𝐕𝐈
☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾
Der Tag bis jetzt war wirklich nicht glänzend verlaufen. Da fand ich es nur fair, dass das Universum den hübschesten Jungen auf der Welt geschickt hatte, um sich weniger als drei Meter entfernt von mir mit Edeline Fernsby zu unterhalten.
Ich hatte den beiden keine Beachtung geschenkt – bis sie angefangen hatten, über mich zu reden. Und jetzt wo die Professoren wieder aus den Tiefen des Hörsaals aufgestiegen waren und Edeline sich verzogen hatte, war mir nicht groß eine andere Wahl geblieben, als ihren Gesprächspartner anzusprechen.
Ich war nicht sicher, ob ich in einer anderen Situation mutig und motiviert genug gewesen wäre, unaufgefordert auf ihn zuzugehen – ich hoffte, dass die Antwort dazu Ja wäre – aber Edeline hatte mich ja quasi dazu gezwungen.
Also war ich zu ihm gegangen. Dicke, braune Locken kringelten sich um das Gesicht mit den weich kontierten Wangenknochen und den riesigen Augen. Barfuß stand er auf dem glatten Steinboden. Er war so in seine Studie des Studenten-Professoren-Auflaufs im Erdgeschoss gewesen, dass er nicht gemerkt zu haben schien, dass ich neben ihn getreten war. Oder er hatte es sich nicht anmerken lassen und mich ignoriert, um mir zu zeigen, dass er nicht mit mir reden wollte. Auch wenn die vollen, leicht geöffneten Lippen jetzt ein anderes Bild malten, würde das erklären, wieso er mir auch nach einer guten halben Minute noch nicht geantwortet hatte.
Hatte ich ihn so aus dem Konzept gebracht oder wollte er wirklich unter keinen Umständen ein Wort mit mir wechseln?
Oder war er nur sozial ungeschickt genug, um nicht zugeben zu wollen, dass er mich akustisch nicht verstanden hatte? Wie Zayn manchmal.
»Hey, tut mir leid, wenn ich dich überrumpelt habe.«, setzte ich vorsichtig ein zweites Mal an. »Störe ich? Ich will dich nicht von deiner Vorlesung abhalten oder so. Ich komme auch nicht gerne zu spät.«
Seine Wimpern senkten sich so langsam auf seine Wangen, dass ich für einen Moment glaubte, ich würde träumen. Vielleicht würde sich der Boden unter unseren Füßen gleich in warmen Honig verwandeln und den Jungen vor mir mit Haut und Haaren verschlucken.
Aber dann sprach er endlich. Ich wagte nicht einmal zu atmen.
»Du störst nicht.«
Hey, das war doch schon mal ein Anfang. Wenn er vielleicht noch einen Satz mehr sagen würde, müsste ich mich nicht mehr wie ein Vollidiot fühlen. Aber Smalltalk-Etikette war ihm entweder egal oder unbekannt. Ziemlich wahrscheinlich ersteres. Und das bedeutete entweder, dass er ein arrogantes Arschloch oder klug genug war, um sich den Erwartungen der Gesellschaft zu widersetzen.
Und weil ich ignorant genug war, um einen Wink mit dem Zaunpfahl unbeachtet zu lassen, setzte ich meine Hoffnung auf letzteres.
»Ich bin Louis.«, berichtete ich, auch wenn Edeline Fernsby mich bereits vorgestellt hatte.
Keine direkte Reaktion von ihm. Natürlich; er hatte schon eine Einführung bekommen. Aber dann lächelte er seicht. »Hallo Louis.«
Grübchen wie Mondkrater und, Hilfe, süße Zähne.
Ich räusperte mich leise. Gesellschaftserwartungen hin oder her, es war schon praktisch, eine Vorstellung nicht unerwidert zu lassen. Wollte er mich doch abwimmeln?
