Lieben und Geliebt werden
„Er hat Uns beide aus tiefstem Herzen geliebt."
Faramirs Stimme zitterte leicht, als er den Satz erneut vorlas. Éowyn war hinter den Stuhl getreten, hatte beide Hände auf seine Schultern gebettet und blickte ebenfalls auf die kleine, feinsäuberliche Handschrift, die sich Zeile um Zeile über das Blatt erstreckte.
„Es gibt kaum einen Menschen, der mich besser kennt als Du. Deswegen glaube Ich, dass es unnötig wäre, Dir groß und breit zu versichern, dass es nie Meine Absicht war, Deinen Bruder zu verführen oder dergleichen. Zu keinem Zeitpunkt hatte Ich vor, mich in diesen Mann zu verlieben. Doch es geschah und nichts auf dieser Welt hätte dies zu verhindern vermocht.
Boromir war zurecht ein gefeierter Krieger, der die Liebe und Treue seiner Männer mit Ehre und Tapferkeit verdient hatte. Davon jedoch wusste Ich nicht viel, erschienen Mir die Kämpfe außerhalb der Stadtmauer doch fern und seltsam fremd, obwohl Mich jeden Tag die dort verwundeten Soldaten umgaben.
Ich kann Dir nicht verraten, was Dein Bruder an Mir fand, was ihn bewegte, unter allen Frauen ausgerechnet Mir Aufwartungen zu machen, denn Ich weiß es selbst nicht. Jedenfalls begann er, Mir kleine Aufmerksamkeiten zu schicken, die Ich allesamt zurück wies, da Meine einzige Leidenschaft der Heilkunde galt, welcher Ich Mein Leben zu widmen gedachte.
Entgegen aller Vermutungen vergrämte Boromir dieses Verhalten jedoch nicht, sondern bewog ihn dazu, explizit nach Mir zu verlangen, wenn fachliche Behandlung von Nöten war. Es wäre gelogen, zu behaupten, dass das Interesse dieses Mannes Mir nicht schmeichelte, doch hätte Ich Mich niemals hinreißen lassen, irgendetwas aus falscher Eitelkeit heraus zu tun."
Ein leises Lächeln schlich sich bei diesen Zeilen auf Faramirs Gesicht. Mit ihren Worten erweckte Beorid die Vergangenheit wieder zum Leben, so klar und deutlich, dass er glaubte, die beiden vor sich sehen zu können. Dabei hatte er gar nie erwartet, dass Boromir derart um eine Frau buhlte, so versessen, wie er sich ansonsten den Themen der Kriegsführung und der Bierverkostung widmete. Doch irgendetwas sagte Faramir, dass es seinem Bruder dieses eine Mal wirklich ernst gewesen war.
"Sie muss ihn damals wirklich schlecht gekannt haben", teilte Faramir seine Gedanken mit der weißen Herrin. "Boromir ist nie einer Herausforderung ausgewichen und Beorids Zurückweisung muss ihm wie eine solche erschienen sein. Hätte sie sich hingegen geschmeichelt gezeigt, wie so viele andere Frauen, wäre sein Interesse wohl schnell verschwunden."
Éowyn erwiderte nichts darauf, doch Faramir spürte, dass sie in ihren eigenen Erinnerungen versunken war. Da er seine Gemahlin jedoch nicht drängen wollte, ihre Gedanken ebenfalls mit ihm zu teilen, wandte er sich wieder dem Brief zu.
„Zunächst ärgerte Mich sein Verhalten richtiggehend, doch mit der Zeit lernten Wir einander kennen und Ich erkannte den Mann, der hinter dem Krieger und Schürzenjäger steckte (wie Ich ihm, angeblich zu Unrecht, vorwarf). Charakterstark, loyal und aufopferungsvoll, so sah Ich Boromir und sehe ihn noch heute, wenn Ich an ihn zurück denke. Für die Menschen, die er liebte, hat er alles getan und obwohl dies die Eigenschaft ist, die Mich seit jeher am meisten an ihm beeindruckt hat, schmerzt es Mich doch, dies zu schreiben. Denn dies ist der Grund, weshalb Wir ihn verloren haben."
Verwirrt runzelte Faramir die Stirn. Wie war es möglich, dass Beorid, die seines Wissens nach die Stadtmauern Minas Tiriths nie verlassen hatte, genauere Kenntnis über den Tod seines Bruders besaß als er selbst? Sofern Faramir dies in Erfahrung hatte bringen können, waren nur König Aragorn, der Elb Legolas und der Zwerg Gimli in der Stunde seines Todes bei Boromir gewesen. Hatte seine liebe Freundin womöglich etwas von einem dieser drei Männer erfahren?
Ein leises Grinsen schlich sich bei diesem Gedanken auf Faramirs verkniffene Lippen. Wie so viele Heiler, hatte Beorid schon immer diese Gabe besessen einen jeden zum Reden zu bringen. Die ruhige, besonnene Art der Frau weckte in Menschen stets den Drang, sich alle bedrückenden Gedanken von der Seele reden zu wollen. Er selbst war, was dies anging, nie eine Ausnahme gewesen, dachte Faramir. Zumal er dringend jemanden gebraucht hatte, dem er sein Herz voller Ängste, Träume, Hoffnungen und Zweifel hatte ausschütten können.
Oder verrannte er sich dabei in voreiligen Theorien, während Beorid in ihrem Brief gemeint hatte, dass Boromir sich für die beiden Hobbits geopfert hatte?
„Doch davon will Ich Dir später mehr berichten. Lass Mich Dir nun erst erzählen, dass Boromir und Ich Uns verliebten. Es war keine leichte Entscheidung für Mich, doch sich den eigenen Gefühlen zu entziehen ist schwerlich möglich. Ich hatte Angst und konnte kaum daran glauben, dass Wir, so unterschiedlich von Geburt, eine gemeinsame Zukunft haben könnten. Doch Boromir schwor, dass seine Liebe zu Mir aufrichtig sei und er alles daran setzen würde, Herrn Denethor von einer Heirat zu überzeugen. Solange jedoch mussten Wir Unsere Zuneigung füreinander verstecken und schworen Uns, niemandem davon zu erzählen.
Es fühlte sich vom ersten Augenblick wie Verrat an Unserer Freundschaft an, Faramir, doch blind vor Liebe verschloss Ich die Augen davor, redete Mir selbst ein, es sei auch zu Deinem Besten. Nie hätte einer von Uns von Dir verlangt, Dich gegen Euren Vater zu stellen oder diesem etwas zu verschweigen. Um Verzeihung bitten kann Ich dich daher nicht, denn stellte man Mich erneut vor dieselbe Wahl, Ich würde nicht anders handeln."
Faramir verstand die Entscheidung. Er verstand sie sogar sehr gut, denn womöglich hätte er selbst ähnlich gehandelt. Doch es schmerzte den Mann im Herzen, dass die zwei Menschen, die ihm die wichtigsten im Leben gewesen waren, ein solches Geheimnis vor ihm verborgen gehalten hatten.
Ein Anflug von Eifersucht befiel den Fürsten, bei dem Gedanken, dass sein Bruder und seine Freundin etwas miteinander geteilt hatten, an das Freundschaft und geschwisterliche Liebe, die ihn mit beiden verbanden, niemals hatten heranreichen können. Sein Vater hatte seinen Bruder Faramir vorgezogen und die Frau, die er geliebt hatte wie eine Schwester, hatte dies ebenfalls getan.
„Ein hässlicher Gedanke! Dabei haben die beiden dich so sehr geliebt, dass sie dir kein Leid zufügen wollten, obwohl ihnen das Stillschweigen gewiss auf der Seele lastete", schalt Faramir sich selbst, doch konnte er sich des Gefühls der Enttäuschung nicht erwehren, welches sich schwer und dunkel in seinem Bauch ausbreitete.
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