72 - Eine Minute
Ich sitze da und warte, bis sie endlich anfängt zu reden. Mich interessiert mittlerweile brennend, was ihre Forderungen sind und weswegen sie sich sogar überwinden wollte, mich zu küssen.
Sie presst kurz die Lippen zusammen und ich glaube schon, sie lässt die Minute sinnlos verstreichen. Aber dann fängt Alisea doch endlich an zu reden: „Ich möchte nur, dass du nicht ständig mein Kleid zerreißt. Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich den ganzen Tag hier unbekleidet sitzen muss. Ich möchte nur etwas tragen dürfen."
Echt jetzt? Ich komme nicht drumherum, ungläubig den Mund zu öffnen. Das war alles? Ich schaue sie weiter an und halte meinen Mund. Das versprach ich ihr ja. Wann kommen die Beschimpfungen? Ich an ihrer Stelle, würde jetzt gar nicht aufhören damit.
Die Kleine sieht mich abwartend an und ihre Schultern gehen langsam immer weiter herunter, wobei das zerrissene Kleid ein wenig verrutscht, mit dem sie ihren Körper bedeckt. „Ist das zu viel verlangt...?"
Ich kann es nicht glauben. Obwohl ich noch abwarte, sagt sie nichts mehr! Die Minute ist bestimmt schon vorbei, aber irgendwas muss da doch noch kommen. „Das war alles?"
Ihre Mundwinkel zucken kurz, aber sie wird sofort wieder ernst. „Ich wollte ja sagen, dass ich nicht viel verlange..."
Ich kann sie verstehen. Unsere Frauen dürfen auch bekleidet sein. Ich habe sie nur immer gerne so gesehen. Sie ist aber den ganzen Tag hier und friert sicher. Wobei sie sich auch einfach ins Bett legen könnte. „Nun gut. Ich werde darüber nachdenken. Wobei ich dir heute sogar mein Hemd gegeben habe."
Ich schaue zum Schreibtisch und dann wieder zu ihr. „Wenn ich dir das gebe und du es dir nicht einfach nimmst, ist das etwas anderes. Ich wäre nicht sauer gewesen, wenn da Blut dran wäre. Ich weiß, dass du da nichts für kannst."
„Ich konnte auch nichts dafür, dass die Frauen mir den Ärmel abgerissen haben. Ich wollte nur kurz Nähzeug holen, mein Kleid nähen und hätte dein Hemd wieder zurückgelegt. Du hättest nichts gemerkt... Aber ich kann doch nicht nackt durch das Schiff laufen." Sie seufzt tief, schaut auf ihren Arm und wickelt den Verband weiter ab.
Ich ziehe sie in meine Arme und weiß selbst nicht, warum. „Die Welt ist nun mal ungerecht und ich bin eben ein Pirat."
Die Kleine versteift sich kurz, lässt dann aber zu, dass ich die Arme um sie lege und sie lehnt sogar noch ihren Kopf an meine Schulter. „Darf... Darf ich dich noch etwas fragen? Ohne, dass du wütend wirst?"
Ich schaue zu ihr herunter und sie zu mir auf. Ihre hellblauen Augen flehen mich regelrecht anund ich glaube fast, mich darin zu verlieren.
Sie hat recht... sie hat wirklich keine Schuld gehabt. Ich habe sie nur in die Zelle gesperrt, damit ich nicht weich wirke. Es war mein Ego, was sie bestraft hat. Es ist meine Schuld, dass die Frauen sie misshandelt haben. Aber ihre Schuld, weil sie eifersüchtig waren. Ich höre mich leise sagen:„Was?"
„Naja, das Thema ist nicht leicht...Ist Roux reich oder hat er nur noch den Titel? Und... wenn er Geld hat, kann man gut von der Hälfte des Erbes leben?"
Meine Laune verfliegt, als ich den Namen höre. „Warum interessiert dich das? Bereust du es gerade, dass du mit deinem Schönling durchgebrannt bist und ihn nicht geheiratet hast?"
„Wundert dich das etwa? Ich will nicht in ein fremdes Land verschifft werden! In eine fremde Kultur, wo eine fremde Sprache gesprochen wird, eine fremde Religion..." Sie holt hörbar Luft, redet aber sofort weiter: „Du hattest doch mal selbst gesagt, er sei schon alt. Ich brauche doch nur einen Sohn von ihm und muss nur warten, bis er tot ist. Und sobald ich auf das Erbe zugreifen kann, bekommst du die Hälfte davon."
Ich schaue sie ungläubig an. Das meint sie jetzt nicht ernst! Ich könnte gerade kotzen, aber habe sie gerade auch noch im Arm. Ich kann den Ekel in der Stimme nicht verbergen: „Mal davon abgesehen, dass er dir sicher keinen Erben zeugen wird, glaubst du nicht ernsthaft, dass ich mich darauf einlassen würde? Immerhin habe ich genug Gold und brauche das des alten Mannes nicht."
