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𝐗𝐋𝐈𝐕

Es tut mir ehrlich leid, dass einige Kapitel so lang sind. Ich versuche mich zu bessern, wirklich, aber manche Wörter sind nicht optional. Tipps? Tricks? Ich möchte mich wirklich anstrengen.

☽ ⋆ 𝐋 ⋆ ☾

Augen auf und da war er. Mein Kopf wollte sich nur schwer von der Fensterscheibe lösen, auch wenn etwas elektrisches durch meinen Körper schoss wie Schmerz. Überwältigte Finger wollten nicht richtig arbeiten, als ich die Kopfhörer aus den Ohren friemelte.

»Harry!« Ich setzte mich gerader auf, als würde es einen Unterschied machen. Mein Mund war zu trocken. Ich traute mich nicht zu blinzeln. Er war es wirklich. Schön wie ein verdammter Engel und über seinen weichen Schultern lief weißer Stoff aus. Natürlich ein Engel, und er war zurück. Ich holte meinen Rucksack weiter in meinen Fußraum hinüber. »Du bist hier!«

Ob er die letzte Haltestelle genutzt hatte – oder war er einfach hierhergebeamt? Spielte keine Rolle. Ich klopfte auf das leere Sitzpolster neben mir und konnte mein Glück nicht fassen. Harry war zurück, und das nicht mal 24 Stunden, nachdem er mich verlassen hatte.

»Komm, du-«, begann ich so laut, wie mich die Aufregung trieb, aber ich konnte mich selbst stoppen. Eine Frau zwei Reihen weiter vorne hatte sich schon zu mir umgedreht und nicht nur, dass ich die anderen Fahrgäste nicht nerven wollte; ich wusste auch nicht, wie viel Aufmerksamkeit wir erregen durften. Harry in seinem schneeweißen Kleid war Sensation genug, ich wollte nicht noch mehr betonen, dass hier möglicherweise etwas nicht ganz Alltägliches ablief. »Setz dich.«, sagte ich leiser und zwang mich, den Blick von ihm abzuwenden. Als wäre er nicht das Wichtigste, das ich in diesem Moment sehen könnte.

Er rutschte auf den Platz neben mir. Ich musste noch einen Blick über die anderen Menschen im Bus schweifen lassen, aber niemand sah aus, als würden sie zu großes Interesse an mir oder Harry haben. Der Busfahrer starrte gerade nach draußen auf die Straße. Harry hatte nicht beim letzten Halt einsteigen können; er hatte kein Ticket. Oder?

Ich lehnte mich zu ihm herüber, meine Wange nahe seinem Ohr. Er war hier. Er war warm und da waren die winzigen Poren seiner Haut. »Hast du ein Ticket?«, flüsterte ich, stark bemüht, nicht wie verbotenes Flüstern zu klingen.

Harry drehte seinen Kopf und plötzlich waren seine Lippen in eindeutig zu geringer Distanz zu meinen. Ich zuckte zurück. »Nein.«, sagte er in normaler Lautstärke und ich sah ihn aufgebracht an. Was an dem Flüstern hatte er nicht kapiert?

Ich legte einen Finger auf meine Lippen, um ihm zu verstehen zu geben, dass Schwarzfahren nichts war, worüber man sprach, während man es tat – auch nicht, wenn man ein potentieller Engel aus dem Himmel war. Als Harry langsam seine Hand hob, dachte ich, er würde jetzt zu einer improvisierten Gebärdensprache übergehen, aber stattdessen kopierte er nur meine Geste. Ein schlanker Finger auf den unstreitbar zu dunklen Lippen. Ein größeres Verbrechen als jedes Fahren ohne Fahrkarte.

»Was bedeutet das?«, fragte Harry in noch immer skandalös ungedämpfter Stimmlage, Schall musste seinen Finger unrunden.

Ich senkte meine eigene Hand in der Hoffnung, Harry würde auch hier meinem Beispiel folgen. Er tat es nicht. »Leise sein.«, erklärte ich knapp. Und zum ersten Mal in den letzten 24 Stunden hoffte ich, dass Harry wirklich ein Engel war. Ansonsten fiel ich hier auf eine peinlich billige Masche rein.

Harrys Augen verengten sich. »Du möchtest, dass ich leise bin?«, fragte er und ich wollte ihm die Worte im Mund umdrehen, buchstäblich, und sie direkt wieder in seinen Hals zurückschieben.

»Ja.«, seufzte ich, weil ich nicht wusste, wie ich mich sonst hier rausreden konnte.

»Wieso?«, fragte Harry direkt, und redete immer noch gegen seinen dämlichen, perfekten Finger.

Mochte er doch ein Engel sein; ich griff schnell und sanft nach seinem Handgelenk und lenkte seine Hand zurück in seinen Schoß. Sofort ließ ich ihn wieder los. Keine Berührungen – eine der vergangenen Regeln, die vielleicht eigentlich nicht mehr galten, aber bei dieser hier war ich mir nicht so sicher. »Es ist besser so, vertrau mir.«, versicherte ich und hoffte, dass er das so hinnehmen konnte und nicht eine explizite Erklärung dafür brauchte, wieso es klug war, als Schwarzfahrer seine Triumphe nicht mit dem Rest des Busses zu teilen.

Schlimmer; ich war schuld daran, dass wir überhaupt hierüber redeten. Höchste Zeit, dass wir uns auf das Wichtige konzentrierten. Er war zurückgekehrt.

»Harry«, ich begann, das dünne, schwarze Kabel der Kopfhörer um meine Finger zu wickeln. »Ich- Du bist wieder hier.«

»Ja.«, sagte er kurz und beließ es auch nach etwas Wartezeit dabei. Ich hatte es dutzende Male gelernt und trotzdem überraschte es mich jedes Mal aufs Neue, wie wenig kooperativ Harry in Gesprächen sein konnte. »Was ist das, Louis?«

»Was- Das? Meine Kopfhörer?« Ich pflückte sie fertig aufgerollt von meinen Fingern und lehnte mich zu meinem Rucksack herunter.

»Ja. Kopfhörer? Was ist das?«

Ich wollte entsetzt sein, aber langsam machte es keinen Sinn mehr. Harry, der mich erst bei der Erwähnung des Internets schräg angesehen hatte und dann nach der Bedeutung der BBC fragen musste; wie sollte ich verlangen, dass er wusste, was Kopfhörer waren? Ein Engel. Ich saß neben einem Engel.

»Zum Musikhören.«, erklärte ich knapp, weil wir wirklich andere Prioritäten haben sollten. Ich schob die Kopfhörer zusammen mit meinem Handy in ein Innenfach des Rucksacks. »Was ist passiert, Harry?« Vorsichtig senkte ich die Stimme. »Im Himmel?«

Harry kniff seine Augen erneut zusammen, als hätte ich ihn nochmal darum gebeten, leise zu sein. Und, fuck. Mit nicht einem Hauch von Ironie im Blick legte er seinen Finger zurück auf seine Lippen. Ich konnte nicht anders; ich lachte ungläubig.

