71 - Endlich zurück?
Nachdem Lestat weg ist, starre ich auf das Hemd und weiß nicht so recht, ob ich lachen oder weinen soll. Zuerst macht er so ein großes Drama daraus, dass ich sein Hemd anhatte und nun gibt er es mir sogar freiwillig. „So ein...!"
Ich stocke kurz. Schuft? Bastard? Das eine Wort ist mir zu weich und das andere zu heftig. „Ah!"
Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf dem Boden auf, als wäre ich ein kleines Kind. Am liebsten würde ich das Hemd in tausend Teile zerreißen. Aber dann überspanne ich den Bogen wieder.
Wenigstens bin ich nicht mehr bei Ote. Also gehe ich zum Hemd und hebe es auf. Unschlüssig schaue ich an meinen Armen herab. Ich habe Angst, dass ein Verband vollblutet und ich noch sein Hemd dreckig mache. Dann hat er wieder einen Grund, um auszurasten.
Seufzend setze ich mich auf das Sofa. Dort ist immer noch das zerrissene Kleid von mir und ich drehe es etwas hin und her. Dann lege ich es einfach ein wenig über mich, um mich nicht wieder so schrecklich nackt zu fühlen.
Die Piraten wissen genau, wie mies wir uns Frauen fühlen, wenn wir nackt sind. Nur aus diesem Grund zerreißt er immer meine Kleidung. Weil er mich einfach restlos erniedrigen will. Selbst, wenn er nicht da ist.
Ich drehe mich suchend um. Irgendwo war das das Cremepöttchen mit der Salbe. Aber ich finde sie nirgendwo. Wahrscheinlich wurde sie für Guilia benutzt. Trotzdem gucke ich am Bett nach, ob sie dort vielleicht ist.
Dort finde ich sie auch, aber es ist fast leer. Und ich kann nun auch nicht zu Enrico gehen, um neue Salbe zu holen. Ich muss einfach hier bleiben. Immerhin habe ich doch gestern noch darum gebettelt, wieder zurück zu ihm zu dürfen.
In dem Käfig konnte ich ja nicht meine Flucht planen. Aber wenn ich es nun übertreibe, dann lande ich am Ende wieder bei Ote. Und das schaffe ich nicht. Obwohl Lestat manchmal unberechenbar ist, so hat er auch Zeiten, in denen er völlig normal ist. Momente, in denen ich mit ihm reden kann.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Schreie höre. Nicht ganz so viele Schreie, wie das eine Mal. Und es ist auch nicht so laut. Aber ich ahne, dass da wieder Frauen auf dem Deck sind und vergewaltigt werden. Ich glaube sogar, ich höre Marie schreien. Aber da irre ich mich bestimmt.
Die Salbe stelle ich wieder bei Seite und schaue auf das Bett. Die letzten Tage habe ich so unglaublich schlecht geschlafen und die Müdigkeit übermannt mich beinahe. Aber ich will nicht im Bett schlafen. Was, wenn ein Verband verrutscht? Wenn ich aber wieder auf der Chaiselongue einschlafe und er mich einfach hochhebt...
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Aber meine Müdigkeit siegt, also gehe ich zum Sofa, lege mich vorsichtig hin und falle augenblicklich in einen tiefen Schlaf, während mein zerrissenes Kleid mir als Decke dient.
....
Ich werde wach, weil etwas an meinen Haaren zieht. Sofort schlage ich meine Augen auf. Lestat sitzt neben mir auf dem Sofa und nimmt seine Hand weg. Hat er etwa mit meinen Haaren gespielt? Sein Blick wirkt ernst, weil sich direkt eine Falte zwischen seinen Augenbrauen bildet oder denkt er gerade nach?
„Warum liegst du nicht im Bett? Ich verbiete dir, nochmal auf dem Sofa zu schlafen."
Vorsichtig richte ich mich auf und reibe müde über meine Augen. Habe ich so lange geschlafen? Aber ja, die Sonne geht bald unter.
„Ich hatte Angst, es löst sich ein Verband", erwidere ich leise. Ich sehe an mir herab und merke, dass mein Kleid verrutscht ist und ziehe es mir über die Brüste. Schnell sehe ich mich nach seinem Hemd um. Aber ich hatte es ordentlich auf den Beistelltisch gelegt.
Erst dann sehe ich prüfend zu den Verbänden. Es juckt an manchen Stellen schrecklich und ich würde sie am liebsten alle abnehmen. So schlimm waren manche Kratzer auch gar nicht. „Ich... Können wir reden? Also, ohne uns gegenseitig anzuschreien."
Dabei seufze ich tief und sehe ihm in die Augen. Ich bin diesen ewigen Streit so langsam überdrüssig.Auch, wenn ich sonst gerne streite und Widerworte gebe. Aber ich bines aktuell einfach so leid. Ich ziehe doch eh immer den Kürzeren.
„Reden worüber? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir den Kopf abgerissen hätte, wenn Blut in mein Bett gekommen wäre? Du hast dir das ja nicht zugefügt. Hast du auch deshalb mein Hemd nicht angezogen?" Er schaut mich ungläubig an.
„Ich wollte es nicht dreckig machen. Du bist manchmal so unberechenbar..." Seufzend blicke ich zur Seite. Meine linke Hand wandert an den rechten Unterarm und ich löse einen Verband leicht, um mich dort zu kratzen. „Ich habe keine Ahnung, warum du mich so sehr hasst. Weil ich als Tochter eines Barons geboren wurde? Weil ich anders aufgewachsen bin? Weil ich blonde Haare habe?"
Lestat schweigt eine Weile. Doch dann greift er nach dem Verband, unter dem ich mich kratze. „Nimm dich nicht zu wichtig und schon gar nicht deinen Adelstitel, denn der bringt dir nichts mehr." Er wickelt den Verband ab. „Lass mal sehen."
Ich drehe mich leicht, damit Lestat sich den Arm ansehen kann. Es sieht wirklich besser aus und es hat sich an den Kratzspuren überall eine dunkle Kruste gebildet, die nun schrecklich juckt. „Mir war der Titel nie wichtig. Und die Männer haben sich auch nur für die Mitgift interessiert. Aber darüber will ich auch gar nicht reden. Sondern darüber, dass ich mir mehr Mühe geben will."
Er schnauft ein wenig und lehnt sich zurück, um mir ins Gesicht zu sehen. „Ich verstehe nicht, womit du dir mehr Mühe geben willst?" Lestat zeigt auf die Kratzer am Arm. „Dir ist doch klar, dass das nicht deine Schuld war, sondern die von den drei Frauen? Ich hätte dich nicht bei ihnen lassen dürfen. Dennoch hoffe ich, dass du daraus gelernt hast."
„Es geht mir gar nicht so sehr um die Frage der Schuld, denn damit öffnen wir nur die Büchse der Pandora und ich bin mir sicher, es endet nur wieder in einem Streit." Ich hole tief Luft und sehe ihm wieder in die Augen. „Ich möchte, dass ich das in Zukunft vermeide. Ich will leben, Lestat! Aber wenn das so weiter geht, dann bringt mich das irgendwann noch um."
„Das ist schön zu hören, dass du leben willst, denn ich habe kein Interesse daran, dich umzubringen. Du meinst also, du willst vermeiden, dich zu streiten?" Seine Mundwinkel zucken etwas, als ob er sich über mich lustig macht.
„Ich streite gerne und viel. Zu viel. Ich bin oft impulsiv und viel zu spontan. Und ich denke manchmal nicht nach, wenn ich gerade eine Idee im Kopf habe. Ich weiß, dass das große Schwächen sind und ich will wirklich daran arbeiten."
Jetzt schaut er wieder was ernster, aber bricht den Blickkontakt, indem er runter sieht zu meinem anderen Verband und damit beginnt, ihn abzuwickeln. Er hält aber inne, weil der Verband an der Wunde klebt. „Da hat Enrico nicht genug Salbe benutzt."
Was interessiert mich das jetzt? Hört er mir nicht zu?
Allerdings hebt er schon kurz darauf den Blick und guckt schräg zu mir hoch. Dadurch werden seine Augen halb von seinen Haaren überdeckt. „Ein wenig sollte man immer von sich selbst bewahren. Du bist noch jung. Du lernst noch, wann man besser die Klappe hält, erst mal nach denkt und wann man auch mal etwas sagen kann. Auch ich kann nicht immer alles tun und sagen, was ich möchte, auch wenn ich ein Pirat bin. Wenn dem so wäre, hätte ich bestimmt schon die halbe Mannschaft über Bord geworfen." Er lächelt breit. „Aber wer segelt dann die Black Curesana?"
Ich muss kurz schmunzeln und senke den Blick. Dann ziehe ich selbst an dem Verband und schnappe kurz nach Luft, weil sich dabei die Kruste löst und es leicht anfängt zu bluten. „Aber du tust bei mir, was immer du gerade willst. Ja, ich weiß... Ich bin nur eine Sklavin und all das."
Ach, verdammt, wieso fallen mir die Worte jetzt wieder so schwer? Ich merke, dass meine Stimme auch schon wieder so unzufrieden klingt. Dabei war das Gespräch bis hierhin wirklich gut. „Was ich sagen will, ist, dass ich manchmal einfach nicht weiß, was ich falsch mache. Und auch oft keine Gelegenheit habe, um mich zu erklären. Die Strafen erscheinen mir unverhältnismäßig zu sein."
„Das wirst du mit der Zeit lernen." Lestat nimmt meinen Arm und zieht ihn zu sich. Er schaut auf die blutende Wunde. „Das wird ein Narbe." Ich sehe seine Wangenknochen herauskommen und höre sogar wie seine Zähne übereinander knirschen. Sein Daumen streicht neben der Wunde ganz vorsichtig über meine Haut und hinterlässt eine kribbelnde Spur.
„Nein, nicht durch so einen Kratzer. Doktor Moreau meinte mal, ich hätte gutes Heilfleisch. Als Kind habe ich mir ständig die Knie aufgeschlagen." Ich ziehe meinen Arm zurück, bereue es aber sofort und reiche ihm daher den anderen Arm, damit er dort den Verband lösen kann. „Und ich will es nicht mit der Zeit lernen, sondern sofort wissen, was ich falsch gemacht habe. Und ich verlange..."
Lestat packt nach meinem Arm, sodass ich zusammenzucke. Seine Stimme wird lauter. „Was willst du mir gerade erklären? Dass du eine brave Sklavin werden willst, aber etwas verlangst? Wie war das mit dem: Du bist zu impulsiv, spontan und denkst manchmal nicht nach? Daran solltest du vielleicht mal arbeiten! "
„Au! Lass mich doch mal ausreden...!"
Er beginnt schon damit, den Verband abzuwickeln und das ziemlich grob. „Genau das ist dein Problem. Du sagst mir, dass du eine brave Sklavin werden willst, aber stellst Forderungen und verlangst etwas! Das passt nicht zusammen, Alisea. Nichts passt da zusammen!"
Ich lege meine Hand auf seine Hand, damit er aufhört den Verband abzuwickeln. Es tut weh und das Gespräch kippt schon wieder. Dabei muss er mich doch nur ausreden lassen!
Bevor er weiter schimpft, beuge ich mich zu ihm vor und drücke meine Lippen auf seinen Mund, damit er still ist.
Sein Gesicht und die Lippen wirken wie eingefroren, nicht so weich wie beim letzten Mal. Dann zieht er mit einem Ruck seinen Kopf weg und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Eigentlich hatte ich eine andere Reaktion erwartet. Ich muss laut schlucken. Jetzt ist mir das peinlich.
„Warum hast du das getan?"
Mein Gesicht wird ganz heiß und ich schaue auf den halb abgewickelten Verband. Ja... Warum habe ich das getan?
„Ich... ich wollte nicht, dass du dich noch mehr ärgerst und mich ausreden lässt. Danach kannst du doch immer noch Nein sagen."
Er knurrt. „Du hast mich geküsst, um ausreden zu können? Würdest du mir auch einen blasen, um zu bekommen, was du willst? So etwas machen Huren, Alisea!"
Ich drehe den Kopf bei Seite und schlucke die Tränen herunter. Am liebsten würde ich einfach aufstehen und gehen. Aber wohin? Und verärgert es ihn nicht wieder? Zudem habe ich nur das zerrissene Kleid, mit dem ich mit aktuell bedecke. „Ich würde nie... Ich..."
Kurz schließe ich die Augen, um mich einen Moment zu sammeln. Langsam ziehe ich meinen Arm zurück und würde mich am liebsten einfach nur einrollen und den heutigen Tag vergessen. „Du bist so gemein...! Du kannst mich schlagen, wenn du unbedingt willst! Damit kann ich umgehen. Körperliche Schmerzen gehen nicht so tief!"
Ich warte auf einen Schlag oder auf irgendeine Reaktion, aber ich höre ihn nur ruhig atmen und öffne die Augen wieder. Dabei schaue ich nach oben, damit keine Tränen kullern können. Ich muss sie wegdrücken.
Er greift plötzlich nach meiner Wange, seine Hand bedeckt sie bis zum Nacken und so dreht er ruckartig meinen Kopf zu ihm. Sein Gesicht hat er direkt vor meinem und sein Blick wirkt wütend. „Du bist keine Hure, also mach sowas nie wieder!"
Plötzlich zieht er mich an sich und seine Lippen landen hart auf meinen.
Ich bin einen Moment völlig überrascht. Erst von seinen Worten und dann von diesem Kuss. Was bezweckt er nun damit? Will er mich verhöhnen? Langsam hebe ich meine Hände und drücke sie gegen seine Schultern, um ihn von mir wegzudrücken. Wenn er mich küsst, dann ist das in Ordnung?! Weil er die Kontrolle hat? Dieser...!
Bevor ich ihn jedoch wegdrücken kann, löst er auch schon den Kuss. „Also reden wir einen Moment so, als ob du etwas zu sagen hättest.... ich bin eine Minute still und höre dir zu, ohne wütend zu werden. Du kannst mich auch beschimpfen. Aber überleg' dir gut, was du mir in der Minute sagst, sie ist schnell vorbei."
Lestat lehnt sich etwas zurück und verschränkt die Arme. „Die Zeit tickt."
Ich starre ihn einen Moment mit offenem Mund an. Bis mir bewusst wird, dass ich bestimmt schon zehn Sekunden sinnlos verstreichen lassen habe.
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