Ich überlege, ob ich sie von mir stoße, aber ich kann mich noch beherrschen. Die Vorstellung von ihr ist eigentlich nicht ganz falsch. Es ist ein kläglicher Versuch, die Schlinge um ihren Hals etwas zu lösen. „Du solltest mal weiterdenken. Selbst wenn du das tun würdest, wärst du danach alleine und müsstest entweder einen anderen Idioten heiraten oder hättest nichts vom Erbe. Dann kannst du mir auch nichts versprechen."
Jetzt lasse ich sie doch los und lehne mich wieder etwas von ihr weg. „Außerdem lebt der alte Mann noch lange, wenn du Pech hast."
„Wenn er mir keinen Sohn macht, dann finde ich jemanden anderen. So schwer kann das nicht sein! Und sobald ich den Sohn habe, kann ich bei dem anderen Problem einfach nachhelfen." Sie verschränkt die Arme vor der Brust und hat wieder diesen trotzigen Blick. Nein, eigentlich ist ihr Blick überraschend kalt. „Und mir ist es egal, ob ich danach alleine bin. Nein, eigentlich ist mir das sogar recht!"
Ich starre sie einen Moment an und kann nicht fassen, was sie da gerade sagt. Ist es ihre Naivität oder Dummheit? Zu glauben, dass sie alleine bleiben könnte, ist lachhaft. Sie ist eine Frau! Aber der Gedanke, sich einfach von irgendwem ein Kind machen zu lassen, ist abartig. Ein Baby ist kein Spielzeug! „Ich habe selten so einen guten Witz gehört und ich würde jetzt lachen,wenn die Vorstellung daran nicht so widerlich wäre." Ungläubig verschränke ich meine Arme. „Also heiratest du ihn, lässt dich von irgendeinem Mann ficken, um ein Kind zu bekommen und bringst dann Roux um. Wie würdest du es machen? Und was würdest du tun, wenn der Mann, von dem dein Kind ist, Ansprüche stellt? Bringst du den auch um?"
„Was ist die Alternative?", fragt sie verzweifelt. Ihre Stimme wird immer lauter und unbeherrschter: „Mich von einem anderen Mann ficken zu lassen? Das kommt doch alles aufs selbe raus, nicht wahr?"
„Du hast keine Alternative, da das, was du dir da überlegt hast, niemals passieren wird. Du bist jetzt hier und dein Schicksal steht schon fest. Auch wenn es dir nicht gefällt." Ich schaue zu meinem Schreibtisch und dann zu ihr. Sie hat heute noch gar nichts zu essen bekommen. Das habe ich in der Aufregung ganz vergessen. „Hast du Hunger?"
„Ich...!" Sie presst die Lippen zusammen und ich sehe, dass ihr Körper vor Wut bebt. Aber dann atmet sie einmal tief durch und streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ja. Solange noch genug da ist..."
Einen Moment gucke ich sie irritiert an. Woher weiß sie von dem Problem mit dem Proviant? Oder meint sie das nur, weil wir so lange schon unterwegs sind? „Wieso sollte nicht genug da sein?"
„Ehm... Du hast mit Ote darüber gesprochen."
Ihre Augen funkeln kurz auf, aber ich kann Ihren Blick nicht ganz deuten.
Habe ich das? Ich denke kurz nach. Aber wie sollte sie sonst darauf kommen? Vielleicht, weil ich den Frauen das Essen gekürzt habe. Aber habe ich da erwähnt, dass es knapp ist? „Es ist noch genug da. Ich sorge immer dafür, dass es reicht."
Ich stehe auf und weise einen Schiffsjungen an, ihr etwas zu bringen.
Alisea schweigt nun und fixiert einen Punkt auf dem Boden.
Ich gehe zu meinem Schreibtisch und setze mich dort hin, obwohl ich das Logbuch schon geschrieben habe. Das tat ich, als sie noch geschlafen hat. Ich schaue sie seitlich an. Irgendwie kann ich sogar ein wenig verstehen, warum sie mir das mit Roux vorgeschlagen hat. Sie will nicht als Sklavin enden. Aber ist das dann nicht dasselbe, wenn nicht sogar besser? Und was wäre gewesen, wenn sie wirklich Roux geheiratet hätte?
Sie wäre doch niemals glücklich geworden. Was wäre das für ein Leben für sie gewesen? Roux hätte sie bei jedem Fehltritt auspeitschen lassen, da bin ich mir sicher. Wenn er sie nicht umgebracht hätte, weil sie ihm zu anstrengend gewesen wäre. Eigentlich hat sie sogar ein Stück weit Glück, dass sie jetzt hier bei mir ist. Aber das weiß sie nicht.
Kurz überlege ich aber trotzdem, ob ihr Vorschlag nicht doch ausgearbeitet werden kann. Sie kann Roux aber nicht einfach töten. Das stellt sie sich zu einfach vor. Selbst wenn sie es schaffen würde, wäre der Verdacht sofort auf ihr. Das ist doch immer so. Die Frauen werden als erstes verdächtigt, um sie loszuwerden.
Der Schiffsjunge klopft und reißt mich aus den Gedanken. Er bringt unser Abendessen und ich lasse es zu ihr stellen.
Sie soll erst mal essen, danach kümmere ich mich weiter um ihre Wunden.
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