winzige Regentropfen. Für die nächsten zwei Stunden würde das alles keine Rolle spielen. Ich war auf dem Weg zu meiner Mum.
✩✩✩✩✩✩✩
„who dar do thing which love ne dar?"
(„who dares attempt what love dares not?")
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro