Wissen
Langsam erklomm ein Herr die Treppenstufen zu seiner Wohnung. Schnaufend schleppte er sich Stufe für Stufe immer weiter hinauf. Seine morschen Knochen knarrten bei jedem Schritt und das laute Knacken steifer Gelenke dröhnte wie Peitschenhiebe in seinen Ohren. Die Kakophonie des alternden Körpers übertönte sogar das Ächzen der in die Jahre gekommenen Stiegen zu seinen Füßen.
„Ich bin ein wahrer Klangkörper“, murrte der Alte schnaufend. Er fühlte sich um Jahrhunderte gealtert. Gestern noch flanierte er als junger Mann frisch und fröhlich im Sonnenschein mit seiner Greta im Arm durch die Parks. Vögel zwitscherten und Bienen summten, das Paar flüsterte sich heimlich kichernd Liebeleien zu. So unbeschwert war das Leben damals gewesen, ohne Greta war es schwer geworden. Die Sonne schien nicht mehr, keine Vögel zwitscherten ihm zu, die Bienen summten ihre Lieder für andere. Das Leben war grau und düster mit Regenwolken und bellenden Hunden. Er selbst fühlte sich hohl und leer, ebenso wie die Wohnung, die ihn am Ende des Treppenaufstieges erwartete. In beiden war es still und einsam.
Eine gefühlte Ewigkeit später war das Domizil endlich erreicht. Erschöpft stand der alte Mann vor dem Eingang und suchte mit hölzernen Fingern fahrig nach seinem Schlüsselbund. Als sie ihn endlich zu greifen bekamen, hatte er Mühe den Bund zu halten, so verkrampft war die Hand. Schließlich schaffte er es, seine Gliedmaßen unter Kontrolle zu zwingen und das Schloss zu öffnen.
Mit wackeligen Beinen trat der Herr in sein verstaubtes Heim ein, welches nur noch einen dumpfen Schatten seiner früheren Behaglichkeit zu vermitteln mochte.
Die Tür wurde ängstlich fest verriegelt. Wovor er sich fürchtete, das vermochte der ergraute Herr beim besten Willen nicht zu sagen. Das Wissen darüber fehlte ihm schlichtweg. Die Tür fest zu verrammeln, gab nichtsdestotrotz ein Gefühl der Sicherheit. Der Alte wusste wohl: Ein Riegel hält Freund Hein nicht von seinen Pflichten ab. Es verschaffte ihm dennoch Befriedigung zu wissen, dass der Gevatter ihn nicht in Form eines irdischen Eindringlings würde besuchen kommen.
Seufzend lehnte er sich gegen das Holz und war versucht, sich einfach daran hinab sinken zu lassen. Die Gedanken waren schwer, sein Körper müde, so unendlich müde. Er war nicht mehr der Jüngste. Die Erkenntnis traf ihn mit jedem verstreichenden Tag härter. Seine Tage waren so gut wie gezählt. Daher gab er seiner inneren Stimme auch nicht nach. Ließe er sich jetzt zu Boden gleiten, er käme wohl nicht so schnell wieder auf die Beine. Stöhnend schleppte er sich stattdessen zu seinem durchgesessenen Sofa und fiel dort kraftlos in die muffigen Kissen. Das Zimmer roch alt, die Luft war abgestanden. Die Fenster waren vor einer unbekannten Zeitspanne zuletzt geöffnet worden und die Vorhänge dämpften das ohnehin graue Licht, welches von draußen durch die ermatteten Scheiben fiel.
„Ach mein armer Schatz. Du schaust ja völlig erschlagen aus!“ Liebevolle, vertraute Worte umarmten ihn, hüllten den Alten in einen Kokon aus Wärme und Geborgenheit. „Ich werde dir einen Tee machen." Die Ruhe und Beständigkeit dieser einfachen Worte ließen ihn entspannt durchatmen. Er wollte schon antworten, als er erschrocken hochfuhr. Seit Jahren war er allein in diesen vier Wänden. Schlagartig fuhr sein Puls nach oben, heiße und kalte Schauer liefen dem Alten über den Rücken.
„Wer ist da?", fragte er mit zittriger Stimme, mit einem Mal wieder hellwach. Alle Sinne liefen auf Hochtouren, die Umgebung war mit einem Mal klar und deutlich wahrzunehmen. Der Schleier der Gleichgültigkeit hatte sich gelichtet und hinterließ nacktes Entsetzen. Jedes Staubkorn stach in deutlicher Präzision hervor, der Straßenlärm dröhnte laut und durchdringend von draußen hinein und die Federn des heruntergekommenen Mobiliars stachen unangenehm in sein Gesäß.
„Aber, aber!", schallte es vorwurfsvoll aus der Küche zu ihm herüber. „Du wirst doch deine Frau noch erkennen?" Er konnte Greta bei diesen Worten bildlich vor sich sehen. Die Hände in die Hüften gestemmt, eine Augenbraue warnend hochgezogen und mit einem Blick, der Feuer zum Erfrieren brachte. Dabei trotzdem voller Güte und Wärme für ihn, auch nach 30 Jahren Ehe noch, obwohl es nie einfach zwischen ihnen gewesen war.
Geklapper von Geschirr erklang. In dem Wasserkocher brodelte es. Die ungewohnten Geräusche lösten ihn aus seiner Erinnerung. Der Alte schüttelte sich. „Meine Frau ist nicht mehr hier. Schon seit Jahren nicht mehr." Trauer und unterdrückte Tränen schwangen in seiner Stimme mit, aber auch Wut auf den Eindringling, der so ein perfides Spiel mit seinen Gefühlen trieb. Er schüttelte sich, Galle stieg den Hals hinauf und ließ ihn würgen.
Keuchend stemmte er sich von der Couch hoch und suchte mit nervösem Blick seine nähere Umgebung nach einer geeigneten Waffe ab. Er fand nur einen Kugelschreiber auf dem abgewetzten Wohnzimmertischchen. Das musste wohl ausreichen. Den Stift fest mit seinen Fingern umschlossen, schlich er langsam Richtung Küche. Seine Glieder glitten nun lautlos voran, als wüssten sie um die Brisanz der Situation. Eine Diele knarrte unter seinen Schritten, das plötzliche, laute Geräusch ließ ihn zusammenzucken.
Der Wasserkocher schaltete sich mit einem Klicken aus, das Klappern von Geschirr war verstummt. Zaghaft lugte der Grauhaarige durch die Küchentür. Die Kochstube hatte nur den Ausgang zum Wohnzimmer, wenn man von dem Fenster einmal absah. Der ungebetene Besucher würde ihm also unweigerlich begegnen müssen, wollte er fliehen.
Doch der Raum war leer. Auf dem Tresen stand eine dampfende Tasse. Gretas lächerliches Teemännchen hing in dem heißen Wasser und gab das Aroma seines Inhalts an die Flüssigkeit ab. Fast hätte der Alte darauf gewettet, dass es sich dabei um seine Leib-und-Magen-Teemischung handelte, aufgebrüht mit genau der richtigen Menge Blätter und Zucker. Die bauchige Tasse war ein Geschenk von Greta zu ihrem Hochzeitstag gewesen. Seine Frau hatte das Stück in einem Töpferkurs selbst hergestellt und es war seit ihrem Tod die einzige Tasse, die er nicht mehr nutzte, nicht mehr nutzen konnte. Er hatte Sorge, das wertvolle Geschirr könne durch eine Unachtsamkeit seinerseits oder ein Versagen seiner Hände zerbersten. Es wäre unwiderruflich verloren. Greta wäre ihm noch ferner als jetzt schon.
Auch jetzt zitterten seine Hände wieder, die Beine boten ihm kaum Halt und er musste sich an den Türrahmen stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Du solltest wirklich besser auf dich Acht geben, Pummerle. Du bist so blass und siehst erschöpft aus. Nimm morgen lieber die Bahn und lass das Auto stehen." Die so vertraute, fremde Stimme erklang nun hinter ihm, aus dem Wohnzimmer.
Ruckartig drehte der Alte sich um und wäre darüber fast gestolpert. Gerade noch konnte er sich wieder fangen. Kurz meinte er, einen Rockzipfel in der Tür zum Flur verschwinden zu sehen, aber das konnte nicht sein. Die Wohnung lag ruhig und leer.
Seine Greta hatte immer Röcke getragen, selbst im Winter, doch Greta war fort. Eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg aus seinem Augenwinkel über die faltige Wange, wollte hinab zum Boden und blieb in seinem Bart hängen.
Aufgelöst saß er am Küchentisch und trank den inzwischen nicht mehr dampfenden Tee. Wie erwartet, waren alle Zutaten perfekt aufeinander abgestimmt, gerade so, wie er es mochte und seine geliebte Greta es perfektioniert hatte. Er hatte es nicht übers Herz bringen können den Tee wegzuschütten. Doch es hatte ihn Überwindung gekostet, das Gebräu zu probieren. Als er den Becher schließlich mit bebenden Händen an die Lippen setzte, war das Getränk schon längst erkaltet. Nichtsdestotrotz wirkte es beruhigend und belebend auf ihn. Seine Gelenke fühlten sich weniger kalkig an und die bleierne Müdigkeit wich nach und nach gelöster Entspannung.
Vielleicht sollte er morgen wirklich mit dem Zug zur Arbeit fahren.
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