»Ein schneller Lerner.«, lobte ich, meinte es nicht wirklich ernst. »Du kannst den Finger wieder runternehmen. Ich hab's verstanden.«, versicherte ich mit gesenkter Stimme.

Glücklicherweise folgte Harry meinem Rat, brach die Geste. »Das ist nicht leise genug, Louis.«, ermahnte Harry trotzdem.

»Flüstern?«, fragte ich, flüsternd.

»Nicht leise genug.«, wiederholte er, und damit hatte er natürlich recht. Flüstern war meistens auffälliger als Murmeln.

»Wieso bist du dann in einem menschenbepackten Bus aufgetaucht?«, fragte ich und fand die Frage sehr plausibel.

»Ich wusste nicht, dass es ein menschenbepackter Bus ist! Ich bin zu dir gekommen. Du hast die Ortswahl getroffen.« Er sah mich nicht vorwurfsvoll, aber sehr sachlich an. Sein rechter Oberarm presste sich sanft gegen meinen. Vielleicht mochte ich den Bus als Setting doch.

»Nicht für dieses Gespräch!«, verteidigte ich mich trotzdem. »Ich fahre zu meiner Mum. Ich hatte keine Ahnung, wann du zurückkehren würdest – oder ob überhaupt.«

Harrys Augen waren aufmerksame Murmeln. »Du fährst zu Johannah?«

Meine Mimik rutschte, ich spürte es, wie eine dünne Schneedecke auf einem tauenden Dach. Gut, dass wir gestern reinen Tisch gemacht hatten. »Es ist wirklich unheimlich, dass du den Namen meiner Mum kennst.«

Ein fragender Ausdruck, seine Spezialität. »Natürlich. Sie hat dich geschützt, bevor ich es durfte. Und auch danach.«

»Das macht es irgendwie nicht weniger seltsam.«

»Sie hat dein Leben gerettet, Louis.«

Meine Augenbrauen zogen sich seicht in die Höhe. »Ja, schon klar, aber... So funktioniert das mit Babies.«

»Es ist nicht selbstverständlich. Du hast ihr eine Menge zu verdanken.«

»Ich weiß.«, sagte ich mit so viel Ernst, wie er nutzte, um mich zu belehren. Wenn ich eine Sache wusste, dann das.

»Darf ich mitkommen zu Johannah?«

»Was? Nein!« Ich rückte näher ans Fenster, verlor Harrys Arm, um mich ihm mehr zuzudrehen. »Nein.«

»Wieso nicht?«

Es gab tausende Gründe. »Ich nehme dich nicht mit zu meiner Mum, Harry. Das ist nicht diskutabel.«

»Wieso nicht?«

»Weil...«, von den tausend Gründen war eben doch nur ein einziger gut, »einfach nein. Ich kann dich nicht einfach so mitbringen.« Ich versuchte, auszusehen, als würde es mir wenigstens ein bisschen leidtun. Harry öffnete den Mund, aber ich kam ihm zuvor. »Und frag jetzt nicht ›Wieso nicht‹!«

Harrys Lippen standen offen, seine Zähne weiß wie Schnee. Dann schloss er den Mund wieder. Sein Blick rutschte an meinen Wangen ab und wurde weit, als er aus dem Fenster sah. Die runden Pupillen sprangen mit den vorbeiziehenden Bäumen oder Häusern oder was auch immer in meinem Rücken die Straße säumte. »Wir bewegen uns sehr schnell.«, sagte Harry schließlich und klang überhaupt nicht, als würde ihm das so gut gefallen.

»Oh oh.«, sagte ich und musterte seinen fliegenden Blick. »Ist dir schlecht?«

Und er kehrte wieder zu mir zurück. »Schlecht? Nein.«

»Okay. Gut.«, seufzte ich erleichtert. Das war auch ein Problem, auf das ich verzichten konnte. »Du bist noch nicht so häufig Auto gefahren?«

»Einmal. Mit dir in dem Bus. Jetzt zum zweiten Mal.«

Die Erinnerung tanzte zurück in mein Gedächtnis; wie Harry mich schockiert angesehen hatte, als ich vor seiner Nase in den Bus nach Leeds gestiegen war, als hätte er noch nie einen Bus gesehen. Hatte er noch nie vorher einen Bus gesehen?

Und plötzlich stellte sich mir eine ganz neue Frage. Wenn Harry bis vor einem Monat noch nie einen Bus gesehen hatte... War es die Erde oder war er es?

Ich fixierte mich auf sein Gesicht, seine symmetrische Nase, die rosigen Lippen, die glatte Stirn. »Wie alt bist du, Harry?«

Etwas passierte in seinen Schultern. »121 Jahre, 10 Monate, 26 Tage, 2 Stunden, 4 Minuten, 54 Sekunden. 55. 56...«

Meine Gedanken fielen wie ein Kartenhaus. Harry zählte brav bis zum Ende der Minute, aber die Zahlen verschwammen. Die Karten lagen zu flach auf dem Tisch, meine Fingernägel waren zu kurz, ich konnte sie nicht wieder aufheben. Da war nur Harry, Sekunden auf den Lippen.

»Wenn wir das Entgleisen der Zeit mit einberechnen, vor allem, als ich jünger war, dann sind es vielleicht ein paar Minuten mehr. Um die 6 oder 7 vielleicht. Das ist schwierig festzulegen. Aber es ist zu vernachlässigen. Wenn wir immer alle Schwankungen der Zeit berücksichtigen würden, wäre die Aufzeichnung ein riesiges-«

»Harry!«, unterbrach ich sein munteres Philosophieren. »Du bist 120 Jahre alt?!«

»121. Und 10 Mo-«

»Harry!« Meine eigene Stimme rang in meinen Ohren nach. Es sollte nicht schockierender sein als der Fakt, dass Harry anscheinend ein Engel war. Was war schon erstaunlicher; dass er seine Hände unter meine legen und uns fliegen lassen konnte oder dass er 100 Jahre älter war als ich? Als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte ich ihn auf 19 geschätzt, vielleicht 20. 22, laut seiner eigenen Aussage. Noch eine Lüge, wie es aussah. Aber es sah nicht aus wie eine Lüge. Er sah nicht aus wie... Er war jung und schön und makellos. Jung. Alt. Alt!

»Dann hast du dich ja...«, stammelte ich drauf los, »gut gehalten.«

Er neigte den Kopf. »Nicht wirklich. Du hast mich-« Und sein friedlicher Ausdruck fiel. Ich wusste nicht, was es war in seinem Blick; Angst, Reue, Schock..? Er drehte den Kopf wie eine aufgeschreckte Taube.

»Was ist los?«, fragte ich verunsichert und versuchte zu sehen, was er sah.

»Wir sind zu laut.«, sagte er sofort. »Ich war zu laut. Das ist Wissen, das nicht kompatibel mit dem- Das hier auch. Oh nein. Louis!« Seine Augen hätten den Mond schlucken können. »Denkst du, einer der Menschen hat es gehört?«

Ich sah mich um und fand gelangweilte, in ihre Handys vertiefte Passagiere. Die Frau, die sich uns vorhin zugewandt hatte, kramte in ihrer Handtasche. »Nein.«, erklärte ich wahrheitsgemäß. Harrys Aufregung hatte Teil meiner eigenen getilgt. »Und selbst wenn; ich glaube nicht, dass ihre erste logische Schlussfolgerung wäre, dass du-«

»Louis!«, schnitt er scharf ab und langsam könnte ich es vielleicht fast amüsant finden. »Wir dürfen hier nicht reden.«

Das fand ich wiederum gar nicht amüsant. Das Kaffeesymbol über Harrys Kopf blinkte matt und ich wollte Antworten und es gab nur eine Person, die sie mir geben konnte. Ich brauchte die Antworten. Was brachte mir mein bisheriges Wissen – außer, dass es mich irre machte? Harry war ein Engel und wusste, wie dick mein Blut war, und der Himmel existierte und ich löste dort irgendetwas aus. Das reichte nicht. Das reichte absolut nicht.

Aber wir konnten nicht einfach den Bus verlassen. Wo waren wir? Ein Blick aus dem Fenster reichte mir, um mich zu orientieren. Ich fuhr die Strecke oft genug. Wir waren auf der Höhe von Scholes und würden gar nicht mehr so lange brauchen. Bald wäre der Bus in Leeds. Wie war die Zeit so schnell vergangen? War ich kurz weggenickt, ohne es zu merken, als ich mir vorhin den Kopf über Kreatives Schreiben zerbrochen hatte?

Es spielte keine Rolle. Die Busfahrt würde nicht mehr sehr lange dauern und ich würde Harry nicht mit zu meiner Mum nehmen. Wir mussten hier drinnen reden, denn ich konnte Harry garantiert nicht gehen lassen, ohne ein paar Antworten erhalten zu haben.

Ich legte einen Arm um meine Sitzlehne und zog mich einige Zentimeter hoch, überblickte alle Reihen der monoton gemusterten Polster. In dem langen Bus saßen außer Harry und mir – und dem Fahrer – nicht mal 10 andere Menschen. Es war mitten in der Woche und zu früher Nachmittag, um voller zu sein. Heute Abend würde es wahrscheinlich anders aussehen.

»Was ist, wenn wir uns ganz hinten hinsetzen?«, schlug ich vor und klammerte mich an die Möglichkeit. Denn wenn sie Harry nicht überzeugen sollte, dann wusste ich auch nicht weiter. »Dann wären davor...warte...drei, vier, fünf, sechs. Sechs freie Reihen.« Ich bemühte mich, es klingen zu lassen, wie den diskretesten Ort der Welt.

Auch Harry machte sich etwas größer, um meinen Vorschlag zu beurteilen – nur hatte ich das Gefühl, er würde sein Ziel nicht auf mechanische Weise erreichen. Als ich hinabsah, war es aber schwer zu erkennen, ob Harry den Sitz noch berührte. Oder hatte er ihn überhaupt je berührt?

Harry stand auf, wortlos, und kletterte in den Gang. Er wandte sich mir zu. »Halt dich gut fest.«, sagte er eindringlich. »Und folge mir.«

Die Erleichterung wärmte mich mehr als die Fußheizung es je geschafft hatte. Ich schulterte meinen Rucksack, nachdem ich ihn nochmal auf mein Handy kontrolliert hatte, dann tat ich wie geheißen und folgte Harry in den Gang. Er hatte ein paar Meter Vorsprung und passierte entschlossen die Reihen, ohne sich irgendwo festzuhalten. Das leichte Schwanken des Busses schien ihn nicht groß zu beeinträchtigen. Wie auch – wenn er sogar die Schwerkraft gehorsam machen konnte?

Ich hangelte mich lose an den Sitzen entlang. Die meisten der Menschen, an denen Harry vorbeimarschiert war, hatten jetzt aufgesehen. Die meisten sahen aber auch wieder weg. Ich war so fokussiert auf einen Mann nicht viel älter als ich, der Harry mit gedrehten Schultern hinterher sah, dass ich zu spät merkte, dass Harry stehengeblieben war.

Es war noch nicht das Ende des Busses und ich lief in Harrys Rücken und stieß ihn nach vorne. Der Aufprall war nicht hart, oder stark, aber in dem fahrenden Bus irritierte er meinen Körperschwerpunkt genug, dass ich aus dem Schwanken in einen Stolperschritt fiel, den zwei sichere Hände an meinen Oberarmen stoppten.

Harry sah nicht besorgt aus, aber auch nicht entspannt. »Du musst vorsichtig sein, Louis.«, warnte er, und wartete, bis ich mich wieder an zwei Sitzlehnen festhielt. »Die Trägheit macht Bewegung für dich hier unsicherer.«

Ich war enttäuscht, als er mich wieder losließ. Also doch ein Schutzengel. Nicht, dass mich das Zusammenstoßen mit Harry umgebracht hätte. Aber gute Reflexe hatte er allemal. Und es war eigentlich besser, dass er mich jetzt wieder losgelassen hatte. Rechts neben mir saß ein Teenager mit irritiertem Seitenblick auf mich und Harry, Kopfhörer in den Ohren. Ich musste nicht idiotischer aussehen, als ich es ohnehin tat.

»Setz dich, Louis.«, sagte Harry und zeigte auf den freien Sitz neben genau diesem Teenager. Ich starrte ihn an; Harry.

Irritiert schüttelte ich den Kopf, versuchte Harry mit einem weiteren Schritt dazu zu animieren, sich endlich weiterzubewegen. Aber er bewegte sich keinen Zentimeter.

»Ich stehe sicher, Harry, keine Sorge. Bitte geh weiter. Ich halte mich auch fest.«, versprach ich.

»Bitte.«, sagte Harry, anstatt auf mich zu hören.

Ich seufzte und war mir ziemlich sicher, dass Harry stur sein konnte, wenn er wollte. Widerwillig rutschte ich auf die beiden freien Plätze zu meiner Linken. »Zufrieden?«, fragte ich, ein wenig trotzig.

Aber Harry zeigte auf den Platz auf der anderen Seite des schmalen Ganges, neben dem Teenager, der jetzt offensichtlich ganz aktiv nicht bei dem Unsinn zusah, den Harry und ich hier trieben. »Hier.«

»Wieso?«, zischte ich leise und ehrlich einfach nur so verwirrt.

Ich wusste, was er sagen würde, und hatte recht. »Bitte, Louis.« Vielleicht kannte ich ihn ja langsam doch.

Und gar nicht gut; ich kannte mich. Die Diskussion wirkte, als würde sie das alles hier noch hundertmal schlimmer machen, also unterdrückte ich das nächste Seufzen und stand wieder auf. Kurz zog ich es in Erwägung, meinen neuen Sitzpartner erst nach seiner Einwilligung zu fragen, aber dann setzte ich mich einfach. Er sah auf, braune Augen irritiert und genervt und eindeutig unzufrieden mit der Situation. Aber was sollte er machen? Mich zurück auf den Gang schubsen? Verdient hätte ich es.

»Danke.«, sagte Harry, und klang ehrlich. Ich erwartete, dass er auf den Platz rutschte, der jetzt wieder frei war, durch den kleinen Gang von mir durch einen Sicherheitsabstand getrennt. Aber stattdessen drehte er sich um und lief weiter in Richtung des Busendes.

Ich wollte aufstehen. Was veranstaltete Harry hier? Aber ich wusste nicht, was er sagen würde, wenn ich es tat, und ich wollte mir – und zusätzlich meinem höchst unfreiwilligen Sitznachbarn – die weitere Blamage und Verwirrung ersparen. Also saß ich. Mein Rucksack hing halb im Gang, halb drückte er sich unbequem gegen meinen rechten Rücken. Ich hatte keine Ahnung, ob ich meine Position angenehmer gestalten sollte. Ich hatte keine Ahnung, was hier ablief.

Ich war nicht gut darin, Alter zu schätzen; das hatte sich ja bewiesen. Der Junge neben mir war vielleicht 15 oder 16 – Standardfehler plus/minus 100 Jahre. Wahrscheinlich ruinierte ich gerade seine womöglich sowieso schon unschöne Busfahrt. Ich hatte das Bedürfnis, ihn anzusprechen, mich zu entschuldigen oder zu rechtfertigen oder was auch immer meine Anwesenheit hier neben ihm besser machen würde.

Ich drehte mich zu Harry um, fand ihn in der letzte Reihe, auf einem Fensterplatz in der Ecke. Er redete irgendetwas vor sich hin. Und ich kapierte endlich.

Mit entschuldigendem Blick schob ich mich zurück auf den Gang, und eilte mit Blut in den Wangen durch die restlichen Reihen bis in die letzte.

»Keine Sorge. Ich habe nichts gehört.«, versicherte ich, wenig amüsiert, und setzte mich neben Harry.

»Ich weiß.«, bestätigte er. Ob das bedeutete, dass er eine Kurzwahl in mein Gehörsystem hatte, wollte ich in diesem Moment nicht wissen. Ich verdrängte die einschüchternde Vorstellung. Und dann war es doch unmöglich.

Ich platzierte meinen Rucksack auf den freien Platz zu meiner Linken. »Du kannst hören, was ich höre?«, fragte ich, ohne zu wissen, welche Antwort ich mir erhoffte.

Harrys Blick glitt aus dem Fenster. »Ich kann den Schall wahrnehmen, wenn ich will. Nicht immer die Interpretation.«

Keine Ahnung, was das bedeutete. Dass er nur hörte, dass ich hörte, nicht, was es war? »Wieso belauschst du meine Sinne?«

»Es könnte dich schützen. Aber ich tue es sehr selten. Sehr, sehr selten. In deiner Gegenwart ist es meistens unsinnig. Außer eben. Der Mensch sechs Reihen vor uns kann uns nicht hören, solange wir 65 Dezibel nicht überschreiten. Und wenn er uns hören könnte, wäre es sehr schwer für ihn, auch zu verstehen, was er hört.«

›Der Mensch sechs Reihen vor uns hat Kopfhörer in den Ohren.‹, wollte ich Harry entgegenbringen, aber ließ es sein. Vielleicht wusste er auch, dass ich die Worte für ihn aufbewahrte. Vielleicht inhibierte er meine Sinne nur ›sehr, sehr selten‹, aber trotzdem. Ich fand es ziemlich legitim, dass die Vorstellung mich verstörte. Harry war wie eine Wanze in meinem Gehirn. Ein Spion von mir, für mich. Aber es war unmöglich, ihn zu detektieren.

»Du kannst nicht meine Gedanken lesen?«, fragte ich, weil die Frage plötzlich Form genommen hatte, konkreter, größer, dunkler, wie ein Schatten, der sich über mich beugte und mit jedem Grad Licht um Meter wachsen konnte. Dieses Mal wusste ich, welche Antwort ich erhoffte. »Oder?«

Meine unterschwellige Panik schien kein Geheimnis für Harry zu sein, er riss den Blick vom Fenster los und schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. Ich wusste es direkt. Es war seine volle Aufmerksamkeit. »Nein.«

Diese Erleichterung erschlug den Schatten wie mit einem Buch, aber ich wusste, dass er nur floh, sich versteckte und kauerte, wo ich ihn gerade nicht sehen konnte. Aber das reichte. Ein bisschen Luft entfloh meinen Lungen. »Gut.«, seufzte ich. Es war eine maßlose Untertreibung. Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn Harrys Antwort anders ausgefallen wäre. »65 Dezibel also.«, sagte ich, um von meiner Erleichterung abzulenken. Und als würde die Zahl auch nur im entferntesten Sinne etwas für mich bedeuten.

»Ja.«

Ich streckte ein Bein aus, die flache Treppe hinunter in den Gang. In der allerletzten Reihe des Busses zu sitzen, zu zweit, heilte verlorene Wunden meiner Kindheit. »Warte.«, fiel mir ein. »Wieso 65 Dezibel, wenn du gestern gesagt hast, du könntest selektive, menschliche Sinne manipulieren? Wieso kannst den anderen Leuten hier drin nicht die Ohren stopfen? Oder eine Schallmauer um uns bauen?« Die Fragen waren so absurd, dass es fast normal war, sie zu stellen. Wie ein Spiel.

»Ich kann mich vor selektiven, menschlichen Sinnen verbergen, Louis. Am besten vor deinen. Dich zu verstecken... Nein. Deine Zellen«, er streckte eine Hand aus, als wollte er mich berühren, schien es sich aber anders zu überlegen, »können weniger leicht das Licht verfälschen.«

»Es geht ja gerade auch ums Hören, nicht ums Sehen.«, erinnerte ich.

Harry faltete seine Hände im Schoß. »Ich kann es nicht, Louis. Aber unter 65 Dezibel sollten wir sicher sein.«

Ich sah ihn an, mit all seinen Quadratzentimetern Haut, und versuchte, 121 Jahre Lebenserfahrung in seinem Gesicht zu finden. Unmöglich. Nicht mal seine Augen verbargen solches Alter.

»Ich altere langsamer als du.«, erklärte Harry sanft, als könnte er sehr wohl meine Gedanken lesen. »Physis und Psyche.«

Seine Worte sickerten in meinen Verstand, setzten sich fest, Atom für Atom. »Das heißt...« Ich suchte nach Lachfalten in seinem Gesicht, Sorgenfalten, kleinen Narben; nichts. »Wie alt bist du?«

»121 Jahre, 10 Monate, 26 Tage-«

»Umgerechnet, meine ich. In Menschenjahre.«

Harry zögerte. Hinter ihm zog ein kleines Waldstück vorbei. »So funktioniert das nicht, Louis. Für mich trennen sich episodisches und semantisches Gedächtnis. Was ich semantisch lerne...es lässt meinen Verstand nicht altern. Meinen Körper auch nicht. Bis du geboren wurdest, bin ich nicht weit gereift. Ich war 100 Jahre alt, aber das ist nicht, was es für dich bedeutet. Erst mit deiner Geburt... Solange ein Engel noch nicht ausgewachsen ist, kann das Band an einen Menschen ihn enorm mitziehen.«

Ich wollte alles, was er sagte, aufsaugen, aber es gab zu viele Lücken. »Mitziehen?«

»Menschen altern sehr schnell.«, erklärte er also weiter. So viel Geduld in seiner Stimme. »Das weißt du, du erlebst es. Du alterst so schnell und stark, dass dein Herz an meinem mich mitzieht. In den Jahren seit deiner Geburt sind mein Körper und Verstand schneller gewachsen als in den 100 davor. Sehr wahrscheinlich bist du stark genug, dass mein Körper noch zu deinem Lebtag abschließen wird.«

Mein Mund klappte seicht auf. »Ich bringe dich um?!«

Harry sah so irritiert aus, dass ich ihm nicht mehr übelnehmen konnte, dass er gesagt hatte, ich würde schnell und stark altern – was definitiv kein Kompliment war. »Nein! Ich werde ausgewachsen sein. Wenn wir dich lange genug am Leben erhalten.«

»Ausgewachsen?« Als wäre er ein kleiner Hundewelpe, eine Raupe mit Verpuppungsplänen, ein schreckliches Monster der Wildnis.

»Mein Körper, ja. Ich höre auf zu altern, physisch. Meine Psyche altert weiter. Grenzenlos. Lernen und Erleben.« Er legte die vertrauten Finger an seine Schläfe, für den Bruchteil einer Sekunde, dann senkte er sie wieder. »Und dafür gibt es die Zahl, nach der du fragst. Eine Umrechnung. Weil mein Körper nach deinem Vorbild gestraft wurde, funktioniert dort das Verhältnis. Wenn mein Körper aufhört zu altern, entspricht er dem Optimum der meisten menschlichen Attribute. 24 menschliche Jahre, oder 25. Mit einer besseren Lunge.«

Selbst wenn ich es schaffte, ihm zu glauben, begriff ich fast gar nichts. Harry alterte bis 25 und dann... »Und dann?«

»Dann bleibt mein Körper.«

»Bis?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Unklar.«

»Unklar?«

»Ich bin unsterblich, Louis.«, sagte er und scannte erneut den Bus auf unerwünschte Ohren ab. Aber alle Menschen waren so weit entfernt wie vorher und ich hoffte, dass wir 65 Dezibel noch nicht überschritten hatten und etwas Kleines in meinem Hinterkopf schwindelte.

Unsterblich. Unsterblich wie Unbegreiflich. Unbegreiflich wie Unmöglich.
Unsterblich wie Unmöglich.
Aber doch nicht absurder als alles andere, was er heute gesagt hatte. Nur unmöglich für meinen Kopf zu verarbeiten.

»Du lebst für immer?«

»Unsterblich, Louis, nicht unendlich.«

Es gab nichts zu tun, es gab nicht mal zu wissen. Wissen wie? Wissen was? Ich alterte schnell und stark; wie konnte es sich da noch lohnen, meine Zeit aufs Lernen zu verschwenden? Ich existierte, um Harry ein bisschen mitzuziehen, in ein finales Alter zu schubsen und dann für immer gesund und so schön wie nur irgendwie möglich zu sein. Für immer, aber nicht unendlich. Nur unsterblich.

»Was heißt das?«, fragte ich mit noch immer trockenem Mund. Meine Zunge verfluchte mich und Harry und alles, was mich je an diesen Punkt gebracht hatte.

»Ich bin unsterblich, Louis; ich altere nicht, bis ich daran sterben würde. Aber ich existiere nicht für immer. Erstmal nur auf unbestimmte Zeit.«

Ich schluckte und bereute es sofort. »Also stirbst du.«

»Ich werde aufhören, zu existieren.«

»Das ist Sterben, Harry. Du bist sterblich.«, beharrte ich. Vielleicht hatte er nie gelernt, was es bedeutete, sich mit falschen Wörtern zu belügen. Und vielleicht musste ich mich gerade mit allem, was ich noch hatte, an das klammern, was mir blieb. Was ich wusste und kannte.

»Unsterblichkeit heißt nicht, dass ich nicht sterben kann, sondern, dass ich nicht sterben muss.«

»Aber du stirbst irgendwann. Du musst irgendwann sterben.«, protestierte ich weiter. Sah er es nicht?

Harry sah mich an und plötzlich überkam mich das ungute Gefühl, dass er mich bemitleidete. »Unklar.«, wiederholte er, und ich wollte wieder eingrätschen, ihn an seine eigenen Worte erinnern, aber er fuhr fort. »Engel müssen nicht sterben. Es gibt Engel, die seit dem Beginn der Zeit existieren. Vielleicht lebe ich sehr lange. Vielleicht lebe ich...länger.«

Seit dem Beginn der Zeit. Und länger. Ich wusste nicht mal, was das bedeuten sollte. Ich wusste gar nichts. Und so redete Harry weiter.

»Ich bin ein sehr junger Engel, Louis. Ein sehr, sehr junger Engel. In Körper und Psyche mag ich so alt sein wie du, aber im Verhältnis von allem, was der Himmel je gegeben hat und noch geben könnte... Ich bin jung. Das darfst du nicht vergessen. Deswegen habe ich all die Fehler begangen.«

Es war zu viel auf einmal, ich wusste es schon jetzt, aber es war wie eine Droge. Harry mit Wahrheiten, die zu klar waren, um sie auch noch zu glauben. Harry war 121 Jahre alt und wusste nicht, ob er jemals sterben würde. Und ich, wenn ich wenigstens ein bisschen robust war, würde ihn einen Bruchteil dieser Zeit ein bisschen beschäftigt halten.

»Harry«, sagte ich, um mich festzuhalten. Von hier hinten war der Bus so lang. Wie ein Tunnel mit Fenstern, wie kein Tunnel. Wir hatten die Randbezirke von Leeds erreicht, die Häuser, die zweimal die Woche an mir vorbeizogen wie Omen aus Backstein. Wenn ich nur genau genug hinsah, gäben sie eine Zukunft frei, die ich nicht meine nennen wollte. Leeds, eine der größten Städte des Landes, und für mich hatte es nur ein Gesicht. »Was ist im Himmel passiert?«

Harry musste den Blick auch vom Fenster reißen. Ich sah es ihm an, ausnahmsweise mal, er konnte nicht verstecken, wie seine Augen sich drehen wollten, zuckend wie von einem Magneten angezogen. Eine ganze Welt hinter einem Fenster und sie war nie seine gewesen. Aber jetzt musste er ernst sein. »Konsultation.«

Ich wartete auf mehr, aber Harry ließ sich Zeit. Ich wusste zu wenig, um eine Nachfrage zu stellen, dabei wollte ich sie alle stellen. Frage um Frage für Antwort um Antwort. Konsultation. »Bitte sag mehr.«, bat ich schließlich.

Ich sah ihn im Profil. Seine Wimpern schlugen sanfte Bögen wie in Sehnsucht nach den Haaren, die sich dick um Harrys Schläfen kringelten. Wenn ich all das hier irgendwie hätte voraussehen können, dann mit einem Blick in Harrys Gesicht. Um Perfektion zu erreichen, konnte das einzige Opfer Menschlichkeit sein. »Liam hat mich erwartet.«, begann er.

»Dein Mentor.«, sagte ich, aber vielleicht war es eine Frage.

»Ja.«

»Was heißt das, Harry?«

»Liam unterstützt mich. Er ist meine nächste Instanz für Rat. Er hat mir in meiner Ausbildung zur Seite gestanden. Liam ist weiser als ich.«

Ich bemühte mich, mir einen anderen Engel vorzustellen, einen Liam, aber es war unmöglich. Harrys Ausbildung, ich wollte mehr darüber erfahren, aber das war jetzt wohl nicht Hauptpriorität. »Also hast du Liam konsultiert.« Ich war mir nur immer noch nicht ganz sicher, worüber konsultiert werden musste. Harry sprach von Fehlern, Chaos, aber was meinte er damit wirklich?

»Es waren nicht nur Liam und ich.«, berichtigte er. »Während ich bei dir war, hat sich ein Komitee versammelt. Es hat mich erwartet, als ich zurückgekehrt bin.«

Die Fragen in meinem Kopf nahmen Form an, aber ich wusste, dass Schweigen mir wahrscheinlich mehr Antworten einbringen würde. Wenn Harry einmal redete, sollte ich ihn reden lassen.

»Du musst verstehen, Louis, dass ich den Himmel unbalanciert verlassen habe. Und um deinetwillen, bis dein Herz sich ein wenig beruhigt hatte, war ich lange weg. Das ist kein gewohnter Zustand. Der Himmel leitet wie Silber. Beunruhigung ist ein Lauffeuer in den Herzen. Es ist gut, dass ich nicht länger bei dir geblieben bin.«

»Ich kapiere einfach nicht, was das alles mit mir zu tun haben soll.«, formulierte ich sehr genau mein größtes Verständnisproblem. Dass Harry ein Engel war und im Himmel Konsultationen mit anderen Engeln – mit anderen Engeln? – abhielt, die Emotionen miteinander teilten wie in einem Bienenstock? Alles schön und gut. Mit dem Sicherheitsabstand von Unglauben konnte ich mir das alles vorstellen. Wie ein Buch, wie ein Film, wie ein Schattenspiel, ein Spiel, ein Spiel und nichts als ein Spiel. Aber wenn ich eine Rolle in dem allen einnehmen sollte...nein.

»Dein neu erworbenes Wissen.«, sagte Harry weich, als könnte ich sonst brechen. »Dass du davon weißt, ist das Problem.«

Ich hob eine Hand, weil sie mehr sagen konnte als meine Zunge. »Dann hättest du es mir nicht erzählen sollen!« Die Kritik war unfair, sogar ich hatte mittlerweile das Missverständnis begriffen; dass ich Harry einen Engel genannt und er daraufhin eine falsche Kettenreaktion ausgelöst hatte. Aber wenn er irrational sein durfte, dann durfte ich es ja wohl auch.

»Das ist wahr.«, stimmte Harry zu und ich senkte die Hand. Ich Idiot. Harry sah aus, als wäre er dazu bereit, aus dem fahrenden Bus zu springen, wenn das die letzten 24 Stunden zurückdrehen könnte.

Ich bemühte mich um ein offenes Gesicht, verständnisvoll. Ich glättete jeden Gedanken, der es verziehen wollte. »Wieso ist es so schlimm, dass ich es weiß?«, fragte ich vorsichtig und mit der Honigstimme, die beweisen musste, dass ich reif genug war, es zu erfahren.

Der äußere Ring von Harrys Augen war so dunkel, er war fast braun. Wie konnte er so alt sein und so klare Augen haben? »Es kann sicherer sein, wenn ein Mensch nichts von seinem Engel weiß. Für Schützling und Engel. Und in deinem Fall-« Er senkte den Blick auf meine Hand oder das Sitzpolster. Ich wollte seine Finger berühren, sie mit meinen verschränken, und ihm sagen, dass alles okay war.

Stattdessen zog ich meine Hand aus seinem Blickfeld auf meinen Schoß. »In meinem Fall..?«

Widerwillig sah er auf. »Ja.«, sagte er, als würde es alles erklären. »So war es nicht vorgesehen.«

Enttäuschung wie verwaschenes Metall auf meiner Zunge. War das alles, was er mir dazu sagen konnte? Musste ich mich damit zufrieden geben? Leeds entfaltete seine Straßen, als würde es erst mit unserer Anwesenheit beginnen zu existieren. Harry schenkte der Stadt keine Aufmerksamkeit mehr. »Was hat das Komitee gesagt?«, erkundigte ich mich behutsam.

»Supervision.«, antwortete Harry. Er suchte mein Gesicht ab; wonach? Reaktion? Ich konnte nicht reagieren, wenn ich nicht wusste, worauf ich reagierte.

