Kapitel 11;1 - Silberner Käfig
Roan hielt sich bedeckt, während sich seine Mentorin aufbaute. Ihre Arme waren straff; die Hände zu Fäusten geballt. »Wir sind nicht bereit für solche Geschäfte.«
Die Fremden sahen sie nur an. Nach ihren nächsten Worten schien die Welt vollständig still zu werden. »Wir werden verhungern. Sie können jederzeit zur Stadt zurückkehren.«
»Dennoch«, grummelte seine Mentorin nach einer Weile. »Wir haben kein Interesse an falschen Informationen.«
»Sie sind nicht falsch.«
»Bei allem Respekt. Sie waren seit einem Monat nicht in der Stadt. Wie wollen Sie etwas wissen, dass uns entgangen ist?«
Wieder folgte Stille, in denen sich die beiden Fremden nur ansahen.
Schließlich fragte Roan: »Sind Sie es, die in den Türmen Signale versendet und empfangen haben?«
Beide schüttelten den Kopf — wenig verwundert über die Unterstellung. »Wir nicht, aber-«
Roans Mentorin fiel dazwischen: »Es interessiert uns nicht!«
Es donnerte; für einen Moment fühlte es sich an, als würde das Wetter seine Angst aufgreifen.
Seine Mentorin hielt den Atem an, ehe sie mit der Hand durch die Luft schnitt. »Geht einfach.«
»Wir wollen nur-«
»Geht. Es wäre ungerecht, wenn wir euch helfen würden. All die anderen Leute, die aus der Stadt verbannt wurden, haben auch nie Hilfe bekommen. Nur, weil ich euch kenne, sollte ich euch nicht bevorzugen... Gerade dann nicht.« Sie wandte sich zum Gehen ab. »Tut mir Leid.«
Roan biss die Zähne zusammen. Vielleicht war es sein Sinn nach Gerechtigkeit — vielleicht auch simple Neugierde — aber er wollte den zwei Verstoßenen helfen. Jetzt, wo er draußen war, war die Welt tatsächlich so trostlos und unspektakulär, wie man sich immer erzählte.
Aber das konnte nicht alles sein.
Er wollte die Informationen erhalten; am liebsten würde er alles erfahren. Seine Eltern nannten es Wissbegierde, doch Roan wusste, dass er lediglich der Beste in allem sein wollte. Und er wollte alles beherrschen.
Besonders aber wollte er sehen, was es außerhalb der Stadt noch gab.
Er deutete mit einer Geste an, dass sie auf ihn warten sollten. Essen konnte er ihnen zur Genüge geben — er hatte sich für einen wochenlangen Ausflug vorbereitet. Wenn sie morgen tatsächlich abreisten, könnte er ihnen alles geben und zusätzlich damit sein Gepäck erleichtern.
»Komm, Sprosse.«
Noch einmal sah er die beiden lange an und hoffte, sich klar genug ausgedrückt zu haben.
Die zwei bewegten sich jedoch in die Richtung, aus welcher sie gekommen waren.
Auch Roan folgte seiner Mentorin, zurück in die wackelige Hütte, wo sie ihren Rucksack in eine Ecke warf.
»Informationen über die Zodiaks«, machte sie in verstellter Stimme nach. »Entweder Lügen, oder die selben, leeren Verschwörungstheorien, die man auch in der Stadt hören kann.«
»Was?«, fragte der Wissenschaftler. Er war vollständig über seine Arbeit gebeugt und hörte ihr so halbherzig zu, als seien sie zwei alte Eheleute, die die Stimmen des jeweils anderen schon zu oft gehört hatten.
»Zwei Ausgestoßene aus der Stadt sind draußen gewesen. Ich kenne sie. Die sind Wissenschaftler gewesen. Zumindest eine von denen. Die war mal draußen mit uns.«
Entgegen seiner vorherigen Frage, schien Hugo genau zu wissen, worüber das Gespräch mit den Verstoßenen gehandelt hatte.
Er schaute über seine Schulter zu ihr. »Wir hätten ihnen ja schon Brot abgeben können. Davon haben wir genug.«
»Nicht bei mir«, keifte sie. Jedwede Widerrede würde sie ersticken, daher hielt Roan sich zurück.
Sie stand neben dem Ausgang, sortierte einige Vorräte in einen knorrigen Schrank, zählte die Anzahl der Teller und schaute zu der Stadt zurück.
Etwas schien in ihrem Geist vorzugehen . Sie knautschte das Gesicht, bevor sie mit der Arbeit fortfuhr.
Schließlich nickte sie Roan zu und stolzierte aus dem Raum.
Der junge Mann ließ sich die Wand herunterrutschen. Die nächste Stunde — vielleicht waren es auch zwei — verbrachte er damit, einige Gedanken in sein Notizbuch zu kritzeln. Gelegentlich verfiel er in einen netten Plausch mit Hugo.
Nach einiger Zeit hörte man seine Mentorin draußen ein Feuer entfachen. Sie bereitete Abendessen vor.
Roan hatte erst dann realisiert, dass die späten Abendstunden angebrochen waren. Es fühlte sich an, als würde die Zeit außerhalb der Stadt schneller verstreichen.
Der Himmel draußen war noch immer bedeckt, auch, wenn es längst nicht mehr regnete.
Roan blätterte unzufrieden durch die Seiten, die er soeben beschriftet hatte. Selbst jetzt, wo er seine Gedanken zu Papier gebracht hatte, konnte er den Verlust der Wissenschaftler unter dem Grenzwall nicht verarbeiten.
Vielleicht bildete er es sich ein, doch die anderen zwei Gruppenmitglieder wirkten, als sei ihnen egal, dass sie vor wenigen Stunden ein tödliches Unglück mitangesehen hatten.
Seine Mentorin hatte eine Schüssel mit Suppe in der Hand und aß diese, als sei ihr Appetit nicht vergangen. Sie winkte Roan aus der Ferne zu, während sich ihre Füße zu dem entfernten Kontrollturm bewegten — in welchem sie alleine schlafen würde. Sie rief ihm noch zu: »Wir sehen und morgen in aller Frische, Sprosse.«
Roan klammerte sich an die Schale, die er gefüllt hatte und sah ihr verwirrt hinterher. Wollte sie jetzt schon schlafen gehen? Sollte er alleine darauf aufpassen, dass Hugo nicht von Räubern zerfleischt würde — angenommen, es würde Räuber hier geben.
Ihr Verhalten war schon immer unglaubwürdig, doch jetzt besonders.
Wahrscheinlich hingegen würde sie das über ihn ebenfalls behaupten — sie waren füreinander wohl das größte Rätsel.
Er starrte in die Brühe, die in seiner Schüssel schwamm. Das könnte er den beiden Ausgestoßenen geben; er selbst würde das nicht runterschlucken.
Die Erde war mittlerweile getrocknet, wenn auch der Wind, der in sein Gesicht preschte, auf weiteren Regen hindeutete.
Roan hatte sein Verständnis für die Zeit verloren; das hatte er schon in der Stadt, seitdem die Nacht den Tag abgelöst hatte. Jede halbe Stunde schaute er auf die Uhr.
Nun außerhalb der Kuppel zu stehen und zu wissen, dass — egal wer starb — die Sonne nicht verschwinden würde, war Erleichterung und Überwältigung zugleich... Immerhin kannte er nichts anderes, als die Stadt.
Die Natur schien für mehr gedacht zu sein, als die Zodiaks.
Mat'Her war moderner, als alles, was die Welt zuvor gesehen hatte. Wenn die Stadt nicht so abgeschottet wäre, wären sie fortschrittlicher, schneller, effizienter, als jedes andere Land.
Roan bemerkte ihre Köpfe in der Ferne und beschleunigte seinen Schritt. In einer kleinen Mulde lagen Decken, Kissen und Stroh.
Die beiden Verstoßenen hockten darin — und tatsächlich zog sich ein Zaun nicht unweit von ihrem Versteck entlang.
Er war hoch wie eine Hauswand; doch neben der Kuppel der Stadt wirkte er wie eine Miniatur.
»Nicht erschrecken, bitte.«
Die eine Frau drehte sich zu ihm um; ihre Augen hafteten dann aber auf der Suppe, die er hielt. »Oh, oh- Was.«
Er reichte es über ihre Köpfe, bevor er seinen Rucksack abstellte. »Brauchen Sie noch Wasser?«
»Das wäre fantastisch.«
Roan gab es ihnen — und in dem Moment schoss die egoistische Hoffnung durch seinen Kopf, dass irgendwann jemand auch ihm diese Güte erweisen würde.
Er bewegte sich um die beiden herum, legte seine Jacke auf die Erde, um sich darauf zu setzen. Den Blick senkte er, während sich die beiden auf das Essen stürzten.
Die Kuhle, die sie gegraben hatten, war auf ihre eigene Art gemütlich. Ein Stock ragte aus der Mitte hervor; darüber war ein durchnässtes Tuch gespannt worden. Ein Plüschtier saß neben einem Familienbild auf dem Holzbrett; auf der anderen Seite standen zwei Bücher.
Schließlich fragte eine der Frauen: »Wem dürfen wir dafür danken?«
»Roan.«
»Neu in der Stadtwacht?«
»Naja, ja. Neu für die Ausflüge nach Draußen.« Roan hob den Blick und konnte mitansehen, wie die Wolkendecke aufklarte und darunter ein freier Himmel ragte. Da war kein Draht; keine Muster. Ausschließlich Schwärze und kleine Lichter, die darauf tanzten.
»Der Himmel fasziniert Sie, hm?«
»Mich fasziniert vieles am Leben. Aber dafür ist es ja auch da.«
»Ich sehe, sie beschäftigen sich gerne mit der alten Lyrik.«
»Ich... Ja, ich wäre durchaus gerne selbst Poet. Aber dafür ist kein Platz in der Stadt.«
»Es gibt überall einen Platz für Worte.«
»Nicht dort. Ich will irgendwo hin, wo nicht jedes Wort gleich schmeckt. Ich habe realistische Vorstellungen für mein Leben. Meine Eltern wären wohlhabend genug, damit ich meine Träume verfolgen könnte. Aber die Stadt gibt mir nicht genug Inspiration dafür.«
Die Dame schüttelte wenig überzeugt den Kopf. Nichtsdestotrotz sagte sie: »Verstehe ich, selbstverständlich.«
Die andere Frau — weitaus älter mit von den Jahren grauen Haar — schenkte ihm ein Lächeln. »Umso tragischer, dass die Natur uns bloß zum Sterben sieht.«
»Die Natur sieht den Tod nicht als Tragik.«
Die junge Frau zog ihre Beine an. »Teilen Sie nur aus Freundlichkeit Ihr Essen mit uns? Oder wollen Sie die Informationen?«
»Beides.«
Der Ausdruck in ihren braunen Augen blieb gleich. »Ein Zodiak ist in der Stadt gestorben, richtig? Wir haben da was mitangehört.«
»Wir haben uns unter den Wachtürmen versteckt, um die Signale abzufangen. Daher haben wir unser Wissen«, ergänzte die andere Frau.
Roan nickte. »Wer hat denn diese Signale gesendet?«
»Der Herr der Stadtwacht.«
Roan riss nur die Augen auf. Plötzlich wurde die warme Luft von Kälte abgelöst. Gänsehaut kribbelte in seinem Genick.
Die Ältere atmete tief durch und schaute in das Essen zurück, das noch halbvoll war. »Wie laufen die Untersuchungen? Wir haben herausfinden können, dass es mehrere Täter sind... zumindest, vermute ich das. Der Zodiak hat von mehreren Tätern gesprochen.«
Roans Gedanken hingen hinterher. »Hier draußen kann man mit anderen Städten kommunizieren.« Nun, dafür war dieser Ort auch gebaut. Man versuchte sich seit Jahren an der Kommunikation. Bislang hatte nur niemand geantwortet.
Sie vergrub die Schultern unter einer Decke. In ihren Augen lag völlige Ausdruckslosigkeit. Plötzlich war die Nacht gefüllt von Schrecken. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Der Zodiak der Stadtwacht redet, scheinbar häufiger, mit den Städten draußen. Ich erfahre auch zu spät, dass das geht. Wenn ich die Signale richtig deuten konnte, bestätigt er seine Identität, bevor er die Signale versendet. Ich kann es nicht besser erklären... aber so, wie ich vermute, spricht er alleine mit der Außenwelt. Niemand anderes darf es. Ich meine, er hat auch offen zugegeben, dass er an dem Mord beteiligt war. Haben Sie ihn schon festgenommen?«
»Bisher haben wir eine Dienerin verdächtigt.«
»Nein. Es waren Zodiaks. Und der Wächter der Stadtwacht ist zweifelsohne einer davon. Er redet davon, dass er die Welt außerhalb retten will.«
»Das... Ähm, ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Also der Wächter der Stadtwacht spricht heimlich mit der Außenwelt«, wiederholte Roan.
»Richtig. Und währenddessen weist er die anderen an, alle anderen Signale zu ignorieren. Die Außenwelt stellt sich tot und kommuniziert nur mit ihm. Er will das beste für die Außenwelt. Das wollen alle Zodiaks, außer der Wächter des Mondes.«
»Inwiefern?«
Die alte Frau überlegte lange. Sie rieb die Hände aneinander und lehnte sich weit zurück, ehe sie erklärte: »Die Stadt ist weit fortgeschritten aber daher umso gefährlicher. Wir verfügen über unfassbare Technik. Wenn unser Wissen an die Außenwelt, vor allem an andere Städte, gelangt, wird die Macht früher oder später ausgenutzt werden.«
Die junge Frau sprach nun auch wieder: »Wenn wir die Geheimnisse der Stadt offenbaren, werden wir entweder angegriffen, oder unsere eigene Technik wird gegen uns verwendet werden.«
Der Fakt, dass Rotauge an einem Mord beteiligt war, war ihm fast egal. Stattdessen hakte er nach: »Es gibt also doch andere Länder. Uns wurden Lügen aufgetischt, dass wir alleine sind?«
»Es sind nicht wirklich Lügen. Wir befinden uns hier in einer Einöde. Aber, wenn wir weit genug gehen würden, gelangen wir in richtige, belebte Gebiete.«
»Und da waren Sie schon?«, fragte Roan. Das würde ihn neidisch machen — plötzlich wollte er die Welt bereisen, nun wo er wusste, dass es sie gab.
»Nein, das haben wir erst gestern erfahren. Mithilfe von ausreichend Proviant sollte das allerdings möglich sein. Wollen Sie uns begleiten?«
Roan hielt inne, bevor er zur Stadt blickte. Er würde gerne — aber nun war er der scheinbar einzige, der wusste, wer der Täter war. »Erstmal sorge ich dafür, dass der Mord geklärt wird... und ohne meine Familie würde ich ungerne verschwinden.«
»Die nächste Stadt liegt genau nördlich. Wir würden gerne dorthin, aber-«
Roan öffnete seinen Rucksack und deutete den beiden Frauen an, was sich darin befand. Mit einem Auge jedoch fixierte er seine Heimatstadt, die wie ein überdimensionaler Käfig wirkte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro