Kapitel 6;2 - Ausdruckslose Ehrlichkeit
Roan wühlte durch sein Notizbuch — es war das erste, das er vollgeschrieben hatte; in dem er noch keine ordentliche Führung gehabt hatte und Poesie neben Notizen geschmiert war.
Er hasste die scharfkantigen Unterbrechungen, in denen Literatur von Realität abgeschnitten wurde. Nicht nur in seinem Buch. Das war vielleicht das größte Problem der Gesellschaft: der fehlende, fließende Übergang. Der Mensch war Kunst — irgendwie. Und vor allem in dieser Stadt war alles Leben künstlich. Wo war der Unterschied zwischen Kunst und sinnvoller Entdeckung?
Er hasste die Realität und die Steifheit des Verstands, die mit ihr kam. Er wollte in seinem Kopf versinken.
Doch in einer kleinen Stadt, wie Mat'Her, gab es keinen Platz für Denker.
Die Stadtwacht war der richtige Ort für ihn — für jemanden, der immer zu viel wollte. Das hatte sein Vater schon damals gesagt; und nun sagte Roans Mentorin es ihm.
Roan schaute missmutig in den Himmel. Es war bewölkt; relativ windig, doch warm genug, dass er in seiner langen Uniform schwitzte.
Mitten im Stadtkern, hinter dem unscheinbaren Café, erstreckten sich gewaltige Rosenbeete, die das gesamte Haus umschlossen. Im Gegensatz zur restlichen Geschäftigkeit der Stadt war dieser Ort ein reiner Ruhepol. Hier brannten nur Kerzen in der Nacht.
Einige Möbel standen draußen — leer gelassen von Besuchern. Es war der Hintereingang zum Gebäude; dort, wo der Zodiak lebte. Vielleicht also war es sein privater Garten.
Die Blumen schossen gegen die Wolken empor und baumelten über Roans Kopf, als versuchten sie den bedeckten Himmel nachzuahmen.
Seine Mentorin schnitt sich einen Blütenkopf ab und stopfte ihn in ihre Umhängetasche.
Sie klopfte anschließend an der schweren Holztür, die nach einigen Sekunden von einem Mann mit schulterlangen Haaren geöffnet wurde — etwa Roans Alter. Vielleicht war das sogar der Angestellte, mit dem er in der Bar getrunken hatte. Das würde ihn nicht wundern.
Er sah über die Schulter seiner Mentorin. »Guten Tag. Ich bin hier, um Ihnen und Ihrem Herrn einige Fragen zu stellen«
Der Angestellte zog die Wangen ein, aber öffnete die Tür, ohne zu zögern. Er murmelte eine halbherzige Begrüßung.
Dass das Café den klanglosen Titel „zum goldenen Zodiak" hatte, ignorierte Roan.
Sie befanden sich in einem kleinen, hinteren Gebäude, das sich an den Verkaufsraum anschloss.
Roan hielt den Blick auf den Boden gesenkt, irgendwo zwischen der zerstörten Fliese, die nur durch zwei andere gehalten wurde, und dem zerfetzten Stuhlbein, das daneben aufragte.
Eine Katze wuselte vor ihren Beinen umher und setzte dazu an, ihre Krallen erneut an dem Holz zu wetzen, doch der Zodiak jagte sie mit einem Zischen fort.
Der Mann mit der braunen Kluft nickte wissend, ehe er auf den Tisch vor sich verwies.
Die Einrichtung war unpassend minimalistisch — als liege aller Fokus auf dem prächtigen Garten mit seinen überdimensionalen Rosenbeeten. Neben den weißen Möbeln draußen, wirkte das Esszimmer wie das Innere eines Puppenhauses: notdürftig und detaillos.
Roans Mentorin hatte sich unordentlich auf die Theke gesetzt — doch irgendwie hatte er in ihrer bekannten Nonchalance mittlerweile etwas charmantes gefunden.
Sie wies Roan an, keine Fragen zu stellen, stattdessen bretterte sie selbst durch das Protokoll — so schnell sogar, dass er kaum eine Gelegenheit hatte, mitzuschreiben.
Was hatte der Zodiak am Abend getan? Ihn mit anderen verbracht.
Ja, er war zuvor mit Eurar in der Stadt gewesen. Nein, er hat nicht mit ihr kooperiert. Ja, er bezweifelt, dass sie ihn umgebracht hatte. Nein, sie hatte keine Mordgedanken geäußert.
Roan hob den Kopf, um den Zodiak zu mustern, der in seiner braunen Uniform vor ihm saß. Er hatte eine Tasse Kaffee zwischen den Händen und erwiderte den Blick. »Und sie arbeiten nicht am System?«, fragte Roan. Mit der Hand strich er über die volle Seite seines Notizbuchs. Damals hatte er Informationen zu den Zodiaks gesammelt.
Als Kind hatte er schreckliche Angst vor ihnen gehabt — der einzige Weg, diese zu besiegen, war es, sich damit auseinanderzusetzen... Zumindest hatte seine Mutter das gesagt. Es hatte nur bedingt Wirkung gezeigt; Roan fühlte sich noch immer unwohl in der Anwesenheit der Zodiaks.
»Nicht wirklich. Ich erforsche es ein wenig.«
Roans Mentorin verschränkte die Arme vor der Brust. »Das hat der Herr des Wetters auch gesagt.«
»Ja. Er hat es mir beigebracht. Immerhin habe ich keine Aufgabe im System. Ich habe Zeit, herumzuprobieren.« Er hielt inne. »Nein, für die violette Sonne bin ich nicht verantwortlich, wenn sie das denken.«
Roan hob die Brauen. Ertappt. »Das wäre tatsächlich meine nächste Frage gewesen.«
»Für die Sonne kann jeder verantwortlich sein, im Prinzip. Da muss jemand einen Fehler gemacht haben. Vielleicht wollte ihn jemand erst gar nicht durch Vergiftung umbringen.«
»Sie deuten an, dass der Mörder ein Zodiak ist?«
»Wenn der Mord wirklich mit der violetten Sonne in Verbindung steht. Ja. Vielleicht war das ja auch einfach eine Ablenkung. Was weiß ich?«
»Ist es möglich, ohne das Wissen der anderen Zodiaks das System zu verändern?«
Der braun-gekleidete Mann schien zu überlegen. »Ja.«
»Man kann das verschlüsseln?«
»Es ist kein verschlüsseln... Es ist kompliziert. Wir lenken das mit unseren Gedanken. Wir können unsere Spuren verschwinden lassen.«
Roans Mentorin stand auf, um einmal mehr ihre Hände auf seine Schultern zu legen. »Ist das System wirklich Technologie... oder Magie?«
»Worin besteht da der Unterschied?«, gab der Zodiak zurück.
Das war eine gute Frage. Wo bestand der Unterschied zwischen dem, was unmöglich war, und dem, was irgendwann möglich gemacht werden konnte? Die Geschichte der Stadt war alt — ging lange zurück, zu einer Zeit, wo die Technologie angestrebt wurde. Die anderen Länder und Königreiche hingen in der Entwicklung zurück; weit sogar. Sie wollten an dem teilhaben, woran die Wissenschaftler arbeiteten.
Vielleicht waren sie neidisch; wahrscheinlich aber wollten sie den Fortschritt für Waffen verwenden.
Noch bevor es zu einem Austausch der Technologie kommen konnte, wurde die Landschaft jedoch in eine Katastrophe gestürzt. Ein Phänomen — was genau es war, veränderte sich von Erzählung zu Erzählung — hatte die ganze Welt zerstört.
Innerhalb weniger Tage errichtete man die Kuppel, die nun die Stadt schützte. Ob die anderen, entfernten Länder überlebt hatten, war unklar.
Zumindest war dies die Geschichte — jeder erzählte sie anders. In einigen von ihnen klang es so, als wäre die Katastrophe mutwillig verursacht worden; vielleicht aus Neid.
Der Zodiak unterbrach die Stille mit einem Räuspern. »Wir können einander fühlen. Wir sind miteinander im System verbunden. Und auch mit unseren Angestellten. Normalerweise haben wir eine sehr innige Verbindung.«
»Können Sie das Mädchen, Eurar, im System spüren?«
»Ich konnte es, aber sie ist verschwunden.«
Roan sah zu seiner Mentorin. Diese hatte das Gesicht so weit zerknautscht, dass sie an ein Tier erinnerte. »Wie?«
»Sie ist aus dem System verschwunden. Entweder sie hat die Stadt verlassen, oder sich im System versteckt.« Der Zodiak gestikulierte ungenau. »Wie gesagt. Sie kann ihre Spuren verwischen.«
»Das wird ja immer wahnsinniger«, zischte die Frau. Sie wuschelte sich durch die grauen Haare. »Wir melden uns bei Ihnen. Wenn Sie etwas auffälliges bemerken, geben Sie uns Bescheid.«
Der Zodiak grinste schief. »Es ist draußen immer noch finstere Nacht. Ist das nicht auffällig genug?«
»Können Sie im System eindringen und das ändern?«
»Ich könnte es, vielleicht. Mit etwas Übung. Aber vorher, würde ich empfehlen, suchen wir innerhalb des Systems nach Spuren, die der Mörder hinterlassen hat.«
»Das können wir nicht. Das können nur die Zodiaks. Und, Sie haben es selbst gesagt, Sie können Ihre Spuren verwischen. Und wenn Sie wollen, können Sie uns auf eine ganz falsche Fährte schicken.«
Roan unterdrückte, auszusprechen, was er dachte:
Das kann er auch so.
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