Dieses Mal entschloss ich mich dazu, seine stumme Bitte nicht zu übergehen. Ich brauchte seinen Namen nicht, um meinen eigenen Mund zu benutzen.
»Ich will wirklich nicht aufdringlich sein. Wirklich nicht. Aber ich habe dich und Edeline reden hören.« Wieso kam ich mir mit jeder Sekunde wie ein noch größerer Trottel vor? Weil er sich wirklich nicht bemühte, mir hier entgegenzukommen oder weil sein Gesicht mir das Gefühl gab, Beatrice Portinari zum ersten Mal einen wahren Sinn zu geben?
War das überdramatisch? Oder würde Dante mir vielleicht sogar zustimmen?
»Du weißt doch, wie das ist.«, versuchte ich, ihm die Rechtfertigung zu liefern, auf die er mit Sicherheit wartete. »Seinen eigenen Namen würde man unter Tausenden heraushören. Ich wollte euch nicht belauschen, aber es kann schwierig sein, wegzuhören. Wie auch immer, ich wollte mich bei dir für Edeline entschuldigen. Und vielleicht bin ich auch einfach nur zu unsicher und will verhindern, dass ich einen hartnäckigen Ruf auf diesem Campus bekomme.« Sobald ich die letzten Worte ausgesprochen hatte, hätte ich mich selbst ohrfeigen können. »Vergiss, dass ich das gesagt habe.«, schob ich eilig hinterher.
Wieder ein Blinzeln wie in Zeitlupe. »Ich kann nicht vergessen, dass du das gesagt hast.« Bedauern machte seine Augen rund.
Na ganz großartig. Da hatte ich meine Zunge ja mal wieder wunderbar unter Kontrolle gehabt.
»Ich wollte nur sichergehen, dass du dich nicht unwohl fühlst. Edeline hat es wirken lassen, als wäre ich...naja, ich will nicht, dass du denkst, ich würde... Egal. Ich mag dein Kleid. Und deine Locken. Und, wow, ich sollte mal langsam den Mund halten. Tut mir leid. Tut mir leid, tut mir leid. Ich mache es schlimmer.«
Jedes Wort machte das Chaos größer. Trotzdem war er noch nicht weggerannt. Gab es einen Weg, wie ich die Situation retten konnte, bevor er es wirklich noch tat? Seine Schlüsselbeine wölbten dünne Haut unter feinem, weißen Stoff.
»Darf ich fragen, wie du heißt?«, fragte ich, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Entgegen meiner Versuche, mir das einzureden, war ein Gesicht nicht genug.
Jetzt ließ er mich nicht mehr warten. »Har-« Sein Blick fiel auf den Boden.
»Har?«, erwiderte ich forschend.
Die Lippen hätten Seifenblasen atmen können. Er hob den Blick wieder und seine Augen schienen jede Pore meiner Haut zu analysieren. Es hätte mir unangenehm sein sollen.
»...ry?«, sagte er schließlich.
»...ry?«, wiederholte ich fragend. »Harry?«
Er nickte, als wäre Nicken eine symbolische Praxis. »Harry. Du nennst mich Harry.«
Ich versuchte, ihn nicht schief anzusehen. »Ich soll dich Harry nennen?«
»Ja.« Er lächelte wieder. Und dieses Mal war es nicht seicht, oder vorsichtig. Er lächelte, als wäre ich ein dreiblättriges Kleeblatt, bei dem er gerade das versteckte vierte gefunden hatte.
Vielleicht störte ich ihn doch nicht. Ein Gespräch also. Ich ließ meinen Blick über die Wand hinter ihm schweifen. Dem Geräuschpegel nach zu urteilen, hatten sich einige Professoren schon zum Fuß der Treppe vorgearbeitet.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Paar jadegrüner Augen von mir. Es musste wie ein Märchen sein, in den Spiegel zu sehen und auf Edelsteine zu treffen. Oder einfach nur vor so einem Menschen zu stehen.
»Bist du Kunststudent, Harry?«, fragte ich mit vielleicht zu gewissem Tonfall. Aber ich konnte mir nicht viel anderes vorstellen. Man war selten grundlos im Haus für die Kunst-, Kultur- und Linguistik-Fakultäten. Und weil ich ihn noch nie vorher gesehen hatte, war die Wahrscheinlichkeit, dass er irgendwas mit Sprache oder Kultur studierte, ziemlich gering.
Außerdem...ohne Stereotypen zu viel Bedeutung zuschreiben zu wollen; Jungen in weißen Spitzenkleidern waren wohl, wenn überhaupt, am meisten unter den Kunststudenten anzufinden. Ja. Mit den ausgeprägten Kieferknochen, großen Augen und weit geschwungenen Locken hatte er selbst etwas von einer antiken Marmorbüste.
Aber ich hatte die falsche Frage gestellt, denn sein Lächeln war mit seinen Grübchen in seinen Wangen versunken. War ich nur aufgeregt und deswegen kam er mir so wechselhaft vor? Wahrscheinlich überanalysierte ich mal wieder jeden Gesichtsmuskel der Person vor mir. Zayn warf mir das gelegentlich vor. Aber was sollte ich tun mit einem so hübschen Gesicht direkt vor meinem eigenen? Was, wenn nicht ansehen?
Darauf fand eine winzige Stimme in meinem Kopf eine Antwort, aber ich wandte den Blick von seinen Lippen sofort ab. Ich überreagierte wirklich. So benahm ich mich doch normalerweise nicht.
»Ja.«, sagte Harry plötzlich. Es war keine Frage, aber ich hatte schon standhaftere Bekundungen in meinem Leben gehört. So viele Fragen tanzten auf seinen roten Wangen, aber lesen konnte ich keine einzige.
»Erstes Semester?«, fragte ich lächelnd. Das würde die Fragen erklären, selbst wenn sie sich von mir nicht entziffern ließen. Und die riesigen, verlorenen Murmelaugen.
»Hm?« Er blinzelte hinauf zu der gewölbten Decke. »Ja.«
Nicht der einfachste Gesprächspartner. Aber das war ich auch nicht. Wie brachte ich ihn wieder zum Lächeln?
»Wartest du darauf, dass deine Vorlesung beginnt?«, fragte ich weiter, weil mir plötzlich klar wurde, dass er vielleicht so kurz angebunden war, weil er mental die Lebensdaten irgendwelcher Expressionisten durchging oder gleich eine Kunstmappe präsentieren musste oder was auch immer Kunststudenten so in ihrer zweiten richtigen Vorlesungswoche so machten.
Aber er schüttelte den Kopf und schien den Geräuschen zu lauschen, die von dem kleinen, näher kommenden Tumult auf der Treppe herrührten. »Wartest du darauf, dass deine Vorlesung beginnt, Louis?«, fragte er dann mit frischer Neugier in der Stimme. Als hätte er sich irgendwie selbst einladen können oder so.
Ich konnte aber auch nur den Kopf schütteln. »Nein. Ich bin schon durch heute. Mittwoch ist für mich meistens ziemlich entspannt. Ich will eigentlich ins Computerkabinett, aber da ist keine Aufsicht, wegen dieser Sache unten im Hörsaal. Also komme ich nicht rein. Und am Freitag werde ich dann wieder Schuld haben, wenn meine Recherche nicht tiefgründig genug war. Aber dass ich aus dem Raum, der mir die Recherche ermöglicht hätte, ausgeschlossen wurde, kümmert natürlich keinen.«
Harry sah noch immer zur Decke auf. Mir wurde bewusst, dass ich ihn vielleicht ein bisschen überwältigt hatte.
»Entschuldige.«, setzte ich schnell hinterher. »Ich sollte dir die Uni nicht schon verderben, bevor du überhaupt richtig angefangen hast. Vielleicht hast du ja Glück mit all deinen Professoren. Oder bist hochtalentiert und brauchst gar kein Glück! Wenn du in ein paar Jahren der englische Picasso sein wirst, dann werde ich jedem erzählen, dass ich mich hier mit dir unterhalten habe!«
Er kniff die Augen zusammen und sah mich an, als hätte ich etwas über gestreifte Marsmännchen erzählt; auf irre Weise interessant. »Picasso?«
Ich spürte, wie mein Gesicht für ein paar Sekunden ungläubig einfror, aber zum Glück realisierte ich rechtzeitig, dass er einen Scherz gemacht hatte. Ein wenig peinlich berührt lachte ich. »Da hattest du mich für einen Augenblick, Harry! ›Ich bin ein Kunststudent, aber ich habe noch nie von Picasso gehört.‹ Ha. Stell dir das vor!«, grinste ich vielleicht ein wenig ungeschickt. »Und, übrigens, ich habe keine Ahnung, wer Shakespeare ist.«, setzte ich in ironischer Stimmlage hinterher. Aber er starrte mich nur verwirrt an. »Ich studiere Englische Literatur!«, erklärte ich eilig.
Harry öffnete den Mund und atmete so viel Luft ein, dass ich dachte, er würde niesen. Aber alles, was passierte, war, dass er dieselbe Menge an Luft heftig in mein Gesicht ausatmete. Wärme kribbelte in meinen Wangen.
»Du weißt so viele Dinge, Louis!«, erklärte er begeistert und ich wusste, dass die Ironie irgendwo in seiner Stimme zu finden war, auch wenn ich sie selbst bei bestem Willen nicht hören konnte. »Drehst du dich um?«
»Ich- was?«
»Kannst du dich bitte umdrehen, Louis?«, fragte er nochmal, mit perfektem Lächeln. Mein Mund sollte nicht offen stehen, tat er aber. In anderem Kontext hätte mir diese Bitte vielleicht sehr gut gefallen, aber der war gerade ganz sicher nicht gegeben.
»Ähm...wieso?«, stammelte ich ein bisschen unbeholfen, auch wenn ich diesem Jungen wahrscheinlich jeden einzelnen Wunsch von den Lippen ablesen sollte. Und andere Dinge.
»Bitte?«
Nur ein klein wenig widerwillig drehte ich ihm den Rücken zu. Die breite Säule tauchte vor meinem Gesicht auf. Ich versuchte so gut ich konnte, seinen Bewegungen zu lauschen. Nicht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür besonders hoch gewesen wäre, aber ich konnte nicht mal seinen Atem hören. Was sollte das? Machte er heimlich ein Foto von mir, dass er seinem gesamten Freundeskreis zeigen konnte. Stand vielleicht einer von seinen Kunst-Kommilitonen mit uns auf dem Balkon und Harry hatte die Chance ergriffen, mit Zeichensprache über mich herzuziehen – buchstäblich hinter meinem Rücken?
»Gut.«, murmelte Harry leise und ich beschloss, das als Aufforderung nehmen zu können, mich wieder umzudrehen.
Er senkte einen seiner Arme in den weißen Ärmeln von seiner Schläfe herab und lächelte zufrieden. Ich war mir nicht sicher, ob mich das Lächeln glücklich machen oder beunruhigen sollte.
»Danke, Louis. Das war sehr nett. Ich wusste nicht, ob das funktionieren würde.«
»Was funktionieren?«, fragte ich sofort nach, auch wenn ich wahrscheinlich den Mund hätte halten sollen. Tja, zu spät.
»Dass du dich umdrehst, wenn ich dich bitte.«
Ich verdrängte all die Gedanken, die ich nicht haben sollte. »Darf ich fragen, wieso ich mich umdrehen sollte?«
Die grünen Augen sahen wieder auf zur Decke, dann zurück in meine. Wie sah ich aus? Hoffentlich war die eher schlafarme letzte Nacht mir nicht zu sehr ins Gesicht geschrieben.