»Supervision?«

Er nickte mit den Augen. »Der Plan wurde geändert. Du bist nicht sicher.«

Ich hätte vorhin etwas trinken sollen, als mir zum ersten Mal aufgefallen war, wie trocken mein Mund war. Jetzt konnte ich nicht nach meiner Flasche suchen. Nicht jetzt. »Ich bin nicht sicher? Nicht sicher vor...?« Etwas blinkte, hinter meinen Augen. »Wovor? Vor mir selbst? Vor anderen...Menschen? Vor? Oder...für? Für andere Menschen? Harry?« Kalte Kälte und klebrige Angst krochen meinen Rücken hoch. »Bin ich in Gefahr oder bin ich die Gefahr?«

Überforderung direkt unter seinem Haaransatz, als würde sie von dort über seine Stirn auslaufen. »Du...«, vielleicht war sein Mund auch trocken oder etwas sehr viel Schlimmeres. »Ich werde wachen, Louis.«

Ich starrte. Nicht mehr und nicht weniger. »Über mich?«

»Über dich.«

»Über mich wachen oder mich bewachen?!«

Die dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen, ich war mir sicher, dass sie dunkler als meine waren. Entweder verstand er die Distinktion meiner Frage nicht oder er wollte nicht antworten. Große Augen und zu viel dahinter.

»Fuck, Harry, du kannst nicht-« Aber er zuckte zusammen, sah für eine Sekunde gar nicht gut aus. Meine linke Hand vergrub sich in den Stoff meiner Jeans und verdünnte Wut schwappte über meinen Schoß. »Oh, komm schon, Harry, erzähl mir nicht, du kannst keine Schimpfwörter hören, weil du ein Engel bist! Wegen Gott und braver Frommheit? Komme ich jetzt in die Hölle?«

Spannung hatte sich in meine Stirn gefressen, aber das war es nicht. Harry sah verstört aus, bestürzte Nasenflügel, verlorene Lippen. Sofort wollte ich mich entschuldigen. Wie konnte ich es verantworten, dieses Gesicht zu brechen? Ich hatte es einmal zuvor gesehen, schlimmer, so viel schlimmer, und das durfte garantiert nicht wieder passieren.

»Harry, ich-«

Aber er kam mir zuvor und hob viel zu langsam seine rechte Hand. Ein unmöglicher Finger legte sich vor seinen Mund. »65 Dezibel.«, sagte er leise, und eindringlich, und etwas in seiner Stimme war kaputter als vor einer Minute noch.

»Es tut mir leid, Harry.«, hauchte ich in sicherer Lautstärke und wollte meinen eigenen Schädel einschlagen. »Tut mir leid.«

Er senkte den Kopf, nicht viel, nicht stark, nicht vor mir, vor etwas Größerem. »Deswegen bist du nicht sicher, Louis.« Der Vorwurf war für mich nicht hörbar, es war nur Harry, mit einer kompletten Wahrheit.

Ich schämte mich so sehr. Meine Wangen mussten rot sein, wenn die Wärme nicht log. Was konnte ich jetzt noch sagen? Das war die Gefahr; mein impulsiver Mund. Was ich mit ihm sagen konnte, sobald ich es nur wollte, wenn auch nur für eine einzige Sekunde. Dass ich Harrys Augen so aussehen lassen konnte wie eben noch, schwer, als würden sie sich verflüssigen wollen und über seine Wangen den Boden unter seinen Füßen gießen. Das dreckige Polster des Sitzes.

»Du solltest etwas trinken.«, sagte Harry, natürlich. Ich wollte nicht, aber tat es trotzdem. Sein Blick folgte meinen Bewegungen; dem Schlitten des Reißverschlusses unter meinen Fingern, der Terror meines Handgelenkes beim Aufdrehen des Flaschendeckels, die Sprünge meines Kehlkopfes bei jedem Schluck. Das Wasser war sauer, aber es war mein eigener Rachen.

»Also...«, begann ich, als ich mich wieder traute. Es war eh egal. Jetzt hatte Harry mich durchschaut, »du musst mich überwachen..?« Die Worte klangen bitter, auch wenn ich es nicht beabsichtigte.

Harrys Fingerkuppen warfen Falten in den weißen Stoff über seinen Oberschenkeln. »Es ist nicht so einseitig, Louis. Ich schütze dich und vor dir. Das Komitee hätte nicht... Ich habe die Entscheidung unterstützt.«

»Großartig.« Ich konnte es mir nicht verkneifen. »Also schickt der Himmel mir einen Stalker bis ans Ende meiner Tage? Schweben gerade noch ein paar andere Engel über unseren Köpfen? Habe ich eine ganze Schutzeinheit?«

Harry war verwirrt, und besorgt. Vielleicht lernte ich wirklich langsam, ihn zu verstehen. »Nein! Ich, nur ich. Und ich werde nicht... Ich werde dich nicht die ganze Zeit überwachen. Ich werde im Himmel gebraucht. Und...du kannst mich wegschicken, Louis, wenn ich...wenn du alleine sein willst. Aber... Ich habe Ja gesagt, weil ich dachte...« Sein Blick hatte meine Brust fixiert, den Pullover unter meiner offenen Jacke. Röntgenblick? »Wir können Zeit miteinander verbringen. Jetzt, wo du es weißt. Meine Existenz ist keine Lüge mehr und ich dachte...« Er sah auf, klebte an der Brücke zwischen meinen Augenbrauen.

»Harry«, sagte ich, weil es mir das Herz brach. Ich unterdrückte das Seufzen, das unter meinem Brustbein schlummerte und bemühte mich, für einen einzigen Moment alles zu akzeptieren. Alles. Akzeptanz bis in meine Knochen sickern zu lassen. »Wir können Zeit miteinander verbringen.«, war mein letztendliches Zugeständnis. Wieviel daran jetzt ein ›kann‹ oder eher ein ›muss‹ war, wusste ich noch nicht, aber darüber würde ich mir später Sorgen machen. »An der nächsten Haltestelle muss ich raus.«

Harrys Hals knickte, sein Körper folgte und grüne Augen verfolgten wieder, was sich hinter dem Dreck der Scheibe abspielte. Menschen in dicken Jacken, dicken Schuhen, dicken Schals. Rote Nasen und sandfarbene Häuser. Leeds in einem frostigen Vor-Vorweihnachtsttrubel.

»Wieso ist Johannah hier?«, fragte Harry, Blick noch aus dem Fenster gerichtet. »Wieso nicht in Doncaster?« Er saugte den Schatten der Häuser auf, das Pflaster der Steine, und hatte keine Ahnung, wie grausam er sein konnte. Aber noch bevor ich mir eine Antwort zurechtgelegt hatte, sah er mich an. »Wieso bist du nicht in Doncaster?«

Ich blinzelte, als könnte es mir Zeit verschaffen. Mein Rucksack stand neben mir, ich hob ihn auf meinen Schoß und checkte die Reißverschlüsse. Alle zu. »Menschen bewegen sich, Harry.«

Er musterte den Rucksack, als würde er alle Geheimnisse der Menschheit in sich tragen. »Aber du warst glücklich..? Als Kind, in Doncaster?«

Die Luft war dicker, in meiner Luftröhre, zwischen mir und Harry. Konnte er sich das leisten, eine ganze Kindheit so zu pauschalisieren? Das trübe Buslicht warf die Schatten seiner Wimpern auf verschiedene Versionen seiner Wangen. »Das warst wirklich du, damals.«, sagte ich, unter 65 Dezibel. »Im Baum.«

Harrys Augen wurden größer, und dann, endlich, ein winziges Lächeln. »Ja.«

»Du warst... Warst du immer da? Als ich klein war?«

Und das Lächeln fiel wie über die Klippe gestoßen. »Nein.«

Der Motor brummte unter meiner Haut, lauter, und plötzlich wurde mir bewusst, dass direkt hinter unseren Köpfen die ganze Zeit ein riesiges Fenster geklafft hatte. Ich stand auf. »War ich in Gefahr?«, fragte ich und versuchte, meinen Gaumen davon zu überzeugen, dass es normale Worte waren.

