Kapitel 6;1 - Ausdruckslose Ehrlichkeit
»Sprosse.«
Die kalten Augen und ein Gesicht, das leer von Ausdruck war, hatte seine Mentorin schon immer beherrscht. Seit dem Morgen jedoch hatte sie ihre Hand nicht aus der Faust gelöst. Sie schien mit den nächsten Sätzen zu kämpfen, als würde sie sich selbst nicht glauben: »Es ist nicht deine alleinige Schuld. Ich hätt' dich nicht ohne Unterstützung gehen lassen sollen.«
»Ich habe dem Mädchen keinen Angriff zugetraut.« Das war die Wahrheit, doch keine Ausrede dafür, dass Roan einfach liegengeblieben war, sobald Eurar die Tür durchquert hatte. Stattdessen hatte er sich an seine Schulter geklammert und ihr hinterhergeschaut — und kurzzeitig war ihm schwarz vor Augen gewesen.
»Ich auch nicht. Das war unser Fehler. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass sie etwas zu verbergen hat.«
»Zweifellos.« Er hielt inne. »Man könnte sie fast loben, dafür, dass sie sich so eine Aktion zugetraut hat.«
»Die Flucht? Ja, aber das war keine Heldentat, für die man sie loben kann. So eine Aktion ist dämlich. Das macht sie nicht zu einer interessanten Person. Erst recht nicht, wenn sie 'ne Mörderin ist.« Sie öffnete die Tür für ihn. »Lass dich von dem Fehlschlag nicht entmutigen, Sprosse. Das passiert mal.«
»Ich bin da drin nicht alleine, oder?«
»Nee. Ich misch' mit, wenn du hängenbleibst.«
Roan hasste die Art, wie sie sich ausdrückte. Und er verstand nicht, wo die Spitznamen herkamen, die sie allen jungen Soldaten gab. Manchmal erinnerte sie an seine Mutter — nur, dass seine Mutter nicht ansatzweise so schlecht gelaunt war, wenn er seine Eltern besuchen ging.
Er tappte in den Saal, wo zwei Zodiaks an einem Tisch saßen:
Dunkelblau; der Herr der Stadtwacht
Blass gelb; der Herr des Wetters.
Beide schauten skeptisch in die Leere — jedoch nicht zwangsläufig, als wären sie ertappt worden.
Der Zodiak, der die Stadtwacht kontrollierte, nickte Roan förmlich zu. Man hatte sich hier schon öfter gesehen.
Roan hatte einmal mit einem Angestellten in einer Bar getrunken. Der Bursche hatte im beschwipsten Zustand verraten, dass man den Zodiak „Rotauge" nannte. Der Begriff war so bizarr gewesen, dass Roan ihn in seinem Notizbuch vermerkt hatte.
Rotauge war wirklich ein passender Name — anders als Sprosse.
Er sah die beiden überfordert an, während er sich hinsetzte. »Nun, Sie sind hier, weil wir Ihnen einige Fragen stellen müssen. Der verstorbene Zodiak hat vor einigen Jahren befohlen, dass wir Sie befragen sollen, sollte ihm etwas zustoßen. Wollen wir die Formalitäten überspringen?«
Rotauge — der Name ging Roan nicht mehr aus dem Kopf — winkte wirsch ab. »Einfach fragen; wir haben hoffentlich nichts zu verbergen.«
»Wo waren Sie gewesen? Den ganzen gestrigen Tag, bis hin zum heutigen Morgen.«
Seine Mentorin bewegte sich hinter ihn. Ihre kalten Hände fanden ihren Weg auf Roans Schultern.
»Gestern war ich den ganzen Vormittag in meinem Zimmer und habe geschlafen, weil ich am Vorabend lange wach war. Nachmittags habe ich die Soldaten trainiert, bis zu dem Zeitpunkt, als die Sonne violett geworden ist. Da haben wir dann aufgehört.«
»Wir müssen davon ausgehen, dass die Violette Sonne mit dem Geschehen zusammenhängt«, warf seine Mentorin ein. »Wann waren Sie das letzte Mal in der Nähe des ermordeten Zodiak?«
»Ich war nicht in der Nähe des gesamten Plasts, seitdem die letzte Veranstaltung stattgefunden hat.«
»Wann war das?«
Rotauge schaute zur Seite. »Vor... drei Tagen?«
»Zwei.« Der Herr des Wetters seufzte langgezogen.
Rotauge nickte knapp. »Dann so. Warum fragt ihr uns? Was ist mit dem Mädchen, das abgehauen ist?«
»Suchen wir noch. Wir können uns allerdings nicht sicher sein, ob sie es war.«
Roan fuhr mit den Fragen fort: »Wie stehen Sie denn zum ermordeten Zodiak?«
»Ich befürchte, eine vollkommen positive Meinung haben wir alle nicht zu ihm«, grummelte Rotauge, ausdruckslos wie immer. Er kannte diese Verfahren von der Stadtwacht. Es musste jedoch das erste Mal sein, dass er selbst ausgefragt wurde. Er schien weder stolz, noch beleidigt zu sein — im Gegenteil wirkte er, als sei es ihm vollständig egal. »Immerhin war er es, der uns damals dazu gezwungen hat, Zodiaks zu werden.«
Der andere Zodiak sah ihn nur an, doch erwiderte nichts.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Rotauge stattdessen.
»Gift.«
»Ja. Was für ein Gift?«
Roan sah zu seiner Mentorin, plötzlich ahnungslos.
Sie ließ ihren Daumen über seine verwundete Schulter streicheln — gerade so, dass es nicht schmerzte. »Das versuchen wir gerade noch zu ermitteln.«
Roan zischte, als sie eine empfindliche Stelle auf seinem Rücken berührte. Er schob sich auf dem Stuhl nach vorne. »Kommen wir zum Thema zurück. Habe Sie persönliche Auseinandersetzungen gehabt, in der Vergangenheit?«
»Ja. Selbstverständlich. Wir alle. Alleine schon, weil er die Soldaten nach draußen schickt, als seien sie nichts, als Zahlen. Er wollte um jeden Preis die Stadt befreien.«
Das wusste Roan bereits. Rotauge kritisierte, dass immer mehr Wachmänner und Forscher nach draußen geschickt wurden. Es war eine unnötig Verschwendung manchen Lebens.
Und doch war Roan gezielt an die Stadtwacht gegangen, um an den Außen-Ausflügen teilzunehmen.
»Waren dieser Meinung viele Zodiaks?«
»Das würde ich vermuten. Die meisten haben sich nur zurückgehalten. Naja, viel zu sagen hatten wir eh nicht. Im Endeffekt hat er uns immer den Mund verboten. Ich weiß nicht, ob die anderen das auch zugeben werden... aber die Ermittlungen werden schwer für euch sein.«
»Hm.«
»Was genau war die Abfolge ihres letzten Abends«, sprang seine Mentorin ins Gespräch. Sie schaute den anderen Zodiak an, der bisher größtenteils geschwiegen hatte. »Waren Sie alle zuletzt bei der Versammlung im Palast?«
Der dünne Mann mit der hellen Uniform lehnte sich im Stuhl zurück. »Ja. Im Regelfall betreten wir den Palast nicht, außer wir werden dazu beordert. Ich habe mich mit meinem Teil des Systems auseinandergesetzt. Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Abgesehen davon bin ich nicht aus dem Haus gegangen. Bis heute nicht.«
»Die Hitze draußen ist schrecklich. Sie machen Ihre Arbeit nicht sonderlich gut«, grummelte Roans Mentorin.
»Das tut mir leid. Ich setze mich gerade damit auseinander, wozu das System fähig ist.«
Roan hob den Kopf. Er warf sein kleines Notizbuch in den Schoß und kritzelte in dessen Inneres:
Wetter-Zodiak arbeitet am System; Zusammenhang mit violetter Sonne?
»Habt ihr noch weitere Fragen?«, knurrte Rotauge — der mittlerweile genauso genervt war, wie Roans Mentorin.
»Erstmal nicht.« Roan hob den Blick. Konnte man den Zodiaks befehlen, dass sie ihre Arbeit einstellen sollten? Um sicherzugehen, dass es keine weiteren Unfälle gab; und dass die Suche nach dem Mörder nicht behindert wurde.
Seine Mentorin streichelte über Roans Kopf. Plötzlich veränderte sich ihr Tonfall, als würde sie in einen freundlichen Plausch verfallen: »Der Bursche verlässt übermorgen das erste Mal die Stadt.«
Das stimmte — auch wenn er bezweifelte, dass der Ausflug noch stattfinden könnte. Er war nicht geübt und ohnehin gab es genügend Probleme innerhalb der Stadt.
Rotauge riss die Lider auf. »Ihr habt euch entschieden, das durchzuziehen?«
»Ich weiß, ja. Aber wir halten uns so lange an die Befehle des Verstorbenen Zodiaks, bis ein Nachfolger seine Rolle einnimmt. Wir werden versuchen, aus der Stadt herauszukommen, bis jemand eine andere Anordnung erteilt.«
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