»Ich weiß, wer Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Picasso war.«
Und wieder machte sich meine Kinnlade selbstständig. Er hatte gegoogelt! Und sich den hundertteiligen Namen in ein paar Sekunden gemerkt. Gutes Gedächtnis, also. Alles nur, um ein bisschen vor mir anzugeben. Wie hieß Shakespeare mit vollem Namen? William. Danke Mum. Hatte er noch 99 andere Vornamen, von denen ich nichts wusste?
Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Die ersten Studenten, die die Professoren umringten, erreichten den Balkon. Harrys Kopf sprang in die Richtung, die plötzlich vor Stimmen summte. Mit großen Augen beobachtete er die kleine Ansammlung an Menschen, die einer nach dem anderen aus der Treppe hervortraten.
»Wieso studierst du Kunst, Harry?«, fragte ich, ohne ihn stören zu wollen. Aber es gefiel mir besser, wenn er mich ansah. Augenringe hin oder her.
Nur langsam wandte er mir seine Aufmerksamkeit wieder zu. Sehr langsam. Seine Lippen lagen ruhig aufeinander und irgendetwas an seinem Blick gab mir das Gefühl, dass er jede Windung meines Gehirns sehen konnte. Ich war mir nicht so sicher, ob das etwas Gutes war. Denn er antwortete nicht. Musterte die quadratischen Fenster in der Decke, aber antwortete nicht. Blinzelte so unglaublich träge, aber antwortete nicht.
Dann schürzte er nachdenklich die Lippen.
»Muss ein Mensch alle Fragen beantworten, die ihm gestellt werden?«, fragte er vorsichtig.
Sofort hob ich entschuldigend die Hände. »Hey, Harry, ich wollte dich nichts fragen, was du nicht beantworten willst! Tut mir leid, wirklich. Du kannst reden, über was du willst. Oder auch nicht, ich will dich wirklich nicht bedrängen.« Klasse, ich hatte es geschafft, dass er sich unwohl fühlte. Wie bog ich das jetzt wieder zurecht?
»Darf ich dich was fragen?« Ein wenig überraschte Harrys Stimme mich. Dafür, dass ich ihm Unbehagen bereitet hatte, sah er ziemlich munter aus. Also nickte ich. »Wieso studierst du englische Literatur?«
Ich wartete einen Augenblick, bis ein großer Teil der Studenten sich an uns vorbeigedrängt hatte. »Ich studiere eigentlich nicht englische Literatur.«, stellte ich klar.
Skeptisch verzog Harry das Gesicht. »Aber du hast gerade eben gesagt, dass du englische Literatur studierst.«
Mit der rechten Hand griff ich nach dem Balkongeländer. »Ja, ja, ja, das stimmt ja auch. Praktisch gesehen. Aber nur bis zum Bachelor. Wenn ich den habe, kann ich mit den PGCE-Kursen anfangen. Dann kriege ich beides; PGCE und QTS. Und dann darf ich unterrichten.«
Harrys Kopf kippte ein wenig schräg zur Seite. »Unterrichten?«
Ich nickte. »Englisch. Als Lehrer.«
»Lehrer in Schulen?«
Das Lächeln ließ sich nicht unterdrücken. »Ja, Harry. Als Lehrer in Schulen. Nicht Grundschule, wahrscheinlich. Sekundarstufe. Das ist für mich interessanter.«
»Das wird dein Leben sein?«, fragte er mit so viel Erstaunen, dass ich seinen Gedankengängen wieder nicht folgen konnte.
»Das ist zumindest der Plan. Ich hoffe, dass alles so klappt.«, erklärte ich, ohne zu verwirrt klingen zu wollen.
»Dann weiß ich es jetzt.«, bemerkte Harry etwas zu überwältigt dafür, dass er mich gerade mal seit ungefähr fünf Minuten kannte. »Ich weiß es vorher! Liam wird staunen.«
Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch Teil des Gesprächs war. »Liam?«
Wieder rückte die Decke in Harrys Fokus. »Liam ist mein Mentor.«, erklärte er schließlich.
Und ich war nicht schlecht beeindruckt. »Ein Mentor! Du bist ein Stipendiat! Es muss verflucht schwer sein, ein Kunst-Stipendium zu kriegen, oder nicht?« Dieses Mal hatte ich sofort das Gefühl, ihm ansehen zu können, dass er diese Frage nicht beantworten würde. Vielleicht wollte er nicht angeben. Bescheiden also auch noch. Von Picasso mal abgesehen. »Kennst du Niall?«, fragte ich stattdessen. »Niall Horan?«
Er beobachtete meine Lippen, als hing der Name an ihnen nach. Hilfe, Hilfe, Hilfe.
»Drehst du dich wieder um?«, fragte er unschuldig anstelle einer direkten Antwort.
Ich lachte zu laut und kitzelte ein weiteres Lächeln aus ihm. »Ich bin nicht sicher, ob du ihn im Internet finden wirst, Harry! Aber es ist alles gut, du brauchst ihn nicht zu kennen. Hätte nur sein können.«
»Internet?«
Ich müsste schnellstmöglich herausfinden, was es war, das seine Ironie preisgab. Seine Stimme war es nicht, seine Augen auch nicht. Aber irgendein Zeichen musste es geben. Zuckte sein Mundwinkel? Sein Kiefermuskel? Ballte er seine Hände zu Fäusten?
Neben ihm erblasste jede sarkastische Bemerkung, die Zayn und ich je gemacht hatten.
Aber je länger ich sein Gesicht studierte, desto glasiger schienen seine Augen zu werden. War das Einbildung? Hoffentlich war er nicht auf mich allergisch.
Als er schon wieder zur Decke aufschaute, musste ich es ihm dieses Mal gleichtun. Aber da oben waren nur die von weißen Balken eingerahmten, quadratischen Fenster. Es war, als würde man in eine leere Waschmaschine sehen. Grau, Wasser.
Ich grinste. »Hast du noch nie Regen gesehen?«
Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass er den Kopf schüttelte. Was war seine Masche? Trockener Sarkasmus, der seinen wahren Charakter verwusch? Oder war ich selbst schon zu langweilig geworden, um gute Ironie zu erkennen? Vielleicht war er auch einer von den Kunststudenten, die nebenbei im Theater ihre Finger im Spiel hatten. Method Acting. Nicht, dass ich sein Kleid als gewöhnliches Kleidungsstück nicht schätzen könnte, aber es würde gut passen zu einer Rolle eines...antiken Römers, Griechen, keine Ahnung. ›Wer ist Picasso? Was ist das Internet? Seit wann ist die Erde eine Kugel?‹
Keine Ahnung, Harry schien ein kleines Rätsel zu sein. Aber wer wäre ich, wenn mir ein rotwangiges Mysterium nicht gefallen würde?
Harry schlang einen Arm um seinen Bauch. Er sah wirklich nicht besonders gut aus. Hatte der Regenschauer ihn auch erwischt? Falls ja, war sein Haar wieder staubtrocken. Und er sollte sich ganz schnell an das Klima in Manchester gewöhnen, wo auch immer er herkam. England auf jeden Fall, vom Akzent her, aber welche Sonnenstadt war bitte sein Zuhause? Plymouth?
»Louis?«, fragte er, immer noch hypnotisiert von den dicken Regentropfen, die auf den Scheiben einschlugen wie Meteore.
»Ja?« Ich wusste nicht, was er jetzt sagen würde, aber ich betete, dass es mit meinen Kontaktinformationen zu tun hatte.
Natürlich hatte Harry andere Pläne.
»Kannst du dich bitte wieder umdrehen?«, fragte er jetzt zum dritten Mal, und ich hätte weinen können.
»Wieso?«, fragte ich dieses Mal noch verlorener. Wieso war er so unnahbar?
»Bitte, Louis.«
Ich wäre ein alberner Idiot gewesen, es zu tun. Und wäre seine Stimme nicht auf ehrliche, erschreckende Weise flehend gewesen, hätte ich es nicht getan. Aber irgendwie hatte ich Angst, er würde in Tränen ausbrechen, wenn ich es nicht tun würde. Also tat ich ihm den Gefallen und drehte ihm ein zweites Mal den Rücken zu. Die Säule schien mich auszulachen.
»Kannst du dir den Ellenbogen vor die Augen halten?«, fragte er weiter. »Und zählen? Wie bei dem Spiel. Verstecken.«
Verstecken. Bitte was? Wieso ließ ich mich nur auf solche Sachen ein?
»Wieso das denn, Harry? Muss das sein?«, fragte ich zugegebenermaßen ein bisschen quengelnd. Aber wenn jemand – in einem streng alltäglichen Kontext – von mir verlangte, dass ich mir die Augen zuhielt, um wie bei Verstecken zu zählen...hatte ich ein paar Nachfragen.
»Louis, bitte?«
Ich seufzte, laut und langsam. Dass er nicht Verstecken mit mir spielen wollte, war mir schon klar. Ich hielt mir eine Hand vor die Augen. Und schloss sie vollständig. Ich war kein Schummler.
»Wie weit soll ich zählen, Harry?«, fragte ich wenig begeistert. Er antwortete nicht. »Harry?«
Erst dachte ich, er würde wieder schweigen wie beim ersten Mal, und sich dann mit einem ›Gut‹ zurückmelden. Aber dann hörte ich seine Stimme, so leise, dass ich nur einen Bruchteil der Worte verstand.
»...lange braucht ein Mensch...Tür?«
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich wirre Zahlen im Kopf. Wie in dem Moment beim Einschlafen, direkt bevor man bemerkte, wie das Unterbewusstsein abdriftete, und man nur eine einzige Sekunde später doch wieder wach war. Genauso entglitten mir die Zahlen.
»Harry..?«
»Bis 72.«
»Ich soll bis 72 zählen?«, fragte ich skeptisch und hoffte, dass niemand uns beobachtete.
»Ja.«
»Bist du sicher, dass ich das machen soll?«, fragte ich mit schwindender Hoffnung.
»Ja.«, antwortete er standhaft. Seine Stimme schien gegen meinen Hinterkopf zu vibrieren.
Ich unterdrückte ein weiteres Seufzen. Wieso hatte ich so eine Schwachstelle für Jungen mit vollen Lippen und Grübchen?
Ich begann zu zählen.
Bei 26 war meine Geduld zu Ende. Ich benahm mich wie ein dummes Kleinkind. Die Säule sah aus wie vorher, als ich die Augen öffnete und meine Hand sinken ließ. »Harry? Ich drehe mich jetzt um. Tut mir leid, aber das ist-«
Nichts, natürlich.
Wie selbstsicher hatte ich sein können, zu erwarten, dass er auch nach 72 Sekunden noch hier sein würde? 26 hatten ihm gereicht. Hätte die wortkarge Unterhaltung mir nicht deutlicher signalisieren sollen, dass er mich eigentlich loswerden wollte?
So ein zuckersüßer Versuch, Augen zu, bis 72 zählen und oh, er ist weg! Metallenes Balkongeländer und dort, wo Harry gestanden hatte, nichts als eine weiße Wand.
Ich ließ meinen Blick über den Balkon streifen, dann durch die Eingangshalle. Aber der Junge mit weißem Kleid und dunklen Locken war verschwunden.
✩✩✩✩✩✩✩
Die Schreibweise und Atmosphäre werden weniger unangenehm, wenn Harry reden lernt.
Wir werden dort ankommen :)
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