»Nein!«, sagte Harry schnell und saß immer noch. Vielleicht würde er sitzen bleiben. In der letzten Reihe des Busses, auf dem letzten Platz in der Ecke, hauchdünn gekleidet in weißen Stoff wie ein Geist an Vorboten eines Wintertages. Vielleicht ließ ich ihn sitzen und dann war ich es, den er durch die Scheibe sah. Rote Nase, keine dicke Jacke, keine dicken Schuhe. Nicht mehr in Doncaster.

»Ich habe dich besucht.«, erklärte Harry.

Ich schulterte meinen Rucksack und stemmte meinen Körper gegen das Bremsen des Busses. »Einfach so?«

»Aus Neugier.« Er stand auf.

Neugier. Vielleicht das intimste aller oberflächlichen Gefühle. »Ich muss aussteigen.«, sagte ich und drehte mich um in den Gang, weil ich wusste, dass Harry folgen würde.

Er folgte. Der Bus hielt wie in Zeitlupe. Ich hielt mich an einer stützenden Metallstange fest, zwei andere Leute warteten schon an der Tür. Harrys Gesicht wurde zu einer schockierten Maske, als er sich direkt neben einem Mann so alt wie meinem Vater fand. Direkt wusste ich, wie ungewohnt es war, Harry in einem so geringen Abstand zu einem anderen Menschen zu sehen. Wie ein Bankräuber ertappt im Scheinwerfer eines Hubschraubers. Ich war mir sicher, dass er nicht mehr atmete. Fast hätte ich gelacht, aber in dem Moment öffnete sich zischend die Tür.

»Es ist kalt draußen!«, warnte ich zu spät. Ganz vergessen, dass Harry sich ja von wo auch immer direkt in den Bus gebeamt hatte. Die drei Stufen waren stumpf unter meinen Füßen und dann hatte ich es geschafft. Raus aus dem Bus. Ohne, dass er mich berührte, wusste ich, dass Harry direkt hinter mir war. Wenn nicht dank meines sechsten Sinnes, dann durch die irritierten Blicke der Menschen, die hängenblieben, sich wegrissen und doch wieder hinsehen mussten. Nackte Füße und ein Kleid wie Kirschenblüten. Es war so offensichtlich. Wie hatte ich so lange blind sein können?

Ich warf Harry erst wieder einen Blick über die Schulter zu, als wir es ein paar Ecken weiter geschafft hatten. Und falls ihm kalt war, steckte er es gut weg. Eine sanfte Röte zog sich über seine Wangen wie ein Schatten seiner Lippen, aber das war's. Es gab mehrere Dinge, die ich tun wollte, nur blieb mir keine Wahl. »Ich nehme dich nicht mit zu meiner Mum.«, sagte ich so endgültig wie möglich.

Aber er schien zu wissen, dass Diskussion wirklich keine Option war. »Vielleicht irgendwann.«

Es ging nicht anders, ich musste mir Harry mit meiner Mum vorstellen. Wie sie schmelzen würde, vielleicht weinen, wenn sie ihn sah. Harry, lächelnd, einen Kommentar über eine glückliche Kindheit auf den Lippen. Bis seine Seifenblase platzen würde. »Harry.« Feiner Dampf umhüllte seinen Namen und verflüchtigte sich in der Luft über unseren Köpfen. »Wieso sollte es sicherer sein, nicht davon zu wissen, dass man einen Schutzengel hat?«

Seine Augenbrauen zuckten, aber nicht überrascht. Ihm musste bewusst sein, dass er nicht damit davonkommen würde, alle Fragen unbeantwortet zu lassen. »Du könntest leichtsinnig werden.«, erklärte er. »Wenn du weißt, dass ich da bin. Aber ich kann dich nicht vor allem schützen.«

Es war nicht die ganze Antwort und ich wusste es sofort. Aber ich nickte. Leichtsinn. Vielleicht würde nicht ich es sein, der am Ende zu leichtsinnig war. »Du musst jetzt gehen, Harry.«

»Ich weiß.« Er blieb stehen und es war ein Reflex; ich tat es ihm gleich. Neben ihm kroch eine kleine Gasse zwischen zwei Häusern hindurch, als hätte sie sich nur für Harry aufgetan. Sie war menschenleer. Eine Mülltonne war mit Reif gesprenkelt. Harry würde sich also einfach wieder in Luft auflösen; im Schutz von Müllcontainern und engen Backsteinen.

»Danke Harry.«

Er lächelte federleicht. Kurz dachte ich, es wäre so weit und er würde einfach verschwinden, aber dann doch nicht. »Eine Sache noch, Louis.« Seine Augen funkelten mit mehr als Lichtreflexen. »Du hast auch eine Aufgabe.«

»Ich?«, fragte ich, obwohl ich ihn sehr gut verstanden hatte. Und eine Frage, die ich mich nicht traute, zu stellen: ›Eine Aufgabe aus dem Himmel?‹

»Ich habe neugewonnene Freiheiten auf diesem Planeten, mit deiner Supervision. Ich werde unumgänglich mehr Zeit unter Menschen verbringen.«, erklärte er sachlich. »Und da ist es wichtig, dass... Dass ihr mich für einen von euch haltet.«

Zahnräder in meinem Gehirn, ungeölt. Meine Zunge rostig. »Ich soll dir beibringen, ein Mensch zu sein?«, fragte ich ungläubig.

Harry nickte. »So wie das. Nicken. Du bist ein Mensch; ein guter Lehrer. Du möchtest Lehrer werden. Ich brauche deine Hilfe.«

Hilfe. Hilfe.

»Tschüss Louis.«

Ich war nicht schnell genug. Seine Finger flogen zu seiner Schläfe und er zerfiel zu nichts, als hätte ich zu lange geblinzelt. Ich wartete, vielleicht eine halbe Minute, aber ich blieb alleine.
Harry war wirklich ein Engel. Und ich würde ihn wiedersehen. Um seiner Supervision zu unterliegen. Um ihn zu einem Menschen zu machen.

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